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Kapitel 1

Reico:

Gleich ist es soweit. Mein Herz vollführt aufgeregte Sprünge und meine Hände zittern leicht. Es ist nur ein Date. Wieso bin ich so nervös? Das ist albern, ich weiß, aber dennoch …

Ruhelos werfe ich nochmal einen Blick in den Badspiegel. Haare und Make-up sitzen perfekt. Es gibt nichts mehr, was ich nachbessern könnte, ohne es zu vermasseln. In ein paar Minuten treffe ich mich mit Bernd. Ich schließe kurz meine Augen und versetze mich für einige Sekunden zurück. Die brechend volle Disco. Leckere Drinks. Harte Beats und viele Männer in ihren figurbetonten Faschingskostümen. Und der Moment, indem sich unsere Blicke trafen und er in seine1 Seemannsoutfit auf mich zukam. Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für Männer in Uniform, und diese stand ihm sehr gut. Das Gespräch selbst lief etwas holprig. Zumal der Anfang mit „Kennen wir uns?“ nicht gerade originell ist. Aber besser ein unspektakulärer und plumper Spruch, als gar keiner, oder? Zumindest nehme ich ihm das nicht übel. Leider hatten wir nicht wesentlich mehr geredet. Er war bereits am Gehen und die Musik war ohrenbetäubend laut. Unter den Umständen war es unmöglich gewesen, ein richtiges Gespräch führen zu können. Wir tauschten schnell die Nummern aus und vereinbarten gestern das heutige Date. Mein Letztes ist mittlerweile Wochen her und war die reinste Katastrophe. Die Typen davor sollte man lieber aus dem Kalender streichen – vielleicht liegt es daran, dass ich dermaßen aufgeregt bin. Hoffentlich ist Bernd nicht einer von denen, die nur etwas fürs Bett suchen. Leider ist diese Einstellung keine Seltenheit. Einen schwulen Mann zu finden, der eine feste und monogame Beziehung haben möchte, ist mehr als nur schwierig. Die sogenannte Nadel im Heuhaufen ist wohl einfacher ausfindig zu machen.

Ich seufze und checke nochmal mein Handy, doch er hat sich bisher nicht mehr gemeldet. Beschwingt springe ich die Treppe nach unten, schnappe mir meine Jacke und Umhängetasche, bevor ich die Haustür ansteuere. Ich komme allerdings nicht dazu, die Klinke herunter zu drücken, denn die helle Stimme meiner Mutter lässt mich innehalten.

„Reico, gehst du schon?“

„Ja, dann habe ich noch etwas Zeit und muss nicht hetzen. Außerdem bin ich lieber derjenige, der zuerst am Treffpunkt ist.“

„Zuerst? Ist es nicht besser, der letzte zu sein? Dann kann man immer noch verschwinden, wenn einem nicht gefällt, was man sieht.“

Die zierliche Statur meiner Mutter erscheint im Türrahmen. Sie lächelt mir vielsagend zu. Ich muss schmunzeln. Der Einfluss meines europäischen Vaters hat definitiv Spuren bei ihr hinterlassen. Wäre mein Dad für sie nach Japan gezogen und nicht umgekehrt … ich bin mir nicht sicher, ob sie derart locker und offen wäre, da meine Großeltern mütterlicherseits streng traditionell verankert sind.

„Das macht man nicht, das verbietet die Höflichkeit“, entgegne ich und zwinkere ihr verschwörerisch zu. Sie zieht gespielt eine Augenbraue in die Höhe und stemmt die Hände in ihre schmalen Hüften.

„So? Und wer hat dir das denn beigebracht?“

Ich runzle kurz die Stirn und stelle mich nachdenklich. Dann zucke ich mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ich glaube, das war tatsächlich meine Mutter, auch wenn das völlig verrückt erscheint.“

„Ich gebe dir gleich verrückt!“

Flink fange ich das feuchte Handtuch ab, das sie nach mir wirft. Beherzt lacht sie auf und nimmt mich in ihre Arme.

„Ich wünsche dir ganz viel Spaß, mein Schatz.“

„Drück mir lieber die Daumen, dass er eine feste Beziehung möchte“, entgegne ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sie streicht mir aufmunternd über meine Oberarme und zwinkert mir zu.

„Ich drücke dir die Daumen, dass er es wert ist.“

„Du bist die Beste.“

Ich ziehe sie ein letztes Mal fest an mich und greife nach dem Türgriff. Trotzdem halte ich nochmals inne, denn ihr verträumter Blick ist mir nicht entgangen.

„Mum, was ist los?“

Sie seufzt leise auf und schenkt mir ein herzliches Lächeln. Für einen Moment glaube ich, so etwas wie Stolz in ihren Augen lesen zu können. Verwirrt sehe ich sie an und warte auf Antwort.

„Hach, du bist wirklich groß geworden. Gestern warst du noch auf meinem Schoß gesessen …“

„Mum!“

„Schon gut, schon gut.“ Sie schüttelt den Kopf und streicht sich daraufhin eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich wollte nur damit sagen, dass du für immer mein süßer, kleiner Junge bleiben wirst.“

„Klein? Ich bin einen Kopf größer als du!“, gebe ich mit einem schelmischen Schmunzeln zurück und ernte dafür einen Stoß gegen die Schulter.

„Du weißt genau, wie ich das meine. Wolltest du nicht gehen? Du kommst noch zu spät“, kommentiert sie und ich kann mir ein Lachen nicht mehr verkneifen.

„Ich hab dich auch lieb“, rufe ich ihr zu, während ich das Haus verlasse und die Tür hinter mir schließe. Wärme durchflutet mich. Ich habe die besten Eltern der Welt.

***

Unsicher schlendere ich die Straße nun bereits zum fünften Mal ab. Natürlich bin ich zu früh dran gewesen, was man von ihm nicht gerade sagen kann. Es ist fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit und so langsam bekomme ich Angst, dass er mich sitzen lässt. War ich ihm zu aufdringlich oder hat er was Besseres gefunden? Habe ich was falsch gemacht? Soll ich ihm schreiben. Ich schüttle schnell den Kopf. Ich brauche unbedingt einen anderen Gedanken. Ob mir meine Mutter umsonst Glück gewünscht hat? Ich atme tief durch und starre gedankenverloren auf den Main.

Meine Eltern sind wirklich klasse. Beide wissen, dass ich schwul bin. Mein Coming out hatte ich vor ungefähr zwei Jahren. Für mich war völlig klar, dass ich nicht verheimlichen wollte, wer ich bin. Klar hatte ich Angst davor, es ihnen zu sagen. Die Einstellung zur Homosexualität hat sich seit Jahrhunderten bis heute nicht verändert. Umso erleichterter bin ich, dass meine Eltern derart locker damit umgehen. Natürlich waren sie nicht begeistert. Mein Vater ist es auch heute nicht, doch er akzeptiert es und hat beim Outing keine Szene gemacht oder gedroht, mich vor die Tür zu setzen, wie man es immer wieder bei anderen hört. Dafür bin ich ihm dankbar. Meine Mutter ist offener und wünscht sich nur, dass ich glücklich bin, wenngleich sie auf Enkelkinder meinerseits verzichten muss. Aber dafür gibt es ja meinen kleinen Bruder. Vielleicht trägt dies auch einen Teil zu ihrer Toleranz bei. Sei es drum. Ich bin jedenfalls glücklich, eine so tolle Familie zu haben, denn ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist.

„Hei, Reico, richtig? Wartest du schon lange?“

Ich schrecke aus meinen Gedanken aus und Erleichterung lässt mich lächeln. Bernd ist gekommen. Freudig drehe ich mich um und zögere einen kurzen Moment. Irgendwie sah er in dem Matrosenkostüm um einiges besser aus. Schnell verdränge ich meine Bedenken und laufe ihm entgegen.

„Hi, Bernd, kein Problem. Schön, dass du da bist.“

Unschlüssig bleibe ich vor ihm stehen. Soll ich ihn kurz umarmen oder einfach nur die Hand reichen? Seine Körperhaltung lässt mich nicht erraten, wie ich handeln soll. Dummerweise steht er genauso unbeholfen da wie ich.

„Ähm, ja, also …“, stottert er, kratzt sich am Hinterkopf und hebt mir letztendlich die Hand entgegen. Ich versuche, meine Unzufriedenheit nicht zu zeigen, und ergreife sie mit einem Lächeln. Auf keinen Fall möchte ich oberflächlich sein. Auch wenn er ohne Kostüm nicht ganz so viel hermacht und ich ihn nicht im normalen Alltag bemerkt hätte, sagt dies nichts über seinen Charakter aus. Abgesehen davon sind Äußerlichkeiten Geschmacksache, oder etwa nicht?

„Was möchtest du machen? Sollen wir ein bisschen in die Innenstadt oder in ein Café?“

Er verzieht leicht die Miene und schüttelt entschieden den Kopf.

„Lass uns am Main entlang schlendern. Da haben wir wenigstens Ruhe. In der Disco habe ich dich kaum verstanden.“

Ich nicke, obwohl ich gerne einen Cappuccino getrunken hätte. Zum Reden ist ein Spaziergang wirklich besser.

„Ja, ich hab auch fast nichts gehört.“

„Gut, dann los.“

Wir schlendern eine Weile schweigend nebeneinander her und die Stille bereitet mir Unbehagen. Wollte er nicht laufen, damit wir reden können? Wieso fängt er dann nicht endlich damit an? Scheinbar muss ich die Initiative ergreifen.

„Wie alt bist du, Bernd?“

„Fünfundzwanzig. Und du?“

„Oh … ich bin achtzehn“, antworte ich und beobachte seine Mimik, die recht gefasst scheint.

„Mh, ja, ich habe schon befürchtet, dass du um einiges jünger bist.“

Ich schlucke kurz und muss zugeben, dass mich seine Aussage mehr trifft, als gedacht.

„So schlimm?“

Er denkt kurz nach und schüttelt schließlich seinen Kopf.

„Nein, immerhin bist du volljährig. Da geht das schon in Ordnung.“

„Ähm … okay.“ Ich lache unbeholfen auf und fühle mich auf einmal dämlich. Wieso zieht mich die Aussage derart runter? Was stört mich so daran? Klar, niemand wird gern abgelehnt oder als zu leicht befunden, aber irgendwie ist das hier anders. Ich fühle mich plötzlich unreif und kindisch. Eine unangenehme Stille legt sich nieder, während wir weiter am Fluss entlang laufen. Unsicher starre ich auf das unruhige Wasser und ziehe meinen kuscheligen Schal etwas höher. Am liebsten würde ich mich ganz unter ihm verstecken.

„Also, Reico. Bist du öfter im Dollett unterwegs?“

Überrascht blicke ich auf, als er das Gespräch nochmal aufnimmt, und zucke mit den Schultern.

„Ab und an. Kommt drauf an, was du unter oft verstehst. Manchmal finden dort coole Veranstaltungen statt. Und du?“

„Nein, ich war nur dort, weil mich meine Freunde mitgenommen haben. Ich bin nicht der Discotyp. Mir sind Kneipen und Kinos lieber.“

Ich nicke und weiß darauf nichts zu antworten, so sehr ich es auch möchte, denn das fiese Schweigen kehrt zurück und droht, sesshaft zu werden.

„Ich mag dein Kostüm. Es stand dir wirklich gut.“

„Danke. Deins war auch nicht schlecht“, entgegnet er und ein dicker Kloß bildet sich daraufhin in meiner Kehle. Nicht schlecht? Nicht gerade schmeichelhaft. Missmutig schaue ich wieder auf das trübe Wasser und auf die andere Flussseite, wo die Festung Marienberg anmutig thront. Meine Augen verharren auf ihr und klammern sich an das Bild wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Es ist, als würde die Anlage mich umfangen und Trost spenden. Irgendwie seltsam wenn man bedenkt, dass es sich dabei um meinen Ausbildungsort handelt, doch ich liebe ihn. Die Arbeit macht mir Spaß, gibt mir Hoffnung und außerdem mag ich die Ausbilder und Mitazubis. Ich könnte mir keinen anderen Beruf vorstellen.

„Das ist mir jetzt zwar etwas peinlich, aber das was ich im Dollett gemeint habe, war durchaus wahr.“

Fragend blicke ich ihn an und er kratzt sich abermals unbeholfen am Hinterkopf.

„Na ja. Ich dachte wirklich, dass ich dich kenne. Ein Bruder von einem damaligen Kumpel … ich habe dich verwechselt. Das war kein Anmachspruch.“

„Oh …“ Ich spüre, wie die Farbe aus meinem Gesicht weicht. Ist das sein Ernst? Er hätte mich normalerweise nicht angesprochen? Es handelt sich bloß um eine Verwechslung? Das ist das schlimmste Date aller Zeiten. Am liebsten würde ich in den Fluss springen, untertauchen und mich davon treiben lassen. Was soll ich darauf antworten? Doch selbst wenn ich die passenden Worte hätte, glaube ich nicht, dass ich sie herausbringen würde. Deswegen sage ich gar nichts und hoffe, dass es bald und schnell zu Ende geht. Ich möchte einfach nur noch entkommen und heim.

Er scheint meinen Missmut zu bemerken, denn nun versucht er krampfhaft, ein Gespräch anzufangen und aufrecht zu erhalten. Ich tue so, als ob ich ihm zuhöre, doch konzentrieren kann ich mich nicht mehr. Es scheinen ohnehin nur belanglose Themen zu sein, sodass ich nicht nichts verpasse.

Endlich drehen wir um und das Ende des Horrordates ist in greifbarer Nähe. Als wir am Ausgangspunkt ankommen, bleibt er unschlüssig vor mir stehen. Auf was wartet er denn? Ich möchte nicht unwirsch oder unfreundlich sein, doch ich will endlich nach Hause.

„Ähm, also dann …“, beginne ich zögernd, „danke für das Date.“

Innerlich dreht sich mir der Magen um. Wieso bedanke ich mich dafür? Ich habe von ihm weder ein Kompliment noch sonst was Nettes gehört. Eingeladen wurde ich auch nicht. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht, aber was soll’s. Immerhin ist es gleich vorbei.

„Also, wann sehen wir uns wieder?“

Ich blicke ihn erstaunt an. Er möchte sich nochmal mit mir treffen? Habe ich da etwas falsch verstanden? Irritiert blinzle ich ihn an.

„Ja, also … ich habe dich zwar zuerst verwechselt, aber ich finde dich ganz nett und denke, da könnte was Festes draus werden, zwischen uns.“

Bei der Aussage ganz nett streift mich eine unheimliche Gänsehaut, doch die weiteren Worte lassen mich aufhorchen. Er ist ein Beziehungstyp? Das schießt ihn wieder ins Rennen, wobei ... ich bin mir nicht sicher.

„Du bist an einer Beziehung interessiert?“

„Holla, du gehst aber ran, aber ja. Wie bereits gesagt, ich denke, es könnte was Festes werden bei uns. Natürlich sollten wir uns erst nochmal treffen und besser kennenlernen. Also …?“

Mein Herz macht einen kleinen, zaghaften Sprung über die in den Weg gelegten Sorgen. Ich nicke leicht und kann nicht verhindern, dass sich ein schüchternes Lächeln auf meinem Gesicht breit macht. Ich hätte nicht gedacht, dass das Date zu guter Letzt eine Wendung nehmen würde.

„Tja, okay. Dann schreibe ich dir einfach?“

„Ja, gerne.“

„Fein …“ Bernd kratzt sich zum xten Mal am Hinterkopf, dann macht er einen Schritt auf mich zu und beugt sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Ich möchte ihm entgegenkommen. Dummerweise peilen wir dieselbe Richtung an und noch bevor ich mich versehe, treffen sich unsere Lippen. Das ist mir megapeinlich. Ich versuche, mich zurückzuziehen, doch zu meiner Verwunderung zieht er mich in seine Arme. Langsam schließe ich die Augen und lasse es geschehen, schmecke den Geschmack der salzigen Lippen und meine Zunge tanzt zurückhaltend mit seiner. Ein etwas holpriger Tanz, aber ausbaufähig. Mein Magen beginnt seltsam zu rumoren, doch er scheint es zu meinem Glück nicht zu hören. Das ist mir noch nie passiert. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Er löst sich von mir, zwinkert mir nochmal zu und verabschiedet sich mit einem „Also dann“. Ich blicke ihm eine Zeitlang aufgewühlt hinterher, dann trete ich den Rückweg an. Wir haben uns geküsst. So richtig. Bedeutet das jetzt, dass wir schon zusammen sind? Ich knutsche jedenfalls nicht willkürlich in der Gegend rum. Es war ein blödes Missverständnis, aber er hat nachgesetzt, also …

Ich seufze leise und spiele gedankenverloren mit meinem Schal. Eigentlich ist die Sachlage völlig klar. Wir haben uns geküsst und nicht nur Küsschen zum Abschied gegeben. Ich habe also wieder einen Freund. Tatsächlich habe ich einen unter vielen gefunden, der nicht nur eine Bettgeschichte, sondern etwas Ernstes möchte. Das ist wahrlich ein Grund zum Freuen, doch warum kann ich es dann nicht?

In mir keimt der Drang auf, mich ablenken zu müssen. Ich möchte nicht mehr darüber nachdenken. Das Gefühlschaos macht mich ganz kirre. Schnell krame ich mein Handy aus der Jackentasche. Ich habe zwar keine neuen Nachrichten erhalten, doch der letzte Chatverlauf mit Rayek fällt mir sofort ins Auge. Ein leichtes Schmunzeln umspielt meine Lippen. Hoffnungsvoll beginne ich, ein paar belanglose Sätze zu schreiben, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

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