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Der Tempel der CHURCH OF JUDGEMENT war in einem Gebäude eines ehemaligen Industriebaus. Es gab hier außer Gebetsräumen vor allem ein Schulungszentrum für Prediger und ein Kongresszentrum. Ein Security Service sicherte den Eingang. Auf den Beistand des Herrn schien man sich allein nicht verlassen zu wollen.

Wir zeigten unsere Ausweise.

Schließlich gelangten wir in das Büro eines blassen, hageren Mannes mit hervorspringendem, v-förmigen Kinn und grauen, sehr buschigen Augenbrauen.

„Guten Tag, Gentlemen. Mein Name ist Hans-Walter Kendall, ich bin der Tempelvorsteher der CHURCH OF JUGDEMENT für Berlin. Was kann ich für Sie tun?“

„Harry Kubinke, BKA. Dies ist mein Kollege Rudi Meier. Wir suchen einen gewissen Sven Nolten, der in Ihrer Organisation eine prominente Rolle spielt.“

„Ich würde die Bezeichnung Kirche bevorzugen“, fiel mir Hans-Walter Kendall in scharfem Tonfall ins Wort. „Und was Herrn Nolten betrifft, so gibt es gewisse Differenzen zwischen ihm und der Hauptströmung unserer Gemeinde.“

„Er ist nach wie vor im Vorstand einer Stiftung tätig, die...“

„...volle Unabhängigkeit von unserer Kirche genießt“, fiel mir Kendall erneut ins Wort. Das schien eine unangenehme Angewohnheit von ihm zu sein.

Kendall beugte sich etwas vor, hatte die Hände auf den Schreibtisch gelegt und dort wie zum Gebet gefaltet.

Sein Blick wirkte so kalt wie seine eisgrauen Augen.

CHURCH OF JUGDEMENT – sein scheinbar alles durchdringender Blick schien zu dieser Bezeichnung sehr gut zu passen.

Schon eine einzige Musterung durch dieses Paar grauer Augen glich einem unabänderlichen Urteilsspruch, gegen den es keine Berufung geben konnte.

Dass Barmherzigkeit nicht unbedingt zu den Werten gehörte, die von der CHURCH OF JUGDEMENT betont wurden, schien dieses Gesicht eindrucksvoll zu illustrieren.

„Herr Kendall, es geht hier nicht um Spitzfindigkeiten Ihrer Organisationsstruktur. Das sind Dinge, mit denen sich die Steuerfahndung befassen kann, falls dazu irgendein Anlass bestehen sollte. Wir ermitteln in einer Reihe von Mordfällen an Personen, die als Spitzen des organisierten Verbrechens angesehen werden.“

„Dann sprechen Sie offenbar über vollstreckte Gerichtsurteile – nicht über Morde“, erklärt Kendall kühl. „Oder sehe ich das etwa falsch?“

„Unser Gesetz sagt dazu etwas anderes, Herr Kendall.“

„Die Gesetze des Menschen sind unvollkommen, Kommissar Kubinke. Unvollkommen und inkonsequent. Aber die Gerechtigkeit des Herrn ereilt schließlich jeden! Und es gibt keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen. Keine mildernden Umstände und Ausflüchte.“

Ich hatte keinerlei Lust, mich mit ihm auf eine Diskussion über Gott und Gerechtigkeit einzulassen.

Die Ansicht, dass es die Pflicht jedes einzelnen war, ein Werkzeug der Gerechtigkeit des Herrn zu werden, wie man das hier nannte, würde er kaum aufgeben. Ich konnte nur hoffen, dass er diesen Gedanken nie in die Tat umsetzte. Denn wenn das geschah, dann hatte er in mir sofort einen unerbittlichen Gegner. Das Recht schützte schließlich alle gleich und war kein Freibrief für selbstgerechte Eiferer.

„Herr Nolten hatte seit längerer Zeit keinen festen Wohnsitz mehr“, erklärte nun Rudi und ich war ihm dankbar dafür, dass er mich nun ablöste. Manchmal ist es einfach das beste, wenn man sich in einer Vernehmung abwechselt. „Wir wüssten ganz einfach gerne seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort. Dann können wir alles weitere mit ihm selbst besprechen.“

„Ich kann Ihnen im Moment nicht sagen, wo Herr Nolten ist“, erklärte Kendall nun ruhig und sehr viel weniger angespannt, als es dem bisherigen Verlauf des Gesprächs entsprach, davon abgesehen sprach er auch deutlich leiser als bisher.

„Gut“, sagt ich. „Wie ich Ihnen schon sagte, nehmen wir an, dass Herr Nolten der Komplize eines sehr gefährlichen Täters ist, der seine Opfer mit einem Scharfschützengewehr ermordet. Und wir gehen weiter davon aus, dass dieser Täter den Lehren Ihrer Kirche folgt und sich dazu ausersehen fühlt, auch weiterhin das zu vollstrecken, was er Gerechtigkeit nennt. Es wird sicher kein Problem sein, einen Durchsuchungsbeschluss für Ihr gesamtes Gemeindezentrum zu bekommen. Dann wird man hier alles auf den Kopf stellen, um Hinweise darauf zu finden, wo sich Sven Nolten aufhalten könnte.“

„Soweit unsere Innendienstler herausgefunden haben, ist die CHURCH OF JUDGEMENT ja im Besitz einiger Immobilien hier in Berlin“, ergänzte Rudi. „Vielleicht sollten wir vorschlagen, dass diese in eine solche Aktion mit einbezogen werden.“

„Mal ganz davon abgesehen, dass eines der Mordopfer – Herr Raimund Scirea – kurz vor einem Tod offenbar mit Bekehrungsschriften und Prospekten Ihrer Gemeinschaft geradezu postalisch überschüttet wurde“, fügte ich noch hinzu.

„Möglicherweise hatte dieser Herr Scirea ernsthaft erwogen, sein Leben vielleicht doch noch grundlegend zu ändern“, erwiderte Kendall.

„Man könnte darin aber auch eine Drohung sehen, was zumindest Scireas Tod mit Ihrer Vereinigung in Zusammenhang bringen würde.“

Kendall lächelte breit und kalt.

„Es fällt Ihnen anscheinend immer noch schwer, im Zusammenhang mit der CHURCH OF JUDGEMENT von einer Kirche anstatt von einer Vereinigung oder was auch immer Ihnen an Synonymen einfällt, zu sprechen, Kommissar Kubinke.“

„Und mir fällt es schwer zu glauben, dass es einen anderen Grund hat, dass Sie überhaupt keine Nachfragen zu Raimund Scirea stellen, als den, dass Sie genau wissen, wer er ist!“

Kendall schluckte. „Natürlich wissen wir, wer Raimund Scirea ist – jemand, den die Gerechtigkeit des Herrn seit langem hätte ereilen sollen.“

„Ach...“

„Ein Mann, der viele tausend Drogentote auf dem Gewissen hat, auch wenn er sicher meistens darauf geachtet hat, dass er sich nicht selbst die Hände schmutzig macht.

„Eine treffende Beschreibung.“

„Eigentlich sollten wir doch auf derselben Seite ein, Herr Kubinke, und die Tatsache begrüßen, dass sich die Rache des Herrn offenbar an ihm vollzogen hat!“

Ich schüttelte den Kopf.

Sehr entschieden.

„Ich glaube nicht, dass wir auf derselben Seite sind“, gab ich zurück.

„Wir führen Listen über sündige Personen, und denen lassen wir in der Tat vermehrt Informationsmaterial zukommen“, erklärte Hans-Walter Kendall. „Daran ist weder etwas Illegales noch dürfte sich daraus sonst irgendein Ermittlungsansatz gegen uns ergeben.“

„Wenn diejenigen, die auf diesen Listen stehen, plötzlich reihenweise Kugeln in den Kopf bekommen, vielleicht schon!“, erwiderte ich.

Unser Gegenüber sprang förmlich auf und hob die Hände – fast so, wie ein in flagranti ertappter Täter, der zu erkennen gibt, dass er sich der Polizei ergibt.

„Gut, ich will Ihnen ja gerne weiterhelfen“, versprach er daraufhin.

„Bitte, wir hören!“, gab ich zurück.

Er druckste etwas herum. „Das geht nicht so einfach. Ich muss mich erst bei bei unserem Zentralsekretariat vergewissern, dass ich in dieser Sache Handlungsfreiheit habe!“

„Der Tempelvorsteher von Berlin kann so etwas nicht allein entscheiden?“

„Ich bitte Sie einfach nur um einen Moment Geduld. Wenn Sie bitte so lange im Vorzimmer platznehmen würden. Man wird Ihnen etwas zu trinken anbieten.“

Wir ließen uns darauf ein. Während Kendall in seinem Büro fernmündlich mit dem so genannten Zentralsekretariat der CHURCH OF JUDGEMENT in den USA sprach, bot seine Sekretärin uns etwas zu trinken an.

Mineralwasser.

„Vielleicht haben Sie Tee oder Kaffee erwartet“, sagte sie uns bedauernd, „aber beides widerspricht unseren Nahrungsvorschriften. Wir sehen darin berauschende Getränke und zählen sie zusammen mit dem Alkohol und anderen Drogen zu den Dingen, die wir meiden.“

„Das Wasser schmeckt jedenfalls vorzüglich!“, meinte Rudi.

„Wir beziehen es aus einer gesegneten Quelle und vertreiben es weltweit“, erklärte uns die Sekretärin. „Wenn Sie wollen, nehmen wir Sie gerne in die Liste unserer Kunden auf.“

Es dauerte eine Viertelstunde, bis Hans-Walter Kendall uns wieder hereinrief.

„Ich hoffe, Sie haben alles in unserem Sinne klären können – denn ansonsten werden wir jetzt für eine Klärung sorgen“, eröffnete ich ihm.

Kendall sah ziemlich blass aus. „Also ich bin autorisiert, Ihnen folgendes zu sagen: Herr Sven Nolten ist nicht mehr für unsere Stiftung tätig. Der Grund dafür sind finanzielle Unregelmäßigkeiten. Eine Klage wegen Veruntreuung wird erwogen, aber andererseits ist die CHURCH OF JUDGEMENT nicht daran interessiert, auf diese Weise mit negativen Schlagzeilen in Verbindung gebracht zu werden.“

„Ich dachte, diese Stiftung ist vollkommen unabhängig von der CHURCH OF JUDGEMENT“, konnte ich mir eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.

„Der Informationsfluss scheint aber sehr reibungslos zu laufen!“, fügte Rudi hinzu.

Kendalls Gesicht wurde zu einer eisigen Maske. „Wie auch immer. Es gibt keinerlei Verbindungen mehr zwischen unserer Kirche,und dem Mann, den Sie suchen!“

Ich hob die Augenbrauen. „Das scheint Ihnen das Allerwichtigste zu sein, was?“

„Herr Nolten residiert zur Zeit noch in einer Wohnung, die die CHURCH OF JUDGEMENT normalerweise für Gäste und Referenten in ihrem Gemeindezentrum zur Verfügung stellt. Ich gebe Ihnen die Adresse. Außerdem liegen uns drei verschiedene Mobilfunknummern vor, die wir Ihnen ebenfalls mitteilen können. Ich fürchte allerdings, das ist dann alles, was ich für Sie tun kann.“

„Nicht ganz“, widersprach ich und legte Kendall eine Kopie des Führerscheinbildes von Benny Schmitt auf den Schreibtisch. „Wir suchen auch diesen Mann – und es besteht der Verdacht, dass er ebenfalls Mitglied Ihrer Kirche ist oder war.“

Kendall sah sich das Bild an und und sagte dann: „Bedaure, aber hier in unserem Berliner Tempel habe ich ihn nie gesehen.“

„Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie ersparen uns den Weg zu einem Richter und durchforsten selber Ihren Datenbestand nach einer Person, zu der dieses Foto passt und die vielleicht unter dem Namen Benny Schmitt, vielleicht aber auch unter einem ganz anderen Namen auftritt oder...“

„Oder was, Kommissar Kubinke? Wollen Sie mir jetzt drohen?“

„Oder wir beschlagnahmen Ihre Mitgliederdateien. Und zwar bundesweit. Macht ein bisschen Papierkrieg, aber den nehmen wir notfalls auf uns.“

Kendall schluckte. „Gut, ich werde tun, was ich kann.“

„Und Sie werden damit spätestens heute Abend fertig sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie gefunden haben, wonach wir suchen.“

Ich gab ihm meine Karte.

Wir notierten uns noch die Adresse von Sven Nolten und dessen Mobilfunknummern. Kaum waren wir zur Tür des Berliner Tempels der CHURCH OF JUDGEMENT heraus, da hatte ich auch schon mein eigenes Handy am Ohr, um mit Max Herter zu sprechen. Ich gab ihm die Nummern sofort durch, damit sie gepeilt werden konnten.

„Bei der Gelegenheit kann ich dich gleich über die neuesten Entwicklungen informieren“, sagte Max. „Auf Abdullah Al-Khalili ist geschossen worden. Er hatte wohl gerade zusammen mit den Captains seiner Familie eine kleine Konferenz abgehalten, um die – wie soll ich mich da ausdrücken? - vakanten Posten neu zu besetzen. Der Killer hat seine übliche Methode angewendet und von einem hohen Gebäude in der Umgebung aus gefeuert. Jürgen und Olli sind schon dort, um sich um alles zu kümmern.“

„Wenn es Benny Schmitt war, dann wird er wohl wieder eines seiner Patronenhülsenkreuze zurückgelassen haben!“, vermutete ich.

„Ich wollte nur, dass du auf dem letzten Stand der Dinge bist, Harry.“

„Danke, Max.“

„Wenn sich was Neues ergibt, melde ich mich wieder!“

„Okay!“

Ich beendete das Gespräch und steckte das Handy ein.

„Das Klang nach brisanten Neuigkeiten“, meinte Rudi, der natürlich nur die von mir gesprochene Hälfte des Gesprächs mitbekommen hatte.

„Kann man wohl sagen!“, gab ich zurück.

Wir stiegen in den Dienstwagen und noch während Rudi das Rotlicht auf das Dach setzte, begann ich ihm das Gespräch mit Max so knapp wie möglich zusammenzufassen.

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