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Auf dem Rückweg zum Präsidium nutzten wir die Zeit, um Jacqueline Berentzen bei ihrer Schwester zu besuchen. Das hatte ich eigentlich längst machen wollen, denn ich fand, dass ihre Rolle bei der Ermordung von Jimmy Talabani noch längst nicht hinreichend aufgeklärt war und man ihr eigentlich noch etwas genauer hätte auf den Zahn fühlen müssen.

Aber die jüngsten Ereignisse hatten unserer Abteilung kaum eine Verschnaufpause gegönnt.

Die Adresse ihrer Schwester Tyra, die Jacqueline uns angegeben hatte, lag nur ein paar Straßen entfernt. So lag der Besuch gewissermaßen auf dem Weg, den wir ohnehin zurückzulegen hatten.

Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hauses, dessen beste Tage mit Sicherheit schon einige Jahrzehnte zurücklagen. Die Fassade war in einem erbärmlichen Zustand und Graffiti verunstalteten die Front zur Straße hin bis auf eine Höhe, die für jeden Sprayer wohl beim besten Willen nicht zu überwinden war.

Ein paar türkisch sprechende Jugendliche hingen im Eingangsbereich herum und bedachten uns mit misstrauischen Blicken.

Rudi parkte den Wagen am Straßenrand.

„Etwas feiner hatte ich mir die Gegend schon vorgestellt“, meinte Rudi.

Wir stiegen aus und gingen auf den Eingang zu.

Die Stimmen der Jugendlichen, die zuvor durch die heruntergekurbelte Scheibe des Dienstwagens zu uns herüber gedrungen waren, verstummten jetzt.

Wir gingen an ihnen vorbei und betraten das Haus.

Der Aufzug war defekt. Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Treppe zu nehmen. Tyra Berentzens Wohnung lag im dritten Stock.

Wir klingelten.

Eine mir wohl bekannte junge Frau öffnete uns einen Spalt breit, ließ aber zunächst die Kette in der Halterung. Wie hätte ich sie auch vergessen können!

Sie trug Jeans und T-Shirt und war barfuß. Das lange blonde Haar trug sie offen.

Jacqueline Berentzen war eine außergewöhnlich attraktive Frau. Zumindest in diesem Punkt hatte Jimmy Talabani Geschmack bewiesen, wie ich zugestehen musste.

„Harry Kubinke, BKA. Sie werden sich an meinen Kollegen Rudi Meier und mich sicher erinnern.“

„Tut mir Leid, Herr Kubinke.“

„Aber...“

„Ich bin nicht Jacqueline Berentzen, sondern...“

„...Tyra?“, hakte ich nach.

„Ja. Haben Sie mich nicht angerufen?“

„Stimmt. Ihre Schwester ist eine wichtige Zeugin in einem Mordfall und hat angegeben, dass Sie unter Ihrer Adresse zu erreichen wäre.“

„Das ist auch der Fall.“

„Können wir einen Moment hereinkommen.“

„Jacqueline ist im Moment nicht da.“

„Wann kommt sie zurück?“

„Das hat sie nicht gesagt. Mein Gott, ich bin ihre Schwester, aber nicht ihr Kindermädchen.“

„Vielleicht hätten wir auch ein paar Fragen an Sie, Frau Berentzen“, mischte sich jetzt Rudi ein.

Die junge Frau schluckte und schwieg zunächst. Ich hatte den Eindruck, dass sie darüber nachdachte, wie sie uns am schnellsten abwimmeln konnte, aber ich hatte mich getäuscht. „Kann ich Ihren Ausweis mal sehen?“, erkundigte sie sich.

Ich reichte ihr meine ID-Card.

Die Tür schloss sich.

Fünf, sechs Sekunden lang geschah gar nichts.

Dann hörte ich, wie die Tür entriegelt wurde. Offenbar hatte die junge Frau einiges in den Bereich investiert, den man auch „passive Sicherheitstechnik“ nennt.

Schließlich war die Tür offen.

Jetzt sah ich sie in ihrer ganzen Schönheit.

Mein Gott, sieht sie ihrer Schwester ähnlich!, durchzuckte es mich. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen.

Ich blickte auf ihre nackten Füße. Ein Detail fiel mir auf. Die Nägel waren rot lackiert. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob das bei Jacqueline auch der Fall gewesen war. Als sie uns zum ersten Mal begegnet war, hatte sie offene Schuhe angehabt. Eigentlich hätten mir derart auffällig lackierte Fußnägel auffallen müssen!, dachte ich.

Immerhin gab es also ein Detail, das an den beiden Frauen nicht gleich war.

Sie bat uns herein.

„Sie sehen Ihrer Schwester wirklich sehr ähnlich“, gestand ich.

Ein verhaltenes Lächeln flog über ihr Gesicht. Mit einer grazil wirkenden Geste strich sie sich das Haar zurück und holte anschließend eine verirrte Strähne von der Stirn.

Selbst, was ihre Körpersprache anging, die Art sich zu bewegen und die Art, wie sie sich das Haar aus den Augen strich, glich sie ihrer Schwester bis auf jede Kleinigkeit.

„Sie sind nicht der Erste, der uns verwechselt, Herr...“

„Kubinke. Harry Kubinke“, wiederholte ich. „Aber Sie können mich ruhig Harry nennen.“

Sie lächelte.

„Harry...“

„Sie sind Zwillingsschwestern.“

„Ja. Eineiig, wie Sie sich denken können. Früher in der Schule haben wir damit viel Blödsinn gemacht!“

„Und jetzt?“

Sie lächelte etwas breiter. In ihren Augen blitzte es herausfordernd. „So was legt sich mit den Jahren, Harry!“

„Wenn Sie das sagen...“

„Meinen Sie nicht?“

„Kommt darauf an.“

Wir folgten ihr in die Wohnung. Im Wohnzimmer bot sie uns Platz an.

Sie selbst blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Jetzt sagen Sie mir schon, was Sie über meine Schwester wissen wollen.“

„Hat Sie Ihnen etwas über ihre Beziehung zu Jimmy Talabani erzählt?“, fragte ich.

„Nicht viel, um ehrlich zu sein, war es ziemlich überraschend für mich, dass sie bei ihm eingezogen ist und ihre Wohnung aufgegeben hat. Bis dahin hatte sie einen Job als Gogo-Tänzerin und sich mehr schlecht als recht durchgeschlagen – so wie wir alle.“

„Wo war sie Gogo-Tänzerin?“, hakte ich nach.

„In irgend so einem Glitzerschuppen. Dort hat sie auch Jimmy kennen gelernt, wie sie mir mal gesagt hat, aber mehr weiß ich nicht. Keine Ahnung, weswegen sie um die Geschichte immer so ein Geheimnis gemacht hat.“

„An den Namen dieser Discothek erinnern Sie sich nicht zufällig?

„STAR glaube ich.“

„Vielleicht auch STARFIRE?“

Sie nickte eifrig.

„Ja, genau so hieß der Laden: STARFIRE!“

„Fragt sich nur, was Jimmy Talabani in einem Glitzerladen zu suchen hatte, der unter Kontrolle von Darko Grusic steht!“, meinte Rudi.

„Ein Grund mehr, Herrn Grusic mal selbst dazu zu befragen.“

„Falls uns nicht irgendjemand einen Strich durch die Rechnung macht, in der Hoffnung, ein paar größere Fische an den Haken zu bekommen, Harry!“

Ich nickte knapp und konzentrierte mich wieder auf Tyra Berentzen.

„Sind Sie auch mal mit Ihrer Schwester ins STARFIRE gegangen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, das ist nicht meine Welt. Ich verdiene mein Geld in einem Stehcafé ein paar Blocks weiter – aber ich hätte einfach keine Lust dazu, halbnackt vor einer Horde angetrunkener Großkotze herumzutanzen, deren Nasen entweder vom übermäßigen Trinken oder vom Kokainschnupfen rot sind.“ Ihr Blick wurde sehr ernst. Die Augenbrauen zogen sich zusammen. In der Mitte ihrer Stirn erschien eine Falte. „Ist meine Schwester in irgendetwas verwickelt?“, fragte sie. „Seien Sie ehrlich zu mir, die ganze Geschichte stinkt mir nämlich langsam und ich glaube auch nicht, dass mir Jacqueline die volle Wahrheit gesagt hat!“

„Jimmy Talabani, der Mann in den sich Ihre Schwester so schnell verliebte, hatte unseren Erkenntnissen nach einen relativ hohen Rang in der Mafia. Eine Reihe von Männern, die auf der gleichen Rangstufe stehen wurde in jüngster Zeit ermordet und wir versuchen herauszufinden, wer dafür verantwortlich sein könnte. Da ist alles.“

Sie sah erst mich und dann Rudi an und ich hatte den Eindruck, dass sie mit sich rang, ob sie uns noch mehr erzählen sollte.

„Glauben Sie, dass für Jacqueline eine Gefahr besteht?“, fragte sie schließlich vorsichtig.

Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Jetzt hieß es, sich wie auf sehr dünnem Eis weiter vorwärts zu bewegen. Ich spürte, dass wir kurz dem Ziel waren und die junge Frau fast soweit hatten, dass sie uns etwas mehr erzählte, als ihrer Schwester vielleicht lieb war.

Aber mein Instinkt sagte mir, dass Jacquelines Rolle in dieser Sache wichtiger war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Mein anfänglicher Verdacht war von Anfang an richtig gewesen und vielleicht konnte mir ihre Schwester dabei helfen, mich zu bestätigen.

Wenn ich sensibel genug vorging, sodass sie sich nicht wieder in ihr Schneckenhaus zurückzog.

Rudi nickte mir zu. Damit signalisierte er: Mach du das.

Okay, dachte ich.

„Um das einzuschätzen müssten wir mehr wissen“, wich ich Jacquelines Frage zunächst einmal aus. „Aber Tatsache ist, dass sie sich im Zentrum eines Gangsterkrieges befindet und wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Vielleicht können sie mir sagen, auf welches Spiel sich Jacqueline da eingelassen hat. Sie war am Tatort, als der Mann, den sie angeblich liebte aus einem nahe gelegenen Gebäude von einem Scharfschützen abgeknallt wurde. Was würden Sie machen? Wahrscheinlich warten, bis die Polizei eintrifft.“

„Hat Sie das nicht getan?“

„Hat Sie Ihnen das erzählt?“

„Nein, sie hat nur wenige Details darüber von sich gegeben, das meiste weiß ich aus den Lokalnachrichten und die waren natürlich auch nicht sehr detailfreudig – aus fahndungstaktischen Gründen, wie es hieß. Deswegen habe ich mich, was Jacquelines Schweigsamkeit anging auch besonders gewundert.“ Sie zuckte ihre schmalen Schultern. „Ich dachte zunächst, dass sie vielleicht vom BKA die Order hat, nicht allzu redselig zu sein. Aber dann geschah etwas sehr Merkwürdiges.“

„Was?“

„Sie bekam Besuch von einem Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte.“

„Können Sie ihn beschreiben?“

„Grauhaarig, gut gekleidet. Mitte siebzig.“

Das konnte jedenfalls nicht Michael Rejnders sein, überlegte ich. Andererseits traute ich einem gewieften Vollprofi wie ihm zu, dass er sein Äußeres sehr stark veränderte, wenn es die Situation erforderte.

„Wann war das?“

„Gestern Abend. Dieser Mann hat Jacqueline Geld gegeben. Mehrere Bündel mit Geldscheinen. Wenn Sie mich fragen, dann schätze ich, dass es mindestens zehntausend Euro waren.“

„Wissen Sie, wofür Sie das Geld bekam?“

„Nein, keine Ahnung und sie ist meinen Fragen auch ausgewichen. Ich...“ Sie schluckte und atmete dann schwer. Es schien da etwas zu geben, was ihr noch schwer auf der Seele lastete.

„Sprechen Sie ruhig“, versuchte ich sie zu ermuntern. Aber offenbar hatte ich damit das Gegenteil erreicht.

Sie biss sich auf die Lippe. „Es ist nichts“, behauptete sie. „Ich habe Ihnen schon mehr gesagt, als gut ist. Schließlich hat Jacqueline mir eingeschärft mit niemandem zu reden, der sich nach ihr erkundigt.“

„Das BKA eingeschlossen?“

Die Antwort auf diese Frage blieb uns Tyra Berentzen schuldig. Sie sah auf die Uhr. „Ich muss jetzt gleich noch mal zur Arbeit. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden. Mein Chef hasst es, wenn ich unpünktlich bin – und ein kleines Kind, das Husten hat oder so etwas kann ich als Entschuldigung nicht vorweisen.“

Ich gab ihr meine Karte. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie uns jederzeit erreichen.“

„Danke.“

„Und sobald Ihre Schwester nach Hause kommt, sagen Sie mir bitte Bescheid.“

„Ja, natürlich.“

Sie würde es nicht tun. Das hatte ich im Gefühl.

Wir verabschiedeten uns und gingen zurück zum Wagen. Die Jugendlichen, die dort gewartet hatten, standen noch immer da herum.

Einer der Älteren unter ihnen, trat uns in den Weg. Er trug ein Baseball-Cap und weite Cargo-Hosen, die ihm fast bis in die Kniekehlen herunterhingen.

Wenigstens konnte er keine Karate-Tritte ausführen, solange er die Hose so tief trug.

Der Kerl rempelte mich mit voller Absicht an.

Ich schnellte zurück und konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. Rudis rechte Hand glitt zum Griff seiner SIG.

Aber noch ließ er die Waffe stecken.

Schließlich wollte er die Situation nicht unnötig eskalieren lassen.

Der junge Mann – ich schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre – hob die Hände.

„Hey, immer cool bleiben Mann! War ein Versehen!“

Die anderen Jugendlichen kamen jetzt dazu und bildeten einen Halbkreis.

„Ich würde sagen, es ist das Beste jeder von uns geht einfach seinen Weg“, sagte ich.

Der Kerl, der mich angerempelt hatte, deutete auf Rudi. „’ne coole Knarre hast du da! Zeig mal her!“

Ich zog meine ID-Card.

„BKA! Der Spaß ist jetzt zu Ende, Jungs!“

„Ich habe doch gleich gewusst, dass ihr hier nicht hergehört!“

„Was du nicht sagst.“

„Wir passen eben ein bisschen auf, wer hier so herumlungert. Ihr Bullen sagt doch immer, dass man in der Nachbarschaft die Augen aufhalten soll!“

„Na, wenigstens das scheint ihr mitgekriegt zu haben.“

Eine Gasse bildete sich. Rudi und ich gingen hindurch und erreichten wenig später den Wagen.

„Was glaubst du, was die mit uns gemacht hätten, wenn du Ihnen nicht die BKA-Marke unter die Nase gehalten hättest?“, fragte Rudi.

Ich zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich gar nichts. Da wollte doch jemand nur ein bisschen angeben.“

„Ich hoffe, du hast Recht.“

„Bestimmt.“

Wir stiegen ein.

Rudi setzte sich ans Steuer und startete. Unser nächstes Ziel war das Präsidium.

Im Rückspiegel sah ich noch, wie der Kerl mit der Mütze in seine Hosentasche griff und ein Handy ans Ohr nahm.

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