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ОглавлениеKapitel 11
Reico:
Der Asphalt der Straßen ist durchzogen von Rissen. An den Rändern liegen leere Flaschen, Dosen und anderer Müll. Das einzige, was hier wächst, ist Unkraut und selbst darüber muss man froh sein, denn ansonsten ist kein Grün auszumachen. Bedauernd wandert mein Blick vom verschmutzen Gehweg zu den Baracken, aber auch die bieten einen trostlosen Anblick. Die Fenster sind zum Teil mit Brettern zugemauert und zum anderen Teil ist das Glas zersplittert. Die Häuserwände sind dreckverkrustet und die ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen. Mich fröstelt leicht und das liegt nicht an der kühlen Frühlingsluft. Wärmend schlage ich meine Arme übereinander.
„Alles in Ordnung?“ Rayek betrachtet mich besorgt. Ich nicke.
„Ja, ich muss nur gerade daran denken, wie dankbar und froh ich bin, dass ich im Zentrum Würzburgs wohne, und nicht in einem der Randgebiete.“
„Stimmt, Würzburg ist angenehmer. Liegt wohl hauptsächlich am Einfluss der Mönche und am geschulten Bewusstsein der Bewohner.“
„Tja, Bewusstseinsschulung … dafür sind wir nun hier“, gebe ich seufzend zurück und versuche, motiviert zu klingen. Immerhin muss es jemand machen und alle Auszubildenden der Anwärter müssen da durch. Abgesehen davon ist es für einen guten Zweck. Ich schiele zur Rayek und verkneife mir ein Lachen. Manchmal ist er einfach zu drollig.
„Du solltest vielleicht etwas freundlicher dreinschauen“, rate ich ihm und er wirft mir einen angesäuerten Blick zu. Er hat noch weniger Lust auf die Aufgabe, als ich.
„Was soll das bringen? Es wird kaum jemand zuhören, falls sich überhaupt jemand bequatschen lässt.“
„Schon, aber wenn wir nur eine Person mit unserer Message erreichen, haben wir einen Erfolg erzielt“, antworte ich. „Klar, es ist nicht viel, aber wenn jeder von uns einem Menschen alle drei Monate die Natur und Umwelt ins Bewusstsein rufen kann, dann macht sich das irgendwann an der Masse bemerkbar.“
Er atmet geräuschvoll aus und schließt für einen Moment die Lider.
„Du bist aber verdammt optimistisch.“
„Das gehört dazu“, gebe ich lächelnd zurück und trete auf die Seite, sodass unser Weckruf auf dem Aufstellschild besser für die vorbeieilenden Leute zu lesen ist. Ich atme tief durch und beginne mit der Arbeit. Aufgeschlossen gehe ich auf ein Rentnerehepaar zu. Natürlich bemerke ich die skeptischen Blicke, doch lasse ich mich davon nicht abbringen. Zielsicher trete ich an ihre Seite und spreche sie an.
„Guten Tag und entschuldigen Sie bitte. Hätten Sie eine Minute Zeit? Ich würde …“
„Nein, junger Mann,“ keift die alte Frau und ihr Mann schiebt mich übellaunig auf die Seite.
„Dürfte ich Ihnen etwas zu Lesen mitgeben?“, hake ich weiter nach und halte dem Paar gleichzeitig ein Aufklärungsprospekt entgegen.
„Nein!“, schnauzt der Alte mich an und ich mache einen kleinen Satz zurück, um nicht abermals weggeschoben zu werden.
„Okay, trotzdem danke und einen schönen Tag!“, rufe ich und laufe zu Rayek zurück, der mich ansieht, als hätte ich den Verstand verloren.
„Hat nicht geklappt …“
„Das habe ich gesehen.“
„Wieso schaust du mich so an?“, frage ich zögerlich und blinzle unsicher.
„Wieso hast du dich bei den Pennern bedankt?“
„Ahhhhh, Rayek! Das waren alte Leute. Die kannst du doch nicht als Penner bezeichnen“, meine ich entsetzt, doch er schüttelt entschieden den Kopf.
„Und wenn schon. Sie waren unfreundlich. Da bedankt man sich nicht.“
„Das gebietet die Höflichkeit. Ich war auch nicht begeistert, doch wir müssen freundlich bleiben.“
Er verdreht die Augen und ich schmunzle. Dann versuche ich bei einer jungen Frau mein Glück, während Rayek einen Anzugträger anvisiert. Allerdings sollen wir beide keinen Erfolg erzielen. Leider verlaufen sämtliche Bemühungen in der nächsten Stunde ähnlich. Die meisten Leute eilen an uns vorbei oder machen einen großen Bogen um uns. Diejenigen, die uns nicht meiden, provozieren und schmeißen mit beleidigenden Worten um sich. Es ist wirklich entmutigend, aber aufgeben ist nicht drin. Während ich wenigstens mit ein paar wenigen ins Gespräch komme und ein paar Flyer verteilen kann, eckt Rayek beständig an. Nach einer weiteren Stunde ist er so weit, dass sein Auge anfängt zu zucken.
„Ich brauch dringend 'ne Pause“, stöhnt er und lässt sich auf den Bürgersteig fallen oder das, was noch davon übrig ist. Ich trete zu ihm, komme jedoch nicht dazu, etwas zu erwidern.
„Kann den Mist nicht jemand anderes übernehmen? Die reinste Sklaverei und Zeitvergeudung.“
„Vielleicht solltest du die Leute nicht beleidigen“, gebe ich ihm zwinkernd als Tipp, woraufhin er mit den Augen rollt.
„Die wollen und verstehen es nicht anders!“, gibt er pampig zurück und ich beginne zu kichern. Das sieht ihm ähnlich.
„Hast du Hunger? Ich hol uns was vom Café um die Ecke.“
„Mmh … ein Cappuccino und irgend ein süßes Teilchen wäre gut“, antworte ich und reiche ihm meinen Coffee-to-go-Becher. Als ich ihm Geld geben möchte, schüttelt er den Kopf.
„Lass stecken. Das geht auf mich. Du kannst das nächste zahlen.“
„Okay, danke.“
Er nickt mir zu, steht auf, räkelt sich und stapft davon. Ich sehe ihm nach, bis er hinter der Straßenecke verschwunden ist. Das Zwischenmenschliche liegt ihm absolut nicht. Dennoch ist er liebenswert. Die meisten können die Seite nur nicht an ihm sehen, weil sie gut versteckt ist und sie nicht genau hinsehen. Das ist traurig.
„Du bist Umweltaktivist?“, erklingt eine melodische Stimme neben mir. Ich schrecke aus meinen Gedanken auf und drehe mich zu dem fremden Mann um. Zwei schmale, hanfgrüne Augen funkeln mir mysteriös entgegen. Fasziniert betrachte ich seine feuerroten Haare, die ihm wallend über die Schultern fallen. Schmunzelnd sieht er auf mich herab. Ich muss an einen Tiger denken und kann meinen Blick nicht von ihm lösen.
„Bist du nicht oder gefällt dir einfach, was du siehst?“, schnurrt er und sein Schmunzeln verwandelt sich in ein anzügliches Lächeln.
„Ich … nein, ich … also, ja“, stottere ich unbeholfen und könnte mir im selben Moment einen Tritt verpassen. Schamesröte steigt mir ins Gesicht. „Ich meine, ich bin Umweltaktivist. Ja.“
„Verstehe“, säuselt er und betrachtet sich das aufgestellte Schild.
Mein Herz schlägt wie wild und ich wische mir die feuchten Hände an meiner Hose ab. Dann besinne ich mich und greife schnell nach den Flyern.
„Mit nur kleinen Dingen, können wir der Umwelt Gutes tun und der Natur helfen, sich zu regenerieren. Wäre es nicht schön, wenn alles wieder in Grün erblühen würde?“
Er schließt für einen Moment die Lider und die Sekunden ziehen sich quälend lang. Dann wendet er sich mir zu und seine grünen Augen fesseln mich an Ort und Stelle.
„Das ist ein wahrlich schöner Gedanke.“
Ich erschauere bei dem Klang seiner Stimme. Er tritt auf mich zu, sodass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennen. Die Welt um mich herum, scheint stillzustehen. Alles verschmilzt zu einer Einheit.
„Da… darf ich Ihnen ein Infoblatt anbieten“, flüstere ich und bin kaum fähig, seinem Blick standzuhalten. Meine Hände zittern, als ich ihm einen der Zettel reiche. Er nimmt ihn entgegen, wobei seine Finger über meinen Daumen streichen.
„Gerne, danke dir vielmals.“
„I… ich hab zu danken …“, murmle ich und senke den Kopf.
Er streckt seine Hand aus und streicht mir über die Wange. Ich fühle mich wie elektrisiert und frage mich gleichzeitig, was mit mir los ist. Was passiert mit mir? Ich bin erregt und ängstlich zugleich. Zudem unfähig, mich aus der Lage zu befreien. Möchte ich überhaupt aus der Situation entkommen?
„Nicht nur wunderschön, sondern auch noch bescheiden … überaus verführerisch, mon cherie.“
Er kommt mir näher. Verdammt nah. Ich weiß, dass es falsch ist, dennoch kann ich es nicht verhindern. Er streicht mir sanft mit den Fingerspitzen über die Lippen. Ein elektrisierendes Kribbeln benetzt meine Haut und lässt mich erschauern. Seine Berührungen wirken wie eine berauschende Droge. Nur noch wenige Zentimeter trennen uns. Mein Verstand setzt für einige Sekunden völlig aus. Ist überlastet. Kurz vorm Absturz. Meine Lider schließen sich automatisch, als er sich zu mir runter beugt. Mit geschlossenen Augen und wild klopfendem Herzen erwarte ich seine Lippen, doch der Kuss bleibt aus.
„Was machst du da?“
Ich schrecke zusammen und fahre herum. Fast hätte ich Rayek aus Versehen den Kaffee und das Schokobrötchen aus der Hand geschlagen, dass er mir entgegenhält. Seit wann ist er hier?
„Du? Was? Also …“, stottere ich wirr zusammen und drehe mich suchend um, doch von dem geheimnisvollen Unbekannten fehlt jede Spur. Habe ich geträumt? War er gar nicht hier?
„Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?“, hakt Rayek nach und er mustert mich nachdenklich.
„Ich … nein.“ Noch immer sehe ich mich suchend um, doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihn nirgends entdecken.
„Ts… ich sag doch, dass die Art von Arbeit nicht nur sinnlos, sondern auch ermüdend ist. Du brauchst dringend 'ne Pause,“ meint Rayek, schiebt mich zu den Überresten einer nahe gelegenen Bank und drückt mir den Cappuccino in die Hand. Ich lasse mich auf das morsche Holz fallen, dass verdächtig auf knarzt und schließe für einen Moment die Lider. Tief einatmend versuche ich, meinen Herzschlag zu kontrollieren und mich zu beruhigen. Noch immer spüre ich die liebkosende Berührung seiner Hände. Ich schüttle leicht den Kopf. Das ist lächerlich. Ich bin echt ein Idiot.
„Hey, sag doch was.“
Ich schlage die Augen auf und ein Lächeln umspielt meine Lippen. So besorgt habe ich ihn nie zuvor gesehen. Das rührt mich. Für eine flüchtige Minute überlege ich, ihm von dem geheimnisvollen Unbekannten zu erzählen, doch irgendetwas in mir weigert sich, darüber zu reden. Wahrscheinlich würde er mich eh für verrückt halten. Das möchte ich nicht. Nicht bei Rayek.
„Alles in Ordnung. Entschuldige bitte. Mir … war nur etwas schwindelig. Danke für den Cappuccino und das Schokobrötchen. Danach geht’s mir bestimmt besser.“
Er nickt, doch mustert mich eindringlich, als könnte er meine Lüge durchschauen. Manchmal ist er mir etwas unheimlich. Dennoch fragt er nicht weiter nach und lässt es darauf beruhen. Schweigend nehmen wir unseren Snack zu uns und betrachten eine Weile die vorübereilenden Leute. Ich muss schlucken. Alle haben den gleichen Gesichtsausdruck der Unzufriedenheit, die alles Schöne aus ihnen herausgesogen zu haben scheint. Fast jeder trägt dasselbe – dieselben Farben, der gleiche Schnitt … sogar die Frisuren sind einheitlich. Eine genormte, gleichbewegende Masse ohne Ankunft, ohne Ziel.
Mich fröstelt und ich schlinge schnell den Rest meiner Süßspeise herunter. Dann nicke ich Rayek zu und wir begeben uns wieder an die Arbeit. Doch so sehr ich mich bemühe und so viel ich auch mit anderen Personen spreche: der fesselnde Blick des Unbekannten lässt mich nicht mehr los. Mehr noch. Er haftet auf mir wie eine schwere, nasse Decke und bohrt sich tief in mein Innerstes. Es ist fast, als würde er mich aus einer dunklen Ecke weiterhin beobachten. Lauernd. Hungrig und sich verzehrend.
Eine Gänsehaut befällt mich wie eine hartnäckige Krankheit. Und sogar als ich abends im Bett liege, kann ich die Begegnung weiterhin spüren. Erholsamen Schlaf soll ich in dieser Nacht keinen bekommen. Vielmehr kämpfe ich mich durch einen Strudel verwirrender Träume und finde nicht hinaus.