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3. Die praktische Bedeutung der EMRK und des EGMR für das nationale Verfassungsrecht

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War die EMRK in der ersten Periode ihrer Geltung in der griechischen Rechtsordnung (1953–1969) für das griechische Verfassungsrecht ohne jegliche Bedeutung, hat sich diese Situation nach ihrer erneuten Ratifizierung nach der Wiederherstellung der Demokratie (1974) nicht schlagartig geändert. Bis zur Anerkennung der Zuständigkeit der EKMR, über Individualbeschwerden zu entscheiden (1985), aber auch danach ist sie von den griechischen Gerichten relativ wenig berücksichtigt worden. Die Gerichte haben in dieser Zeit zunächst nur zögernd auf die EMRK Bezug genommen, indem sie sie oft nur erwähnt haben, um sodann auf den Vorrang der Verfassung hinzuweisen. Bezeichnend für diese Zeit ist die Aussage eines Richters in den 1980er Jahren, dass in Griechenland die EMRK im Schatten der Verfassung lebt.[109] Von wenigen Ausnahmen abgesehen galt dies bis Mitte oder sogar Ende der 1990er Jahre.

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Eine Neujustierung der Haltung gegenüber EMRK und EGMR-Rechtsprechung scheint mit der Entscheidung 40/1998 des Areopags stattgefunden zu haben. Nach ständiger, wenn auch umstrittener[110] Rechtsprechung wird der Begriff „Eigentum“ sehr restriktiv ausgelegt: Nur dingliche Rechte sind vom verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff (Art. 17 Abs. 1 Verf.) erfasst. Unter Berufung auf den weiteren Schutz, den Art. 1 1. ZP-EMRK für das Vermögen insgesamt gewährt, ist der Areopag, das oberste Zivil- und Strafgericht (Kassationsgerichtshof), dazu übergegangen, einen weiteren Schutz nicht nur für Forderungen, sondern auch für alle „Rechte mit Vermögenscharakter“ sowie „erworbene wirtschaftliche Interessen“ zu gewähren.[111] Wie dieser Leitentscheidung des Areopags zu entnehmen ist, ist der Rechtsprechungswandel nicht nur vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 1. ZP-EMRK,[112] sondern auch von der weiten Auslegung des Vermögensbegriffs in der Rechtsprechung des EGMR inspiriert. Es bleibt abzuwarten – und dies ist angesichts der bevorstehenden Reformen auf dem Gebiet der Sozialversicherung von besonderer Bedeutung -, inwieweit sich der Areopag der Rechtsprechung des EGMR anschließen und auch öffentlich-rechtlichen Ansprüchen, insbesondere solchen im Bereich der Sozialversicherung, den weiteren Schutz von Art. 1 1. ZP-EMRK gewähren wird.[113]

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Über den Bereich des Eigentumsschutzes hinaus sind in der Praxis die Fälle eher selten, in denen EMRK-Vorschriften von der Rechtsprechung zu einer Absicherung bzw. Erweiterung des Anwendungsbereichs von Grundrechtsbestimmungen der Verfassung herangezogen wurden. Zu den wenigen Ausnahmen zählt die in Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährleistete Unschuldsvermutung, die dazu verwandt wird, die Anforderungen an die in Art. 93 Abs. 3 Verf. vorgeschriebene Begründungspflicht für Gerichtsentscheidungen im Hinblick auf freisprechende Entscheidungen zu senken.[114] Insgesamt spielt Art. 6 EMRK eine immer wichtigere Rolle in der Rechtsprechung griechischer Gerichte.

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Abschließend sei angemerkt, dass die ursprünglich sehr negative Haltung der griechischen Gerichte gegenüber der Einbeziehung der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung weniger auf eine „Treue“ zum Rang der Verfassung in der innerstaatlichen Normenhierarchie oder auch auf das Misstrauen gegen „fremdes“ Recht und entsprechende „nationale Gefühle“ zurückzuführen ist, sondern mehr auf mangelnden Kenntnissen der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung beruhte. Die jüngere Generation von Richtern und Anwälten scheint inzwischen mit dieser Materie vertraut zu sein. Dies erklärt nicht nur die häufigere Bezugnahme auf die EMRK in Gerichtsentscheidungen, sondern auch die Zunahme der „griechischen“ Individualbeschwerden beim EGMR.

Erster Teil Offene Staatlichkeit§ 16 Offene Staatlichkeit: Griechenland › IV. Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung

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