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Ian Casson fuhr sich mit einer nervösen Handbewegung über die rechte, entstellte Gesichtshälfte. Er seufzte geplagt.

Zitternd führte er sein Glas an die bebenden Lippen. Es fiel ihm schwer, zu sprechen. Er räusperte sich mehrmals, ehe er hervorbrachte: „Ich ... ich habe meine Frau sehr geliebt, Mr. Reiniger. Sie war ein richtiger Kamerad. Ich konnte mit ihr Pferde stehlen.“

Bount dachte unwillkürlich an seine Sekretärin June March. Sie war vom selben Schlag. Auch sie ging mit ihm durch Dick und Dünn.

„Als ich noch am Beginn meiner Karriere war“, erinnerte sich Ian Casson, der Staranwalt aus San Francisco, „hatten Julie und ich kein leichtes Leben. Wir mussten uns ganz schön durchbeißen. Das war nicht immer leicht, aber Julie hat niemals geklagt. Sie hielt stets zu mir, und sie hat selbst dann an mich geglaubt, wenn ich schon nahe daran war, den Kram hinzuschmeißen. Als sich dann die ersten Erfolge einstellten, sagte Julie: ‚Ich habe gewusst, dass du’s schaffst.' Ich wäre heute nicht da, wo ich bin, wenn ich Julie nicht an meiner Seite gehabt hätte. Ich brauchte sie für meine Karriere und ich bräuchte sie auch heute noch. Sie ... sie wird mir fehlen. Verdammt, ich weiß nicht, wie ich ohne sie zurechtkommen werde.“

Bount zog an seiner Pall Mall. „Es klingt zwar im Augenblick hart, Mr. Casson, aber das Leben geht weiter. Die Zeit wird Ihre schlimme Wunde heilen.“

„Vermutlich wird sie das. Aber es wird sehr lange dauern.“

Ian Casson leerte sein Glas.

Dann begab er sich zur Hausbar und goss noch einmal Whisky nach. Er ließ das Glas auf dem Tresen stehen und hob die Hände.

„Ich bin ein Mensch, der das Leben achtet“, erklärte der Staranwalt. „Leben ist für mich etwas Heiliges, das man nicht zerstören darf. Aber bei Gott, wenn ich den Mörder meiner Frau in die Finger kriegen würde, ich würde nicht zögern, ihn mit bloßen Händen zu töten!“

„Das ist eine ganz normale Reaktion, Mr. Casson“, entgegnete Bount.

Aus der Praxis wusste Bount Reiniger jedoch, dass Menschen wie Ian Casson, wenn sie die Möglichkeit hatten, Rache zu nehmen, es letztlich doch nicht fertigbrachten, weil das Gute in ihnen obsiegte.

Bount ersuchte den Anwalt, über das Erlebte zu sprechen.

Das fiel dem angeschlagenen Mann sehr schwer. Aber er riss sich zusammen, denn unbewusst hoffte er, dass er damit mithelfen konnte, den eiskalten Mörder unschädlich zu machen.

„Wir verbrachten zwei herrliche Tage auf dem Ozean. In aller Stille und Abgeschiedenheit. Wir hatten nur uns beide, und das genügte uns“, berichtete Ian Casson. Er senkte den Blick und schaute auf seine Schuhspitzen. „Wir hätten noch einen Tag länger auf dem Meer bleiben sollen. Proviant hätten wir genug mitgehabt. Julie machte sogar den Vorschlag, draußen zu bleiben ... Als ob sie geahnt hätte, was ihr zustoßen würde...“

Bount nahm noch einen Zug von seiner Zigarette und drückte sie dann aus.

Ian Casson nahm sein Glas auf. Er löste sich von der Hausbar und begab sich zu Bount. Ächzend ließ er sich in einen Sessel fallen.

Er trank.

„Wir befanden uns in einer unbeschreiblichen Stimmung, Mr. Reiniger. Der Aufenthalt auf dem Meer hatte uns gutgetan. Wir waren glücklich. All der Ärger, der Stress, den wir hierher mitgebracht hatten, war draußen auf dem Ozean geblieben. Wir waren auf eine wunderbare Weise befreit, verstehen Sie?“

Bount nickte.

Ian Cassons Brauen zogen sich zusammen. Sein Blick wurde finster. „Und dann passierte das Schreckliche ...“ Er trank überhastet. Seine Lippen glänzten feucht. Er leckte den Whisky ab. „Ich konnte es nicht verhindern“, sagte er heiser. Sein Blick richtete sich nun auf Bount Reinigers Augen. „Ich hatte nicht die geringste Chance, meiner Frau dieses furchtbare Schicksal zu ersparen. Dieser Kerl schlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel zu. Julie war noch in der Kajüte. Ich machte die Jacht fest. Plötzlich war er da. Ich sah noch die schwarze Maske, und der Gedanke schoss mir durch den Kopf: ‚Mein Gott, das ist der Kerl, der Miriam Cavanagh ermordet hat!' Und dann traf mich sein gewaltiger Hieb. Es ging so verflucht schnell, dass ich nicht reagieren konnte. Es war furchtbar.“

Der Staranwalt nahm wieder einen kräftigen Schluck. Wenn er so weitermachte, war er in einer Stunde blau.

Ian Casson legte die Linke über seine Augen. Sein Atem ging schnell. Er brauchte eine Weile, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen.

Ohne die Hand von den Augen zu nehmen, sagte er gepresst: „Ich frage mich schon die ganze Zeit, unter welchen Gesichtspunkten der Mörder seine Opfer auswählt. Warum mussten es gerade Miriam Cavanagh und meine Frau sein? Welches Motiv hatte er, ausgerechnet diese beiden zu töten?“

„Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Mörder wahllos mordet“, bemerkte Bount Reiniger.

Ian Casson nickte. Die Linke sank herunter. „So muss es sein, denn es gab keinen Grund, Julie zu töten. Sie war ein Engel. Sie hatte keine Laster, war eine anständige Frau, hatte keine Affären, wie das in den Kreisen, in denen wir verkehren, so üblich ist. Sie ging förmlich auf in ihrer Liebe zu mir und unserem Jungen. Der Anwalt unterbrach sich. Seine Wangenmuskeln zuckten. „Ich weiß noch nicht“, sagte er schleppend, „wie ich es meinem Sohn beibringen soll, dass seine Mutter nicht mehr lebt. Es wird ein furchtbarer Schlag für ihn sein.“

Bount bat den Anwalt, zu erzählen, was sich zugetragen hatte, als dieser aus seiner Ohnmacht erwachte. „Zunächst war ich völlig verwirrt“, berichtete Ian Casson langsam mit bleichen Zügen. „Ich begriff nicht, wieso ich auf dem Boden lag. Ich konnte mich an den Augenblick vor dem Niederschlag nicht erinnern. Mühsam kämpfte ich mich hoch. Ich hatte Gleichgewichtsstörungen. Es dauerte eine Weile, bis ich mir um Julie Sorgen zu machen begann. Zu diesem Zeitpunkt setzte auch die Erinnerung wieder ein. Ich sah vor meinem geistigen Auge den Maskierten, und mein Herz begann vor Schreck zu rasen. Ich wusste plötzlich, dass mit Julie etwas Entsetzliches passiert war. Ich bekam Magenkrämpfe. Der kalte Schweiß brach mir aus allen Poren. Mein Herz schien hoch oben im Hals zu schlagen. Ich stolperte die Stufen des Niederganges hinunter... Und dann entdeckte ich sie... Es war grauenvoll ... Bis an mein Lebensende werde ich diesen Anblick nicht vergessen, Mr. Reiniger. Mir brach das Herz, als ich meine Frau so daliegen sah. Ich war nahe daran, noch einmal ohnmächtig zu werden. Ich brüllte meinen Schmerz heraus, doch davon wurde Julie nicht mehr lebendig. Irgendwann verließ ich dann die Jacht. Völlig durcheinander rannte ich weg und alarmierte die Polizei ...“

Ian Casson verstummte.

Er hatte sich beim Sprechen angestrengt. Nun wirkte er ausgepumpt und erschöpft.

Bount wollte dem Mann Trost zusprechen, doch er kam nicht dazu. Jemand klopfte an die Tür.

Der Staranwalt sah Bount Reiniger bittend an. „Würden Sie für mich ...? Ich fürchte, ich schaff’s nicht bis zur Tür.“

„Selbstverständlich“, sagte Bount und erhob sich.

Ein schlanker Mann in himmelblauen Jeans und dunkelblauem Pulli und ein hübsches Mädchen standen vor der Tür.

Das Gesicht des Mädchens war schmal und ein wenig blass. Das Schönste an ihr waren die großen, dunklen, ausdrucksstarken Augen. Sie war genauso angezogen wie der Mann neben ihr. Sie hatte eine sehenswerte Figur. Ein Dutzend Silberketten mit unzähligen Anhängern, Talismanen und anderem Firlefanz hingen um ihren Hals. All das Zeug rasselte und klimperte, wenn sie sich bewegte.

Ihr Haar war ebenso sandfarben wie das ihres Begleiters.

Die beiden waren Bruder und Schwester.

Bount Reiniger wusste, wen er vor sich hatte: der Mann war der Popsänger Des O’Sullivan. Er produzierte im Jahr zwei Langspielplatten, die wie warme Semmeln weggingen.

Pro LP gab es etwa sechs Auskoppelungen, die als Singles auf den Markt kamen. Wenn Bount auf dem Laufenden war, dann besaß Des O’Sullivan bereits an den zwanzig goldenen Schallplatten.

Da das Geschäft für ihn nicht besser hätte laufen können, ging er auch unter die Produzenten. Und er ebnete als solcher auch seiner Schwester Susannah den Weg ins Showgeschäft.

Sie hatte zwar nur ein dünnes, zartes Stimmchen, aber was die Tontechniker daraus machten, war geradezu phänomenal.

Der Song, den Des O’Sullivan vor einigen Monaten mit seiner Schwester gemeinsam aufgenommen hatte, entpuppte sich als wahrer Gipfelstürmer. Er war fast in allen Hitparaden die Nummer eins.

Des und Susannah O’Sullivan sahen Bount Reiniger verwirrt an. „Wir wollten zu Ian. Ist er nicht da?“ fragte der Sänger.

„Doch. Kommen Sie herein“, erwiderte Bount. „Mein Name ist Reiniger. Bount Reiniger. Ich bin Privatdetektiv.“

Des O'Sullivan nickte. „Verstehe ...“

Susannah nagte an ihrer Unterlippe. „Wie geht es Ian?“ fragte sie besorgt.

„Nicht besonders gut“, erwiderte Bount.

„Wen wundert das. Wir waren drei Tage drüben auf Kauai“, sagte Des O'Sullivan. „Wir haben es eben erst erfahren. Haben Sie schon eine Spur, Mr. Reiniger?“'

„Leider nein.“

Susannah und Des begaben sich ins Wohnzimmer. Sie umarmten beide den gebrochenen Mann und drückten ihm ihr tief empfundenes Beileid aus.

Es war erschütternd, mit ansehen zu müssen, wie Ian Casson verzweifelt um seine Haltung rang.

Des O’Sullivan wandte sich impulsiv an Bount. „Ich weiß nicht, wieviel Geld Sie von Clarence Cavanagh bekommen, Mr. Reiniger. Jedenfalls würde ich fünftausend Dollar dazulegen, wenn es Ihnen gelingt, diese maskierte Bestie zur Strecke zu bringen. Fangen Sie diesen Teufel, damit er nicht noch mehr Leid über unschuldige Menschen bringt.“

Auswahlband Krimi Winter 2020

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