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IV. Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung

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Die griechische Verfassungslehre hat sich mit der Frage von verfassungsrechtlichen Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung relativ wenig befasst. Sie verfügt auch über keine in diese Richtung gehenden Erfahrungen aus der Praxis, da Griechenland in seiner Geschichte nie ein föderaler Staat oder Mitglied eines Staatenbundes gewesen ist. Dennoch wurden die Grenzen, die der Gewalt des Bundesstaates gegenüber derjenigen der Gliedstaaten gesetzt werden, von der Lehre als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Einschränkung der originären Gewalt in Erwägung gezogen, die zwangsläufig durch die Zuerkennung bzw. die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft entsteht[115] und die die Bedeutung der nationalen Verfassungen relativiert.

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Infolge der Diskussionen über die Zukunft Europas und den europäischen Verfassungsvertrag musste sich die Verfassungslehre in Griechenland, wie in den anderen Mitgliedstaaten auch, mit der Verfassungsentwicklung der Union und mit den Hindernissen auseinandersetzen, die seitens der verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten für die Vollendung des in Aussicht gestellten neuen europäischen Gebildes bestehen.

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Mit Blick auf den traditionellen Begriff der (formellen) Verfassung, wie dieser von der griechischen Lehre ausgearbeitet wurde (schriftliche Form und grundsätzlich[116] erhöhte Gesetzeskraft), wurde im Schrifttum bemerkt, dass ernste Zweifel daran bestehen, dass einige der Grundelemente dieses Begriffs – insbesondere der zumindest formell noch anerkannte höchste Rang der Verfassung in der Normenhierarchie und das damit verbundene besondere Verfassungsänderungsverfahren ebenso wie die gegenwärtig vorgesehene Ewigkeitsgarantie für einige Verfassungsbestimmungen[117] – bei einer wie auch immer gearteten Integration der griechischen Verfassung in eine europäische Verfassung aufrechterhalten bleiben könnten[118]. Demzufolge wurde im Anschluss an einen Teil des deutschen Schrifttums in Zweifel gezogen, ob die bestehenden nationalen Verfassungen überhaupt der richtige Ausgangspunkt zur Behandlung von rechtlichen Fragen einer vollständigen europäischen Integration sein können.[119] Diese Aussage trifft auch unter Berücksichtigung der neu eingeführten Auslegungserklärung zu Art. 28 Verf. weiterhin zu. Selbst wenn man diese als „carte blanche“, d.h. als eine Blanko-Ermächtigung, in Integrationsfragen für die Staatsorgane ansehen würde, wäre es schwierig, eine europäische Verfassung in ihren Anwendungsbereich fallen zu lassen, die die Existenz der griechischen Verfassung als solche in Frage stellen würde. Demgegenüber ist eine andere Literaturmeinung, die allerdings vor der gegenwärtigen europäischen Verfassungsentwicklung vertreten wurde, der Auffassung, dass dadurch, dass die griechische Verfassung die Einschränkung der nationalen Souveränität und die Anwendung von Rechtsnormen in der griechischen Rechtsordnung zulässt, die aus einer anderen Rechtsordnung stammen und gegebenenfalls gegen sie verstoßen, diese selbst die Grundlage für ihre eigene Überholung, Aufhebung oder Beseitigung bildet.[120]

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Auf der anderen Seite wurde von der griechischen Lehre vertreten, dass die Föderalismustheorie dem historischen Wesen der Union widerspreche. Die Alternative zwischen Bundesstaat und Staatenbund sei im Hinblick auf das Wesen und die institutionellen Bedürfnisse des Integrationsprozesses ungeeignet und geschichtlich falsch. Nach dieser Meinung bilde die Union nach den bevorstehenden (verfassungsrechtlichen) Entwicklungen ein „postföderales“ Gebilde.[121] Unter Hinweis auf die doppelte Natur der EU als Organisation, die sowohl auf dem Völkerrecht als auch auf dem Verfassungsrecht beruhe, eine Natur, die kein Übergangsstadium zwischen der Form einer internationalen Organisation und der eines Staats, sondern die Quintessenz der europäischen Integration darstelle, wird für das europäische Gebilde eine neue Kategorie vorgeschlagen, die ihre Charakteristika und ihren Namen der Antike entlehnt und als „Sympoliteia“[122] bezeichnet wird. Die „Sympoliteia“, die eine Union von Staaten ist, sollte auf der Basis eines Verfassungsvertrags gegründet werden.

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Abschließend ist zur Frage der verfassungsrechtlichen Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung zu bemerken, dass – wie auch immer man zu der Aussage stehen mag, „[i]st es nicht unser altes Problem, dass wir die Gemeinschaftsentwicklung durch die Brille des nationalen Verfassungsrechts betrachten und uns dann wundern, dass wir in Schwierigkeiten geraten?“[123] – man als Verfassungsrechtler die europäische Konstruktion weiterhin auch durch die Brille des nationalen Verfassungsrechts betrachten soll bzw. betrachten muss, zumindest solange die traditionelle Verfassungsstaatlichkeit weiter besteht. Auch wenn im Rahmen der Europäisierung die Begriffe „Souveränität“ und „Verfassung“ tiefgreifenden Änderungen ausgesetzt sind, sind die Staatsrechtslehrer gefordert, das Integrationsphänomen zwar nicht mit „verfassungsrechtlichem Patriotismus“, aber in jedem Falle mit „verfassungsrechtlicher Würde“ zu bewältigen.

Erster Teil Offene Staatlichkeit§ 16 Offene Staatlichkeit: Griechenland › Bibliographie

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