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(3) Selektive Wahrnehmung und Gedächtnis

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Wie wir bereits festgestellt haben, nehmen wir die Realität selten bis nie genauso wahr wie sie in Wirklichkeit ist. Wir sehen sie durch unsere individuell verzerrte Wahrnehmung. Unsere Sicht definiert sich über unsere Vorurteile und Erwartungen, was dazu führen kann, dass wir die Welt im Kontext unserer eigenen, bereits existierenden Überzeugungen interpretieren. Allerdings sind sich die meisten Menschen nicht darüber im Klaren, wie sehr diese Überzeugungen ihre Wahrnehmung beeinflussen. Der Psychologe Lee Ross und seine Kollegen haben die fälschliche Annahme, dass wir die Welt so sehen wie sie ist, als Naiven Realismus bezeichnet. Der Naive Realismus macht uns nicht nur anfällig für psychologische Irrtümer, sondern reduziert auch unsere Fähigkeit zur Erkennung falscher Annahmen.

Ein treffendes Beispiel für die Veranschaulichung unserer selektiven Wahrnehmung und unseres selektiven Gedächtnisses ist unsere Tendenz, uns eher auf „Erfolgserlebnisse“ – ein unvergessliches Zusammentreffen zweier Ereignisse – zu konzentrieren als auf unsere „Misserfolge“ – die Abwesenheit eines unvergesslichen Zusammentreffens zweier Ereignisse. Um diese Konstellation verständlich zu machen, hilft es, sich das sogenannte „Große Vier-Säulen-Modell des Lebens“ vor Augen zu halten. Viele Szenarien des Alltags können in einem Vier-Säulen-Modell dargestellt werden. Als Beispiel möchten wir die Frage wählen, ob es richtig ist, dass der Vollmond mit vermehrten Einweisungen in psychiatrische Kliniken assoziiert werden kann, so wie es Notärzte und Pflegepersonal allgemein behaupten. Um diese Frage zu beantworten, müssen die vier Zellen des Großen Vier-Säulen-Modells des Lebens untersucht werden: Zelle A beinhaltet die Fälle, in denen zugleich Vollmond war und es eine entsprechende Einweisung in eine psychiatrische Klinik gegeben hat. Zelle B beinhaltet jene Fälle, in denen Vollmond war und es keine entsprechende Einweisung in eine psychiatrische Klinik gegeben hat. Zelle C beinhaltet die Fälle, in denen kein Vollmond war, es aber eine entsprechende Einweisung in eine psychiatrische Klinik gegeben hat, und Zelle D beinhaltet die Fälle, in denen weder Vollmond war noch eine entsprechende Einweisung in eine psychiatrische Klinik stattgefunden hat. Indem alle vier Zellen des Modells verwendet werden, kann die Korrelation zwischen dem Umstand Vollmond und der Anzahl der Einweisungen in psychiatrische Kliniken berechnet werden. Eine Korrelation ist eine statistische Messmethode, mit der errechnet werden kann, wie sehr zwei Variablen miteinander in Verbindung gebracht werden können (eine Variable ist eine schicke Bezeichnung für alles, was variieren kann, wie zum Beispiel Körpergröße, Haarfarbe, IQ oder Extraversion).

Das Problem ist Folgendes: Im wirklichen Leben gelingt es den meisten Menschen nur außerordentlich schlecht, Korrelationen innerhalb des Großen Vier-Säulen-Modells des Lebens einzuschätzen, weil wir gewöhnlich bestimmten Zellen zu viel Aufmerksamkeit schenken und andere nicht ausreichend beachten. Insbesondere Zelle A ist zu sehr im Fokus des Betrachters, wie Untersuchungen nachweisen. Zelle B hingegen wird deutlich zu wenig Beachtung geschenkt. Das ist nachvollziehbar, da Zelle A in der Regel wesentlich interessanter und einprägsamer ist als Zelle B. Letzten Endes bestätigt es unsere anfängliche Erwartung, wenn bei Vollmond viele Menschen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, so dass wir diesen Umstand eher bemerken und anderen davon erzählen. Die Zelle A ist ein „Erfolgserlebnis“ – ein hervorstechendes Zusammentreffen zweier Variablen. Wenn Vollmond ist und niemand in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, so wird dies kaum registriert oder erinnert. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass jemand seinen Freunden aufgeregt erzählen wird: „Wow, letzte Nacht war Vollmond und rate mal, was passiert ist! Nichts!“ Die Zelle B ist ein „Misserfolg“ – also die Abwesenheit eines Zusammentreffens zweier Variablen.

Die menschliche Neigung, Erfolgserlebnisse abzuspeichern und Misserfolge zu vergessen, führt häufig zu einem bemerkenswerten Phänomen, das als illusorische Korrelation bezeichnet wird. Darunter versteht man die fälschliche Annahme, dass zwei statistisch unabhängige Ereignisse miteinander in Zusammenhang stehen. Der vermeintliche Zusammenhang zwischen dem Ereignis „Vollmond“ und dem Ereignis „Einweisungen in psychiatrische Kliniken“ ist ein bemerkenswertes Beispiel für eine solche illusorische Korrelation. Obwohl viele Menschen davon überzeugt sind, dass eine solche Korrelation existiert, beweist die Forschung, dass dies nicht der Fall ist. Der Glaube an den Vollmond-Effekt ist eine kognitive Illusion.

Illusorische Korrelationen können uns dazu verführen, eine Vielzahl von Assoziationen zu sehen, die gar nicht da sind. Beispielsweise bestehen viele an Arthrose erkrankte Menschen darauf, dass ihre Gelenkschmerzen bei regnerischem Wetter schlimmer sind als bei gutem Wetter. Aber Studien zeigen, dass dies eine Erfindung ihrer Einbildungskraft ist. Wahrscheinlich schenken Menschen mit Arthrose der Zelle A des Großen Vier-Säulen-Modells des Lebens zu viel Aufmerksamkeit – also dem Fall, dass es regnet und gleichzeitig ihre Gelenke schmerzen –, was sie zu der Annahme führt, dass es hier eine Korrelation geben muss, die in Wirklichkeit aber nicht existiert. Ähnlich liegt auch der Fall der bereits erwähnten Phrenologen, die einen Zusammenhang zwischen Schädelformen und Defiziten bei gewissen psychischen Fähigkeiten sahen und damit vollkommen unrecht hatten.

Ein anderes Beispiel illusorischer Korrelation ist die Annahme, dass Fälle von frühkindlichem Autismus, einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung gekennzeichnet durch schwere Sprach- und Sozialdefizite, mit einer quecksilberbasierten Impfung in Verbindung stehen. Zahlreiche sorgfältig durchgeführte Studien haben keinen Zusammenhang zwischen frühkindlichem Autismus und der Verabreichung einer quecksilberbasierten Impfung finden können, auch wenn zehntausende Eltern autistischer Kinder von diesem Zusammenhang überzeugt sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach schenken diese Eltern der Zelle A des Vier-Säulen-Modells zu viel Aufmerksamkeit. Man kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen, wenn man sich vor Augen hält, dass die Betroffenen eine Ursache, wie beispielsweise eine Impfung, finden möchten, welche die autistische Erkrankung ihrer Kinder erklären könnte. Hinzu kommt, dass die Eltern sich möglicherweise durch die Tatsache in die Irre führen lassen, dass das erste Auftreten autistischer Symptome – meistens kurz nach dem zweiten Lebensjahr – häufig mit dem Alter übereinstimmt, in dem die Kinder die erwähnte Impfung erhalten.

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