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aa) „Konfliktsituationen“ bis zum Vertrag über die Europäische Union

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Die den meisten Mitgliedstaaten gemeinsamen „Konfliktsituationen“ zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Gemeinschaftsrecht – so etwa die Verletzung der Souveränität oder Eingriffe in die interne Organisation des Staates[48] – hat es auch in Griechenland seit dem Beitritt gegeben.[49] Solche Schwierigkeiten bzw. „Konfliktsituationen“ konnte die Lehre, ähnlich wie in anderen Mitgliedstaaten, bis zum Vertrag über die Europäische Union mit dem vorhandenen verfassungsrechtlichen Instrumentarium bewältigen, meistens mittels einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Verfassung oder unter Heranziehung des Prinzips der praktischen Konkordanz der einschlägigen Verfassungsbestimmungen.[50]

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Über diese allgemein bestehenden Berührungspunkte hinaus ergaben sich in Griechenland zusätzliche Schwierigkeiten, die mit Besonderheiten seiner Verfassung zusammenhängen. Als typisches Beispiel sei der in ihr garantierte Zugang zu den öffentlichen Ämtern bzw. zum Beamtentum nur für eigene Staatsbürger (Art. 4 Abs. 4 Verf.) genannt. Hervorzuheben ist, dass diese Vorschrift nach Art. 110 Abs. 1 Verf. von einer Verfassungsänderung ausgeschlossen ist. Eine zweite Regelung ist die Verfassungsvorschrift, die die Rückwirkung von Steuergesetzen nur für ein Jahr zulässt (Art. 78 Abs. 2 Verf.). Bekanntlich stellt die Rückwirkungsjudikatur des EuGH auf Vertrauensschutzerwägungen und die Erforderlichkeit der Rückwirkung, nicht aber auf eine absolute zeitliche Einschränkung der Rückwirkung ab.[51] Rechtsprechung und Lehre konnten bis jetzt die aus diesen beiden Verfassungsbestimmungen in der Praxis entstandenen Schwierigkeiten bzw. „Konfliktsituationen“ mit Lösungen bewältigen, die in der Regel auf einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Verfassung, weniger auf einer expliziten Anerkennung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung, beruhten. So wurde beispielsweise die Zulässigkeit des Zugangs von EG-Ausländern zu öffentlichen Ämtern damit begründet, dass das Gemeinschaftsrecht als Ganzes als eine der nach Art. 4 Abs. 4 Verf. „in speziellen Gesetzen geregelten Ausnahmen“ anzusehen sei.[52] Diese dogmatisch wenig überzeugende Begründung hat einen Teil des Schrifttums allerdings dazu veranlasst, über andere Auslegungsmöglichkeiten nachzudenken. Insbesondere wurde der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit den europarelevanten Vorschriften von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. begründet, die als Klausel für eine stillschweigende Modifizierung der Verfassung im Bereich des Gemeinschaftsrechts angesehen wurden.[53] Auch die Frage der rückwirkenden Entziehung von Steuervorteilen, die vom EuGH als gemeinschaftswidrige Beihilfe qualifiziert wurden,[54] konnte vom Staatsrat und vom höchsten Verwaltungsgericht durch eine europarechtskonforme Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmung gelöst werden. So hat der Staatsrat entschieden, dass die Rückforderung der gemeinschaftswidrigen Beihilfen nicht als rückwirkende Auferlegung von Steuern im Sinne von Art. 78 Abs. 2 Verf. anzusehen ist.[55] Damit konnte die Rückforderung auch Steuerbefreiungen erfassen, die lange vor der in Art. 78 Abs. 2 Verf. niedergelegten Jahresgrenze gewährt worden waren.

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