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Yussuf Azizi hatte zu Lebzeiten eine schmucke Etage in Berlin Mitte bewohnt; eine noble Adresse, wo auf Sicherheit ganz besonderer Wert gelegt wurde, wie die zahlreichen Security Guards und die überall deutlich sichtbar installierte Sicherheitselektronik in der Eingangshalle eindrucksvoll belegten.

Zusammen mit Jürgen, Olli und einem weiteren Dutzend Kollegen trafen wir dort ein, denn abgesehen davon, dass wir Azizis Witwe mitteilen mussten, dass ihr Mann erschossen worden war, musste bei Azizi auch eine Hausdurchsuchung durchgeführt werden. Bei einem Mordopfer war das Routine, auch wenn seine Familie das vermutlich ganz und gar nicht angenehm fand.

Rudi und ich waren von unseren Kollegen mitgenommen worden, denn der Dienstwagen war jetzt erst einmal ein Fall für eine Generalüberholung in der Werkstatt.

Offenbar war der Buschfunk von Berlin schneller und zuverlässiger, als selbst die Lokalnachrichten.

Als wir mit unserer Mannschaft von BKA-Einsatzkräften verlangten, eingelassen zu werden, öffnete uns ein Mann, der sich als Raimund Scirea vorstellte und als Freund der Familie bezeichnete.

Scirea war uns durchaus ein Begriff.

Er spielte im Al-Khalili-Syndikat eine führende Rolle. Als sogenannter Conciliere von Abdullah Al-Khalili wurde er bei allen wichtigen Entscheidungen ins Vertrauen gezogen. Genau wie in den Mafia-Filmen aus den Siebzigern, die Abdullah Al-Khalili so gerne mochte. Leider hatten wir einfach nicht genug gegen ihn in der Hand, als dass ein Staatsanwalt daraus eine Anklage hätte machen können, die auch nur den Hauch einer Erfolgschance gehabt hätte.

Wir zeigten ihm unsere Dienstausweise.

„Sie sind wegen der Ermordung von Yussuf Azizi hier“, stellte Raimund Scirea sachlich fest.

„Woher wissen Sie davon?“, fragte Jürgen.

„Über die Schießerei wurde in den Lokalnachrichten ausführlich berichtet!“

„Aber der Name des Opfers wurde nicht veröffentlicht“, erwiderte Jürgen kühl.

Um Scireas dünne Lippen spielte ein kühles Lächeln. „Ein Bekannter rief mich an und sagte mir, was geschehen ist.“

„Was für ein Bekannter?“

„Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen seinen Namen nenne.“

„Was ist dabei?“

„Ganz einfach: Er war Gast in einem Lokal, dass PINK BALLS heißt – und wenn sich das in der Szene herumspricht, ist er desavouiert. Bei gewissen Leuten jedenfalls.“

„Komisch. Yussuf Azizi und Ihr Bekannter - gleich zwei Libanesen im PINK BALLS. Es muss Jahre her sein, das es so etwas gegeben hat“, meinte Jürgen sarkastisch.

„Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass mein Bekannter Libanese ist?“

„Eins zu Null für Sie, Herr Scirea.“

„Aber Sie haben recht: Es waren zwei Personen mit Migrationshintergrund dort. Schließlich waren Sie doch auch dort, Herr Caravaggio, oder?“

Jürgens Gesicht wurde zur Maske und mir wäre beinahe der Kinnladen heruntergefallen. Scireas Bemerkung war an Dreistigkeit kaum zu überbieten.

„Ihre Aussage lässt sich so interpretieren, dass Sie Azizi beobachten ließen“, sagte ich.

„Diese Aussage lässt sich aber auch so interpretieren, dass Herr Caravaggio als führender BKA-Ermittler nicht gerade ein Unbekannter ist!“, erklärte Scirea mit ätzendem Unterton.

Jürgen wandte sich an mich.

„Vielleicht schaffst du es ja, dich mit diesem Kerl zu unterhalten und dabei ruhig zu bleiben, Harry. Ich werde inzwischen Frau Azizi befragen. Wo ist sie?“

„Sie steht unter Schock“, behauptete Scirea. „Und wenn überhaupt, wird sie nur in meiner Gegenwart mit Ihnen sprechen.“

„Soweit ich weiß, haben Sie keine Zulassung als Anwalt, Herr Scirea. Und dass Frau Azizi nicht mit mir sprechen möchte, dass möchte ich schon gern von ihr selbst hören. Schließlich wollen wir nicht mehr und nicht weniger, als den Mörder Ihres Mannes schnappen.“ Jürgen verzog das Gesicht. „Aber vielleicht teilen wir dieses Ziel ja gar nicht, Herr Scirea.“

Scirea verkniff sich eine bissige Bemerkung.

Er führte uns in einen weiträumigen Wohnraum mit antiken Möbeln. Eines musste man Azizi lassen. Er hatte Geschmack gehabt.

Jarmila Azizi, eine hübsche, dunkelhaarige Frau, deren Haar ihr lang über die Schultern fiel und auf dem letzten Drittel leicht wellig wurde, kam herein. Der Blick ihres feingeschnittenen, leicht geröteten Gesichts war nach innen gewandt. Das Make-up verlaufen. Auch die Augen waren gerötet, so als hätte sie geschluchzt.

Jürgen stellte uns kurz vor. „Es tut mir leid, wenn wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten, Frau Azizi, aber Sie werden ertragen müssen, dass unsere Leute sich hier umsehen. Ich möchte Ihnen paar Fragen stellen. Auch wenn der Tod Ihres Mannes für Sie mit Sicherheit ein Schock ist, so dürften Sie doch auch daran interessiert sein, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird.“

Die Augen von Jarmila Azizi verengten sich leicht. „Wenn Sie damit meinen, dass man diesem Mörder die Gelegenheit nimmt, sich vor einer korrupten Justiz zu rechtfertigen und am Ende freigesprochen zu werden, dann ist das keineswegs in meinem Sinn!“, erklärte sie in einem Tonfall, der an klirrendes Eis erinnerte.

„Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen, Frau Azizi“, beharrte Jürgen.

Die dunkelhaarige Witwe wechselte einen Blick mit Raimund Scirea, der sie beschwörend ansah.

„Lass dich darauf nicht ein, Jarmila! Unter keinen Umständen!“

„Mach dir keine Sorgen, Raimund“, sagte Jarmila Azizi sehr ruhig. „Ich wirke vielleicht schwach und zerbrechlich – ich bin es aber nicht.“

„Dann besteh wenigstens darauf, dass ein Anwalt anwesend ist.“

Jarmila Azizi wandte sich an Jürgen Caravaggio. „Wir können in den Nebenraum gehen, wenn Sie möchten.“

„Gerne...“

Jarmila Azizi erhob sich und wandte sich zum Gehen.

„Wo ist eigentlich Ihr Kind?“, fragte ich.

Die Witwe drehte sich um. „Als ich vom Tod meines Mannes erfuhr, wollte ich zunächst selbst damit fertig werden. Ich habe jemanden angerufen, der es zu Verwandten gebracht hat. Schließlich konnte ich mir ausmalen, welches Drama sich jetzt hier in unseren vier Wänden abspielen würde.“

Jürgen und Olli verließen zusammen mit Jarmila Azizi den Raum durch eine auf der linken Seite gelegene Schiebetür, die sich selbsttätig öffnete, wenn man eine Lichtschranke passierte.

Dahinter war ein Raum zu sehen, der noch um einiges größer war als der, in dem wir uns im Moment aufhielten. Für Berliner Verhältnisse hatte die Wohnung der Azizis geradezu gigantische Ausmaße.

Ich schätzte sie auf mindestens zweihundert Quadratmeter – und das in einer Stadt, wo jeder bewohnbare Quadratmeter Höchstpreise erzielte.

Rudi dachte offenbar dasselbe wie ich. „Azizis Geschäfte müssen gut gegangen sein – sonst hätte er sich ein Schmuckstück wie diese Wohnung wohl kaum leisten können“, sagte er.

Ich hörte ihn wie aus weiter Ferne.

Mit meiner Aufmerksamkeit war ich bei Raimund Scirea.

Der Vertraute des großen Abdullah Al-Khalili wirkte nervös. Es gefiel ihm nicht, dass Jürgen sich mit der Witwe unterhielt und er dieses Gespräch nicht kontrollieren konnte.

Ich nahm mir vor, ihn mit ein paar Fragen zu löchern, damit er von seiner traditionellen Rolle als Wachhund der Al-Khalilis etwas abgelenkt wurde.

„Sie sagen, dass Sie ein Freund der Familie wären“, stellte ich fest.

Scirea hob die Augenbrauen und zog sie dann auf eine Weise zusammen, die mir deutlich vermittelte, dass er mich nicht ausstehen konnte. Wahrscheinlich galt das allerdings für jeden, der einen Dienstausweis des BKA bei sich trug.

„Das ist richtig, Herr...“

„Kommissar Harry Kubinke, BKA.“

„Man sollte sich von euch Kommissaren eine Liste machen“, knurrte er düster.

„Soll das eine Drohung sein?

„So empfindlich sind Sie, Kommissar Kubinke?“

„Es war nur eine Frage.“

„Aber eine, auf die ich die Antwort Ihnen überlassen möchte, Herr Kubinke.“

„Reden Sie immer so um den Kern der Sache herum, oder bekommen wir heute noch eine vernünftige Unterhaltung hin, Herr Scirea?“

Raimund Scireas Gesicht wirkte so starr wie eine in Granit gemeißelte Statue. Es war keinerlei Regung darin zu erkennen. Manche sagen ja, dass Augen Fenster der Seele wären. In Scireas Fall waren diese Fenster jedoch anscheinend reichlich beschlagen.

Er hob die Augenbrauen. „Vergessen Sie es, Kubinke. Stellen Sie Ihre Fragen und verschwinden Sie möglichst schnell wieder.“

„Nichts dagegen, Herr Scirea.“

„Haben Sie Familie? Nein wahrscheinlich nicht. Jemand wie Sie arbeitet doch rund um die Uhr daran, anderen was am Zeug zu flicken. Leuten, die es aus eigener Kraft zu etwas gebracht haben – und zwar deshalb, weil die Familie zu ihnen gehalten hat!“

„Machen Sie das immer so? Eine Frage stellen und selbst die Antwort darauf geben?“

Scirea atmete tief durch. „Diese Art von Familiensinn dürfte Ihnen fremd sein und deswegen werden Sie kaum ermessen können, was Yussufs Tod für seine Hinterbliebenen bedeutet. Ihnen wurde das Herz aus der Seele gerissen! Aber Sie haben nichts Besseres zu tun, als eine arme Frau zu quälen und diese Wohnung auf den Kopf zu stellen. Herumzuschnüffeln in der Hoffnung, dass Sie irgendetwas finden, was Sie dann an die Steuerfahndung weitergeben können! Etwas, das Ihnen vielleicht sogar einen Vorwand liefert, Yussufs Vermögen einzuziehen. Und so etwas nennt sich dann Gerechtigkeit!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung, der die gesamte Verachtung, die er empfand, mehr als deutlich wurde. „Pah!“

Mir lag eine gepfefferte Erwiderung auf der Zunge.

Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein, dessen Reichtum auf dem grausamen Schicksal ungezählter Drogensüchtiger beruhte, die am Bahnhof Zoo wie lebende Tote vor sich hinvegetierten und denen im schlimmsten Fall selbst ihre eigenen Kinder gleichgültig waren, wenn sie nur die nächste Lieferung bekamen.

Den nächsten Stein, wie man einen braunen Klumpen Crack auch nannte.

Und der Heroinhandel sowie die Schutzgelderpressung oder die Geldwäsche waren auch nicht gerade Beispiele für ehrbares Unternehmertum.

Es war nicht zu fassen. Leute wie Scirea stellten die Tatsachen in ihrer Sicht der Dinge einfach vollkommen auf den Kopf.

Ich hatte schon tief Luft geholt, aber Rudi bedeutete mir mit einem Kopfschütteln, es besser zu lassen. Es hat keinen Sinn!, schien sein Blick zu sagen. Und er hatte Recht.

Also blieb ich – so schwer es mir auch fallen mochte – sachlich.

„Hatten Sie auch geschäftlich mit Herrn Azizi zu tun?“, fragte ich.

„Hier und da vielleicht...“

„Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich den Teufel tun und irgendwelche Aussagen zu diesem Themenkomplex machen werde, es sei denn, Sie verhaften mich als Verdächtigen und klagen mich eines Verbrechens oder Vergehens an. Aber in diesem Fall würde ich Ihnen nur in Anwesenheit eines Anwalts antworten und außerdem...“

„...hätten Sie das Recht zu schweigen, Herr Scirea. Das nimmt Ihnen auch jetzt niemand.“

„Sie haben nichts gegen mich in der Hand, ich weiß also auch nicht, was Sie und Ihre Leute sich hier so aufblasen!“

„Herr Scirea, ich glaube Sie haben mich vollkommen missverstanden. Ich habe nie auch nur den leisesten Verdacht geäußert, dass Sie Herrn Azizi umgebracht oder seinen Mord in Auftrag gegeben haben. Um so mehr bin ich jetzt verwirrt darüber, dass Sie offenbar überhaupt keinen Wert darauf legen, mit uns zu kooperieren!“

Ein Ruck ging durch den Körper des grauhaarigen Scirea.

Er atmete tief durch. Irgendetwas ging ihm hier entschieden gegen den Strich – ich wusste nur noch nicht, was es war. Fürchtete er, dass im Zuge unserer Ermittlungen rund um Yussuf Azizis Tod irgendetwas ans Tageslicht kam, dass auch für ihn gefährlich werden konnte?

„Glauben Sie mir, Kommissar Kubinke, Yussuf stand mir sehr nahe. Er war mein Großneffe und ich habe jede Stufe seiner geschäftlichen Entwicklung genau verfolgt. Er hatte einfach eine glückliche Hand, bei allem, was er tat.“

„Und trotzdem wollte ihn jemand umbringen.“

Unsere Erkennungsdienstler Sami Oldenburger und Pascal Horster gehörten ebenfalls zu den Kommissaren unseres Präsidiums, die sich gegenwärtig in der Wohnung der Azizis befanden.

Sami schaute durch die Tür und forderte mich auf, ihm kurz zu folgen.

Ich kam dieser Aufforderung nach, während Rudi mit Scirea zurückblieb. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss.

„Was gibt es, Sami?“, fragte ich, während ich ihm durch einen Korridor folgte, an dessen Ende sich ein Büro befand, wie ich durch die halboffene Tür sehen konnte. Schreibtisch, Computer, Kopierer – alles, was man so brauchte.

„Wir haben Wanzen gefunden“, erklärte Sami in gedämpftem Tonfall.

„Unsere eigenen Leute waren das nicht zufällig?“, fragte ich zurück.

Sami schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das ist ausgeschlossen. Erstens verwenden wir nicht diesen Gerätetyp und zweitens habe ich mich gerade noch einmal bei Kriminaldirektor Bock rückversichert. Es liegt in Bezug auf Yussuf Azizis Privatwohnung weder eine richterliche Erlaubnis zum Abhören vor, noch hat es in der Vergangenheit von unserer Seite irgendeine Aktion gegeben, die sich unter die Begriffe Gefahrenabwehr oder Bekämpfung des Terrorismus fassen ließe.“

„Wir werden abklären müssen, wer für die Wanzen verantwortlich ist“, sagte Sami Oldenburger. „Aber ich glaube eigentlich nicht, dass es sich um irgendwelche offiziellen Stellen handelt.“

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