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Psychologische Wissenschaft und gesunder Menschenverstand

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Ein Grund dafür, dass wir uns von der Alltagspsychologie so leicht einwickeln lassen, liegt darin, dass sie mit unserem gesunden Menschenverstand übereinstimmt: also mit unseren Vorahnungen, Intuitionen und ersten Eindrücken. Vielleicht haben Sie sogar schon einmal die Behauptung gehört, dass einem Großteil der Psychologie nur „Menschenverstand“ zugrunde liegen würde. Viele vermeintliche Fachleute drängen darauf, sich auf sein Urteilsvermögen zu verlassen, wenn es darum geht, Behauptungen zu überprüfen. Der bekannte Radio-Talkshow-Moderator Dennis Prager informiert seine Zuhörer immer wieder begeistert darüber, „dass es auf der Welt zwei Arten von Studien gibt: die, die unseren gesunden Menschenverstand bestätigen, und solche, die falsch sind“. Pragers Ansichten über den gesunden Menschenverstand teilt wahrscheinlich ein Großteil der Allgemeinheit:

Benutzen Sie Ihren Menschenverstand. Wann immer Sie die Worte „Studien zeigen“ hören – außerhalb der Naturwissenschaften – und Sie der Meinung sind, dass diese Studien das Gegenteil dessen zeigen, was Ihre Urteilsfähigkeit Ihnen sagt, seien Sie skeptisch. Ich erinnere mich nicht daran, jemals von einer ernsthaften Studie erfahren zu haben, die dem gesunden Menschenverstand widersprach (Prager, 2002, S. 1).

Seit Jahrhunderten drängen uns viele bekannte Philosophen, Wissenschaftler und Fachbuchautoren dazu, unserem eigenen Urteilsvermögen zu vertrauen. Der schottische Philosoph Thomas Reid (1710–1796) argumentierte, wir alle seien mit gesundem Menschenverstand geboren worden. Diese natürlichen Intuitionen seien die besten Werkzeuge, um fundamentale Wahrheiten über die Welt herauszufinden. Unlängst rief der bekannte Wissenschaftsautor John Horgan (2005) in einem der Leitartikel der New York Times dazu auf, auf den allgemeinen Menschenverstand auch in der Bewertung wissenschaftlicher Theorien, die Psychologie einbezogen, zu hören. Nach Horgans Ansicht widersprechen viele Studien, auch in der Physik und anderen Bereichen moderner Wissenschaften, zu oft dem gesunden Menschenverstand – ein Trend, den er höchst besorgniserregend findet. Zusätzlich hat es in den letzten Jahren eine Flut populärer, ja sogar als Bestseller verkaufter Bücher gegeben, die die Macht der Intuition und schneller Urteile verfechten. Die meisten dieser Bücher erkennen die Grenzen des gesunden Menschenverstands hinsichtlich der Bewertung wissenschaftlicher Thesen an, sind aber davon überzeugt, dass Psychologen traditionell die Präzision unserer Ahnungen unterschätzen.

Wie allerdings der französische Philosoph Voltaire bereits betonte, ist gesunder Menschenverstand nicht allzu weit verbreitet. Im Gegensatz zur Aussage von Dennis Prager sind psychologische Studien, die unserem allgemeinen Menschenverstand widersprechen, manchmal korrekt. Eines der Hauptziele dieses Buches ist, Sie darin zu bestärken, Ihrem Menschenverstand zu misstrauen, wenn es darum geht, psychologische Behauptungen zu beurteilen. Als allgemeine Regel sollten Sie auf eines achten: Sie sollten statt ihres Bauchgefühls lieber Forschungsergebnisse zu Rate ziehen, wenn Sie entscheiden möchten, ob eine wissenschaftliche These wahr ist. Die Forschung legt nahe, dass vorschnelle Urteile dabei helfen, Menschen einzuschätzen und unsere Vorlieben und Abneigungen vorauszuberechnen. Sie sind aber oftmals auch schrecklich ungenau, wenn es darum geht, den Wahrheitsgehalt von psychologischen Theorien oder Annahmen einzuschätzen. Bald werden wir sehen, weshalb dies der Fall ist.

Wie verschiedene Fachbuchautoren, einschließlich Lewis Wolpert (1992) und Alan Cromer (1993), beobachtet haben, ist Wissenschaft das Gegenteil von gesundem Menschenverstand. Mit anderen Worten nötigt uns die Wissenschaft dazu, unseren gesunden Menschenverstand beiseite zu legen, wenn wir wissenschaftliche Aussagen bewerten. Um Wissenschaft zu verstehen, und das schließt die Psychologie mit ein, müssen wir den Ratschlag des berühmten amerikanischen Schriftstellers Mark Twain befolgen und alte Gewohnheiten genauso gut verlernen, wie wir uns neue Gewohnheiten aneignen. Ganz besonders müssen wir eine bestimmte Neigung verlernen, die uns allen angeboren ist: die Neigung zu glauben, unser Bauchgefühl sei stets richtig.

Natürlich ist nicht alles, was unter dem Begriff Alltagspsychologie läuft, falsch. Die meisten Leute glauben, dass glückliche Angestellte mehr Arbeit zu erledigen in der Lage sind als unglückliche Arbeitnehmer. Psychologische Untersuchungen zeigen, dass diese Annahme korrekt ist. Dennoch haben Wissenschaftler – darunter auch Psychologen – immer wieder festgestellt, dass wir unserem gesunden Menschenverstand nicht immer vertrauen können. Zum Teil liegt dies daran, dass unsere nicht sonderlich präzise Wahrnehmung uns zuweilen beschwindelt.

Zum Beispiel glaubten die Menschen jahrhundertelang nicht nur, die Erde sei flach wie eine Scheibe – schließlich erscheint sie ja auch flach, wenn wir uns über sie bewegen –, sie waren auch davon überzeugt, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Vor allem diese zweite „Tatsache“ schien für nahezu jeden offensichtlich zu sein. Schließlich zeichnet die Sonne jeden Tag einen großen Bogen am Himmel, während wir stillzustehen scheinen. Doch in diesem Fall täuscht die Beobachtung. Wie der Wissenschaftshistoriker Daniel Boorstin (1983) anmerkte:

Nichts könnte offensichtlicher sein, als dass die Erde stabil und unbeweglich ist und dass wir der Mittelpunkt des Universums sind. Moderne westliche Wissenschaft beginnt mit der Leugnung dieses vernünftigen Grundsatzes … Der gesunde Menschenverstand, das Fundament des Alltags, kann nicht mehr länger der Weltherrschaft dienen (S. 294).

Nun möchten wir ein weiteres Beispiel vorstellen. Michael McCloskey (1983) hatte in einer Studie Studenten aufgefordert, den Weg einer Kugel vorherzusagen, die gerade eine Spirale verlassen hatte. Ungefähr die Hälfte der Studenten glaubte, dass die Kugel sich weiterhin spiralförmig fortbewegen würde, wenn sie die Spirale verlassen hätte (in Wahrheit jedoch wird sich die Kugel in einer geraden Linie weiterbewegen, wenn sie die Spirale verlassen hat). Diese Studenten beriefen sich für gewöhnlich auf allgemeingültige Vorstellungen wie die „Eigendynamik“, wenn sie ihre Annahmen rechtfertigten (beispielsweise: „Die Kugel ist auf eine bestimmte Weise losgerollt, also wird sie auch so weiterrollen“). Auf diese Weise behandelten sie die Kugel nahezu wie eine Person, zum Beispiel einen Eiskunstläufer, der beginnt, sich auf dem Eis zu drehen und sich entsprechend weiterdreht. Hier hatte ihre Intuition sie hereingelegt.

Ein weiteres wunderbares Beispiel ist eine Darstellung bekannt unter dem Titel „Shepards Tische“. Zu sehen sind zwei Tischoberflächen, die vermeintlich nicht dieselbe Größe haben. Diese Antwort erscheint zunächst offensichtlich. Aber ob Sie es glauben oder nicht, die Tischoberflächen sind exakt gleich groß. Genauso wie wir unseren Augen nicht immer trauen sollten, so sollten wir auch unseren Eingebungen nicht immer glauben. Die Quintessenz lautet: Sehen ist glauben, aber sehen heißt nicht immer, dass wir das Richtige annehmen.

„Shepards Tische“ ist eine optische Täuschung – ein Bild, das unser visuelles Bewusstsein hereinlegt. Im übrigen Teil des Buches wird uns eine große Bandbreite kognitiver Täuschungen begegnen – Phänomene also, die unserem Denken einen Streich spielen. Wir können uns viele oder sogar die meisten psychologischen Irrtümer als kognitive Illusionen vorstellen, weil sie uns ähnlich wie optische Täuschungen gedanklich hintergehen.

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