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“Herr Dr. Wildenbacher, weswegen sind Sie hier?”

“Das frage ich mich allerdings auch!”

“Es ist immer gut, wenn der Patient weiß, weswegen er zum Therapeuten geht. Das erleichtert die gemeinsame Arbeit.”

“Ich bin kein Patient”, sagte Wildenbacher. “Damit beginnt es schonmal. Patient heißt ‘Leidender’. Ich leide aber an nichts.”

“Aber möglicherweise leiden andere an Ihnen, Herr Wildenbacher.”

“Dann sollen die zum Therapeuten gehen und >Gespräche< führen. Das sind dann ja auch tatsächlich Patienten im wahrsten Sinn des Wortes. Ich aber nicht. Ich bin nur hier, weil man mich dazu verdonnert hat.”

“Wir sprechen neuerdings durchaus auch von Klienten - insofern gebe ich Ihnen Recht, dass sich auch unsere fachliche Sichtweise in dieser Hinsicht etwas verändert hat.”

“Das ist genauso verlogen. Ich bin nicht Ihr Klient! Ihr Kunde!” Wildenbacher lachte auf. “Ich bezahle Sie nicht und Sie handeln auch nicht in meinem Auftrag.”

“Nun, wir brauchen uns nicht über Begriffe zu streiten. Kommen wir zur Sache - und damit zu dem Grund, weswegen Sie hier sind.”

“Ich bin hier, weil mein Vorgesetzter das so will”, sagte Wildenbacher. „Und weil ein paar übersensible, empfindliche Seelen sich über mich beschwert haben.”

“Es ist von Mobbing die Rede.”

“Mobbing? Weil ich einer Mitarbeiterin, die saumäßige Arbeit abgeliefert hat, das auch so deutlich gesagt habe? Weil eine andere Mitarbeiterin, mit der ich gezwungen war, dieselben Räumlichkeiten zu teilen, inzwischen versetzen ließ - was im übrigen zu unser aller Besten ist?”

“Hören Sie...”

“Nein, hören Sie mal: Ich bin Gerichtsmediziner. Ich habe es mit Leichen zu tun und muss herausfinden, woran die gestorben sind. Die Tatsachen liegen bei uns im Institut buchstäblich auf dem Tisch. Da drückt man sich klar und deutlich aus.”

“Man hat Ihnen gesagt, dass Sie etwas achtsamer sein sollen. Etwas sensibler.”

“Da bin ich der falsche für”, sagte Wildenbacher.

“Herr Wildenbacher, Sie haben ja schon zwei Kolleginnen erwähnt, die sich explizit über Sie beschwert haben....”

“Weicheier!”

“In jüngster Zeit sind jetzt noch etwas schwerwiegendere Vorwürfe eines Institutsmitarbeiters hinzugekommen.”

“Keine Ahnung, von wem Sie sprechen.”

“Ich spreche von Herrn Schmidtbauer.”

“Herr Schmidtbauer hat fundamentale Regeln missachtet, die man bei einer Obduktion einhalten muss! Wenn so Gutachten erstellt werden, dann sind Fehlurteile vorprogrammiert! Ich habe ihm bei mehreren Gelegenheiten sehr deutlich gesagt, dass für einen wie ihn kein Platz an unserem Institut ist!”

“Herr Schmidtbauer glaubt, dass Ihre fortgesetzte und massive Kritik transphob motiviert ist.”

“Trans was?”

Wildenbacher hob die Augenbrauen. Er schien überrascht zu sein.

“Herr Schmidtbauer war bis vor wenigen Jahren noch Frau Schmidtbauer, bevor er sich einer entsprechenden Behandlung unterzog. Damals arbeitete er allerdings schon an der Akademie des Bundeskriminalamtes in Quardenburg.”

“Ja, aber nicht in unserer Abteilung!”

“Wie gesagt, Herr Schmidtbauer bestreitet die sachliche Motivation Ihrer fortgesetzten, massiven Kritik und hat die Personalvertretung eingeschaltet, weil er sich von Ihnen gemobbt fühlt. Er wirft Ihnen transphobe Ressentiments vor.”

“Bis heute hatte ich keine Ahnung, dass Herr Schmidtbauer mal Frau Schmidtbauer war. Glauben Sie ich schaue mir alle Mitarbeiter aller Abteilungen so genau an? Ich habe schon genug mit meinen Leichen zu tun...”

“Ja, das ist ja vielleicht ein Teil des Problems, Herr Dr. Wildenbacher.”

“Wie?”

“Dass Sie Ihren Mitmenschen nicht genug Aufmerksamkeit zuwenden. Nicht genügend Achtsamkeit und Sensibilität! Und genau deswegen sind Sie ja hier: Um diesen Missstand abzubauen und Schwierigkeiten in der Kommunikation mit anderen Mitarbeitenden in Zukunft zu vermeiden.”

“So ein Quatsch”, sagte Wildenbacher. “Ich habe keine Schwierigkeiten mit irgendwem. Und wer Schwierigkeiten mit mir hat, der soll mir gefälligst aus dem Weg gehen! Dann gibt es auch keine Probleme.”

“Herr Wildenbacher, woher kommt diese Aggressivität.-”

“Was für eine Aggressivität?”

“Die Aggressivität, die tief in Ihnen ist und die immer wieder aus Ihnen hervorbricht und den Umgang mit Kollegen beeinträchtigt.”

“Ich bin nicht aggressiv! Und ich war immer der Sensibelste von allen! Jedes Mal, wenn ich eine Leiche auf dem Tisch habe, dann weine ich erstmal etwas. Und dasselbe tue ich, bevor ich ein Steak oder Weißwurst esse! Dann halte ich innere Zwiesprache mit dem Schwein, das auf meinem Teller liegt und bitte es um Vergebung dafür, dass ich Hunger habe!”

“Jetzt versuchen Sie, unsere gemeinsame Arbeit, die so konstruktiv begonnen hat, ins Lächerliche zu ziehen.”

“Ich ziehe nichts ins Lächerliche! Das ganze >ist< nämlich einfach nur lächerlich. Da brauche ich nichts mehr zu ziehen!”

“Herr Wildenbacher, wann in Ihrem hat diese Wut, die Sie erfüllt, begonnen.”

“Jetzt wollen Sie mit mir über meine Kindheit sprechen?”

“Das wäre etwas, womit wir weiterarbeiten könnten.”

“Wissen Sie was, um über meine Kindheit zu sprechen, da kennen wir uns einfach nicht gut genug.”

“Also...”

“Aber es gibt in der Tat eine Sache, die mich wütend macht!”

“Lassen Sie es ruhig heraus, Herr Dr. Wildenbacher!

“Es macht mich wütend, dass ich die Kühlfächer in unserem Institut voller Leichen habe, die ich alle obduzieren müsste, die alle mutmaßliche Opfer von Gewaltverbrechen sind und bei denen es Angehörige gibt, die wissen wollen, wer diese Menschen umgebracht hat - aber stattdessen sitze ich hier, zum über eine Wut zu schwadronieren, die gar nicht vorhanden ist und über Probleme, die nur in der Einbildung von Menschen wie Ihnen existieren.”

Wildenbacher sah auf die Uhr an seinem Handgelenk.

Er sagte nach einer Pause und mit hochrotem Gesicht: “Eine Dreiviertelstunde sollte das hier dauern.”

“Richtig.”

“Die ist jetzt vorbei.”

“Nun, wir...”

“Was bedeutet, ich gehe jetzt.“ Wildenbacher erhob sich. “Und jetzt beklagen Sie sich nicht, dass ich aggressiv geworden bin! Ich bin nämlich die Ruhe selbst!”

Die Tür knallte ins Schloss.

Wildenbacher war fort.

Und der Therapeut machte ein betroffenes Gesicht - und sich dann ein paar Notizen. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns, dachte er.

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