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2. Die Einbeziehung der EMRK in den nationalen Verfassungsraum

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Auch wenn die EMRK keinen Verfassungsrang besitzt, kann ihre Einbeziehung in den griechischen Verfassungsraum doch problemlos erfolgen. Auf der einen Seite erkennt die EMRK selbst, und zwar in Art. 53 (ex-Art. 60), ausdrücklich den „Anwendungs-Vorrang“ jeder (nationalen oder internationalen) Norm an, die größeren Schutz gewährleistet. Auf der anderen Seite sind Kollisionsfälle zwischen griechischer Verfassung und EMRK, d.h. Fälle, in denen die griechische Verfassung Regelungen vorsieht, die gegen EMRK-Bestimmungen verstoßen bzw. einen geringeren Schutz als die EMRK imperativ gebieten, kaum zu finden.[97] Außerdem ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass die griechische Verfassung die Erweiterung des von ihr gewährten Schutzes grundsätzlich nicht verbietet.

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Die wenigen potentiellen „Scheinkollisionen“ können mittels Auslegung beseitigt werden. Dabei ist es irrelevant, ob man die Grundlage für eine EMRK-konforme Auslegung in Art. 25 Abs. 1 Verf. sehen will, wonach die Rechte des Menschen als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft vom Staate gewährleistet werden und alle Staatsorgane verpflichtet sind, deren ungehinderte und effektive Ausübung sicherzustellen, oder, was vorzugswürdig ist, in der allgemeinen Klausel des Art. 2 Abs. 2 Verf., die nach dem in dem ersten Absatz garantierten Schutz der Menschenwürde die Bindung Griechenlands an das Völkerrecht proklamiert.

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Versucht man die Bereiche zu ermitteln, in denen die EMRK bzw. ihre Interpretation und Anwendung durch den EGMR einen größeren Schutz zu gewährleisten scheinen, dann kommt man zu folgenden Feststellungen:

Während Art. 11 EMRK die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Jedermannrechte garantiert, werden diese Grundrechte in Art. 11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 Verf. als Griechenrechte gewährleistet. Aus diesen Verfassungsbestimmungen kann allerdings kein zwingendes Verbot abgeleitet werden, Ausländern dieselben Rechte auf unterverfassungsrechtlicher Ebene zuzuerkennen.
Die von der ständigen Rechtsprechung vertretene sehr enge Auslegung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs, unter den nur dingliche Rechte, nicht hingegen Forderungen subsumiert werden,[98] schließt zunächst eine anders lautende Auslegung nicht aus und verbietet jedenfalls nicht die Gewährung eines weiteren Schutzes auf unterverfassungsrechtlicher Ebene, wie den des Art. 1 1. ZP-EMRK, der das „Vermögen“ insgesamt schützt.
Ebenso hindert die Weigerung der griechischen Gerichte, eine Entschädigung für enteignungsgleiche Eingriffe („de facto-Enteignung“ nach griechischer Terminologie) aufgrund der Verfassung anzuerkennen, nicht die Anerkennung dieser Entschädigung unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 1. ZP-EMRK und die diesbezügliche EGMR-Rechtsprechung.
Auch das Fehlen einer ausdrücklichen Gewährleistung des Erbrechts und des geistigen Eigentums in der griechischen Verfassung stellt kein Hindernis dar, die diesbezüglichen Garantien des 1. ZP-EMRK in der griechischen Verfassungsordnung gelten zu lassen.
Einen weiteren Schutz als die griechische Verfassung – insbesondere die in Art. 20 Verf. garantierten Rechte auf Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör, wie sie von der Rechtsprechung ausgelegt und angewandt und vom Gesetzgeber konkretisiert werden – gewährt hinsichtlich einer Reihe von Fragen die Bestimmung des Art. 6 EMRK, wie sie durch den EGMR interpretiert und angewandt wird.[99] Angesichts des Umstandes, dass die konkreten Ausformungen der obigen Verfassungsbestimmungen nicht imperativ geboten sind, sondern revisible Entscheidungen des Gesetzgebers oder Auslegungen der Rechtsprechung darstellen, handelt es sich hierbei nicht um Kollisionsfälle zwischen EMRK und griechischer Verfassung.
Im Schrifttum war ferner die Vereinbarkeit der in Art. 1 Abs. 2 der Verfassung von 1952 vorgesehenen privilegierten Behandlung der „vorherrschenden Religion“ – dort war nämlich ein Verbot des Proselytismus (d.h. von Bekehrungsversuchen durch den Gebrauch unlauterer Mittel) und jedes anderen Angriffs nur gegenüber der vorherrschenden Religion enthalten – mit der in der EMRK garantierten Religionsfreiheit (Art. 9) in Zweifel gezogen worden.[100] Auch wenn Art. 13 Abs. 2 Verf. das Verbot des Proselytismus gegenüber allen Religionen nunmehr unterschiedslos gewährleistet, könnte dieses Verbot aus der Sicht von Art. 9 EMRK fraglich erscheinen und würde einer Verhältnismäßigkeitskontrolle nicht ohne weiteres standhalten.[101] Die mehrfachen Verurteilungen Griechenlands durch den EGMR wegen einer Verletzung von Art. 9 EMRK[102] zeigen allerdings – und zwar nicht nur bezüglich des zuletzt genannten Verfassungsverbots, sondern allgemeiner –, dass aus der Sicht der EMRK nicht die Garantie der Religionsfreiheit in Art. 13 Verf. als solche problematisch ist, sondern ihre Ausgestaltung bzw. Konkretisierung durch den Gesetzgeber sowie ihre Handhabung durch die Verwaltung.[103]

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Über diese Fälle hinaus kann die EMRK angesichts ihres übergesetzlichen Ranges bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung der Ausübungsmodalitäten der in der Verfassung garantierten Grundrechte bzw. bei der Beurteilung von gesetzlichen Einschränkungen eine wichtige Rolle spielen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch ihre herausragende Bedeutung als Ergänzung bzw. Erweiterung des Verfassungsrechts im Bereich des Grundrechtsschutzes nicht zu leugnen. Die griechischen Gerichte sind außerdem bezüglich der EMRK ihrer sonst bei völkerrechtlichen Verträgen zu beobachtenden Praxis nicht gefolgt, deren Vorschriften für nicht unmittelbar anwendbar zu erklären und sie deshalb nicht anzuwenden, mit der Folge, dass der Einzelne ihre Verletzung nicht geltend machen kann.[104] Vielmehr sehen Rechtsprechung und Lehre eine gerichtliche Kontrolle der Gesetze anhand der EMRK als etwas Selbstverständliches an, obwohl eine solche Kontrolle in der Verfassung – im Gegensatz zur gerichtlichen Kontrolle der Gesetze anhand der Verfassung[105] – nicht vorgesehen ist. Die gerichtliche Überprüfung der Konventionsmäßigkeit von Gesetzen wird entweder mit einer Analogie der in der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Verfassungsmäßigkeitskontrolle oder mit dem übergesetzlichen Rang der EMRK schlechthin begründet bzw. gerechtfertigt.[106] Umstritten bleibt indes, ob diese Kontrolle auch von Amts wegen erfolgt.[107] Allerdings ist der Oberste Sondergerichtshof, der nach Art. 100 Abs. 4 Satz 2 Verf. allein die Zuständigkeit besitzt, ein für verfassungswidrig befundenes Gesetz für unwirksam zu erklären, nicht befugt, ein konventionswidriges Gesetz für nichtig zu erklären.[108]

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