Читать книгу Chassidismus - Susanne Talabardon - Страница 8

1.4. Die Suche nach dem religionshistorischen Kontext des Chassidismus

Оглавление

Die Zurückweisung monokausaler Erklärungsmuster für die Entstehung und den Erfolg des osteuropäischen Chassidismus lenkte die Aufmerksamkeit auf die spirituellen und theologischen Eigenheiten dieser komplexen jüdischen Strömung. Diese waren offensichtlich stärker in Betracht zu ziehen, als es in der frühen Phase ihrer Erforschung nötig schien.

Wie schon aus den Erklärungsansätzen des Jacob Katz ersichtlich, verschiebt sich die Perspektive erheblich, sobald man die Entstehung des Chassidismus unter religionsgeschichtlichen oder theologischen Prämissen beobachtet.

Martin Buber und Gershom ScholemDie ersten maßgeblichen wissenschaftlichen Versuche, den osteuropäischen Chassidismus primär unter dem Blickwinkel seines spirituellen Profils zu beschreiben, mündeten in eine heftige Auseinandersetzung zwischen Martin Buber (1878–1965) und Gershom Scholem (1897–1982) um die bestimmenden Charakteristika jener Bewegung. Buber meinte, vor allem in seinen theoretischen Schriften zum Thema, einen deutlichen Bruch zwischen der von ihm als „gnostisch“ apostrophierten Kabbala und dem Chassidismus wahrnehmen zu können. Scholem hingegen definierte die osteuropäische Bewegung als ebendies: als letzte Phase der des Öfteren gnostische Züge aufweisenden jüdischen Mystik. An jenen beiden einflussreichen Denkern lässt sich nachgerade idealtypisch |10|beobachten, wie methodische Zugangsweisen und inhaltliche Prämissen das Ergebnis einer Untersuchung präjudizieren.

Buber näherte sich dem Chassidismus als „rezipierender Erbe“ (Grözinger, Chassidismus, S. 281), indem er sich gewissermaßen selbst in diese Geschichte hineinschrieb – Scholem sollte dies als „Neochassidismus“ kritisieren. Scholem hingegen untersuchte jene osteuropäische Strömung mit den kritischen Methoden eines Religionshistorikers und unterstellte der Position seines Kontrahenten Buber einen (wissenschaftlichen) Anspruch, den jener gar nicht erhoben hatte.

Die Kontroverse, welche Bubers letzte Lebensjahre überschattete, ist forschungsgeschichtlich längst zugunsten Gershom Scholems entschieden. Insofern Martin Buber jedoch, vor allem für ein deutschsprachiges und mehrheitlich nichtjüdisches Publikum, noch immer als eine Art autoritativer Interpret des Chassidismus gilt, erscheinen einige Bemerkungen zu jenem Konflikt angezeigt.

Martin BuberMartin Buber verbrachte seine frühen Jahre bei seinem Großvater Salomon Buber (1827–1906), dem berühmten Erforscher des rabbinischen Midrasch und Sammler von chassidischen Traditionen. Als Kind besuchte er mehrfach die kleine Stadt Sadagóra. Die prunkvolle Residenz der dortigen Zaddikim und das fürstliche Gepräge ihrer Bewohner befremdete ihn (vgl. Mein Weg, S. 183). Seine spätere Faszination für den Chassidismus dürfte Buber wesentlich westeuropäischen Impulsen verdanken, die er als Student in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin empfing: Sie könnte mit der im deutschen säkularen Judentum entstandenen Sehnsucht nach ‚authentischem Judentum‘ zu tun haben, wie sie zur Jahrhundertwende deutlich wahrnehmbar war. Seine ‚Entdeckung‘ des Chassidismus stützt sich denn auch nicht auf Begegnungen mit ‚real existierenden‘ Anhängern der Strömung, sondern auf romantisierende Darstellungen wie die von Jitzchok Leib Perez (Ch’sidish, 1908; Folkstimlikhe geshikhten, 1909) oder Micha Josef Berdiczewsky (Die Seele der Chassidim, 1899), die im Chassidismus eine Rebellion gegen das traditionelle Establishment sahen.

So erstaunt es nicht, dass Buber insbesondere die Erzählungen über die Zaddikim für die maßgebliche Quelle hielt, die das Wesen jener inspirierenden Strömung zum Ausdruck brachte. Zahlreiche seiner Werke zum Chassidismus sind daher ebendies: Nacherzählungen und Adaptionen von Legenden, wie er sie auswählte und durch das „Sieb“ seines Herzens rinnen ließ (Buber, Antwort, S. 632).

Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen den Ringen. Ich sage noch einmal die alte Geschichte, und |11|wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum erstenmal gesagt wurde. (Buber, Legende des Baalschem, S. II)

Für Buber enthielten jene Erzählungen die Essenz des Chassidismus. Die umfangreichen und schwergewichtigen theoretischen Abhandlungen der Zaddikim waren seiner Ansicht nach zu sehr der Tradition verhaftet und spiegelten das wirklich Neue jener Strömung nicht:

Weil dem so ist, weil der Chassidismus in erster Reihe nicht eine Kategorie der Lehre, sondern eine des Lebens bedeutet, ist unsere Hauptquelle zu seiner Erkenntnis seine Legende, und erst nach ihr kommt seine theoretische Literatur. Diese ist der Kommentar, jene der Text, wiewohl ein in äußerster Korruptheit überlieferter, in seiner Reinheit unwiederherstellbarer. Es ist töricht einzuwenden, die Legende übermittle uns nicht die Wirklichkeit des chassidischen Lebens. Natürlich ist die Legende keine Chronik, aber sie ist wahrer als die Chronik für den, der sie zu lesen versteht. (Buber, Die chassidische Botschaft, S. 35)

Gershom ScholemScholem, dem der religionsphilosophische und autobiographische Zugriff Bubers natürlich nicht entgangen war, sah sich trotzdem genötigt, den älteren Kollegen zu attackieren – eben weil dessen begeistertes Publikum annahm, er präsentiere ihm den authentischen Chassidismus. Der Religionshistoriker Scholem widersprach dem „Zaddik von Heppenheim“ (Scholem über Buber) methodisch und inhaltlich. Die Legende sei keinesfalls der theoretischen Literatur vorzuziehen, schon allein deswegen nicht, weil der von Buber so genannte „Kommentar“ den Erzählungen zeitlich deutlich voraufgeht (Scholem, Martin Bubers Deutung des Chassidismus, S. 177).

Wenn man indessen jene theologischen Abhandlungen, die Homilien und Kommentare der Zaddikim, einer Darstellung des Chassidismus zugrunde lege, gelange man notwendig zu einem völlig anderen Eindruck vom Wesen jener Bewegung:

Offensichtlich betrachtete Buber diese Quellen als viel zu abhängig von der älteren kabbalistischen Literatur, um als echt chassidisch angesehen werden zu können. Und diese Abhängigkeit springt in der Tat in die Augen. Viele von ihnen, darunter einige der berühmtesten chassidischen Bücher, sind vollständig in der Sprache der Kabbala geschrieben, und es ist ein tiefliegendes Problem der Forschung, genau zu bestimmen, worin eigentlich ihre Ideen von denen ihrer Vorgänger abweichen. (Scholem, Deutung, S. 178–179)

Folgerichtig sollte Scholem den osteuropäischen Chassidismus als „letztes Stadium“ der jüdischen Mystik beschreiben (Mystik, S. 356). Dem sich für Buber aus der Legende ergebenden zentralen Neuansatz, wonach der Hiatus zwischen der materialen Existenz im Diesseits und einer Sehnsucht nach einem transzendenten Jenseits |12|in eine umfassende Heiligung des Lebens hinein aufgehoben wird, konnte Scholem nur radikal widersprechen. Es sei eben gerade nicht die physische Wirklichkeit, auf die sich das Interesse der chassidischen Autoren richtete, sondern – wie ehedem – die Transzendenz, in die hinein sich die materiale Wirklichkeit letztlich auflöst.

In manchen Punkten waren die beiden jedoch einer Meinung: Sie deuteten die chassidische Reform vor dem Hintergrund des gescheiterten Sabbatianismus als einen Versuch, jedweden akuten Messianismus zu unterdrücken (Buber) bzw. messianische Konzepte zu „neutralisieren“ (Scholem). Des Weiteren stimmten sie darin überein, dass ein wesentliches revolutionierendes Element des Chassidismus in seiner Gemeinschaftsbildung zu sehen ist. In den Worten Scholems:

Was dem Chassidismus seine besondere Formung gegeben hat, war vor allem die Begründung einer religiösen Gemeinschaft […] In dem Moment, in dem der Mystiker aus seiner einsamen Erfahrung die Anregung und Berufung schöpfte, dieser Erfahrung im Leben seiner Gemeinde Dauer zu schaffen und zu dieser Gemeinde nun nicht in seinen Begriffen, sondern in den ihren zu sprechen unternahm, war der neue Ausgangspunkt gegeben, um den sich mystische Bewegung als soziales Phänomen kristallisieren konnte. […] Diese ganze Entwicklung findet ihren vornehmsten Ausdruck in der Geschlossenheit der individuellen chassidischen Heiligenfigur, die etwas durchaus Neues ist. Die Lehre ist hier ganz in Persönlichkeit verwandelt, und was dadurch an Rationalität verlorenging, wurde an Wirkungskraft gewonnen. (Scholem, Mystik, S. 375.377; Hervorhebungen im Original)

Jeschajahu Tishby und Joseph WeissDie durch Buber und Scholem aufgeworfene Frage nach dem spirituellen proprium des Chassidismus beschäftigte auch die nächste Generation der Forscher – repräsentiert durch die Scholem-Schüler Jeschajahu Tishby (1908–1992), Joseph Weiss (1918–1969), Rivka Schatz-Uffenheimer (1927–1992) oder Joseph Dan (geb. 1935). Die Versuche – insbesondere Tishbys und Weiss’ – griffen den Ansatz Scholems auf, das Spezifische jener osteuropäischen Strömung in vergleichender Abgrenzung von ihren Vorläufern, wie der lurianischen Kabbala oder der Bewegung um Schabtai Zvi zu formulieren. Für Scholem und Weiss vollzog sich die Herausbildung chassidischer Positionen vor allem in der Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sabbatianismus, wobei insbesondere dessen akut-messianische Prägung „neutralisiert“ (Scholem) worden sei. Jeschajahu Tishby, der den Chassidismus in eine enge Verbindung mit dem Denken des Kabbalisten Mosche Chajim Luzzato (1707–1746) brachte, konnte dieser These nicht viel abgewinnen.

Joseph Weiss und Rivka Schatz-UffenheimerInsbesondere im Werk der beiden Scholem-Schüler Weiß und Schatz-Uffenheimer zeichnete sich ein Trend ab, der die nachfolgenden |13|Forschungsanstrengungen prägen sollte: Beide wandten sich der Analyse einzelner chassidischer Meister, wie Dov Ber von Międzyrzecz (Weiss, Uffenheimer) oder Nachman von Brazlaw (Weiss), zu. Sie wollten durch eine methodische Untersuchung von deren Texten überhaupt erst die Voraussetzung für eine synthetisierende Darstellung der Gesamtströmung gewinnen. Darüber hinaus leisteten sie insofern Pionierarbeit, als dass sie ihren Blick auch auf spätere Exponenten des Chassidismus, wie Mordechai Josef Leiner von Iżbica (1800–1854), richteten. Nach den großen Überblicksdarstellungen wie derjenigen des Simon Dubnow hatten sich die Gelehrten nämlich Jahrzehnte lang vor allem mit den Gründungsvätern der Strömung befasst und deren weitere Entwicklung aus den Augen verloren.

Gedalja Nigal und Joseph DanAuf das Konto dieser Generation von Wissenschaftler/innen gehen zudem die ersten kritischen Editionen bedeutender chassidischer Werke. Dazu gehören, wiederum, Rivka Schatz-Uffenheimer mit ihrer Ausgabe des Hauptwerks des Dov Ber (מגיד דבריו ליעקב/Maggid Devaraw le-Ja’aqov) oder Gedalja Nigal (geb. 1927), der sowohl den נועם אלימלך /No’am Elimelekh des Elimelech von Leżajsk als auch zahlreiche bedeutende Sammlungen von chassidischen Erzählungen edierte. Die nach dem heftigen Streit zwischen Buber und Scholem gewissermaßen in Turbulenzen geratene Legendenliteratur erfuhr durch Gedalja Nigal (הסיפרת החסידית/Ha-Śipporet ha-chassidit, Jerusalem 1981) und Josef Dan ihre erste wissenschaftliche Würdigung. Insbesondere Dans Werke zur chassidischen ‚Novelle‘ (הנובילה החסידית/Ha-Novela ha-Chassidit, Jerusalem 1966) und zur Erzählung (הסיפור החסידי/Ha-Śippur ha-Chassidi, Jerusalem 1975) legten die Basis künftiger Forschung zum Thema.

Chassidismus

Подняться наверх