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2. Die „Inkorporation“ der EMRK in das britische Verfassungsrecht

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Das Vereinigte Königreich war die erste Nation, welche die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizierte.[94] Es hat sie jedoch nicht in nationales Recht transformiert. Aus britischer Perspektive war die EMRK zwar völkerrechtlich verbindlich, nicht aber innerhalb der nationalen Rechtsordnung. Dabei hatte ein britischer Jurist maßgeblichen Einfluss auf den Entwurf der Europäischen Konvention für Menschenrechte.[95] Sir Oscar Dowson, ehemaliger Rechtsberater im Home Office, trug einen der Hauptentwürfe in seiner Funktion als Mitglied im Expertenkomitee vor. Die Konferenz der Experten bestand aus hohen Beamten, die von ihren Regierungen im März 1950 instruiert waren, „die Grundlage für die politischen Entscheidungen des Ministerkomitees vorzubereiten“[96]. Der aus 25 Artikeln bestehende Entwurf des Vereinigten Königreiches wurde an das Ministerkomitee weitergeleitet.[97] Schon vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act haben die Gerichte die EMRK jedoch zur Interpretation unklarer Gesetze herangezogen und sie für die Fortentwicklung des Common Law fruchtbar gemacht.

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Die Labour Regierung war 1997 mit der Absicht angetreten, große verfassungsrechtliche Veränderungen im Vereinigten Königreich herbeizuführen. Im Oktober 1997 veröffentlichte der Innenminister in diesem Zusammenhang auch Pläne zur Inkorporierung der EMRK.[98] Ein Gesetzesentwurf – die Human Rights Bill (heute der Human Rights Act 1998) – wurde zusammen mit dem White Paper „Rights Brought Home“ bekannt gemacht. Alle Richter wurden vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act in Menschenrechten unterwiesen, was zu einer Verzögerung des Inkrafttretens des Gesetzes um zwei Jahre führte. Das White Paper führte aus, dass kein Minister die Verantwortung für den Human Rights Act haben würde. Dennoch ressortiert der Human Rights Act heute im Verantwortungsbereich des Department for Constitutional Affairs,[99] welchem der Lordkanzler Lord Falconer vorsteht.[100] Der Gesetzesentwurf sah ferner Derogationen und Vorbehalte von der Konvention und ihren Zusatzprotokollen vor.

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Das White Paper „Rights Brought Home“ hatte schließlich eine Menschenrechtskommission vorgeschlagen, dies allerdings nur im Sinne eines zukünftigen Vorhabens, nicht als eine Verpflichtung. Aus einem Gesetzesentwurf von März 2005 geht nun die Planung einer Equality and Human Rights Commission hervor.[101] Die Anmerkungen zur Vereinbarkeit mit dem Human Rights Act werden von dem Department for Constitutional Affairs dahingehend überarbeitet, dass sie den Abteilungen bei der Anfertigung von Verordnungen und Gesetzesentwürfen bei der Interpretation von im Zusammenhang mit der Konvention stehenden Fragen eine Hilfestellung bieten können.

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Der Human Rights Act 1998 „inkorporiert“ aber nicht die ganze Konvention, sondern nur die Rechte, die sich in Anhang 1 des Human Rights Act 1998 befinden. Das betrifft die Art. 2–12, 14–18 des 1. ZP-EMRK sowie die Art. 1 und 2 des 6. ZP-EMRK. Es ist daher streitig, ob der Ausdruck „inkorporieren“ überhaupt korrekt ist. Gemäß Abschnitt 6 des Human Rights Act 1998 darf eine Behörde (public authority) nicht auf eine Weise handeln, die gegen die im Human Rights Act 1998 aufgeführten Rechte der Konvention verstößt. Das nationale Gericht muss zudem die Rechtsprechung des EGMR „in Betracht ziehen“. Eine unmittelbare Bindung wird allerdings nicht angeordnet. Die „public authority“ wird in Abschnitt 6 weit definiert und schließt alle Vertreter von zentralen und örtlichen Regierungsstellen, einschließlich der Polizei, der Gerichte und Tribunale (gerichtsähnliche Institutionen) ein. Im Fall von Art. 8 und 10 der EMRK wurde dies damit begründet, dass die Menschenrechte unmittelbare Wirkung zwischen Privaten entfalten, hier zwischen der Presse und dem Bürger.[102] Die Definition der „public authority“ bezieht sich auch auf private Stellen, die hoheitliche Funktionen ausüben, was zu einigen Rechtsstreitigkeiten geführt hat. Sie umfasst allerdings nicht das Parlament. Minister müssen bei Gesetzen so genannte Vereinbarkeitsstatements im Parlament abgeben. Falls dies nicht möglich ist, müssen sie ihre Position vor dem Parlament zumindest erklären. Wohl aber ist das House of Lords in seiner richterlichen Funktion „public authority“. Das gestattet es Individuen und Organisationen, in jedem Prozess eine Verletzung der Menschenrechte geltend zu machen, unabhängig davon, ob sie Kläger oder Beklagte sind. Menschenrechtsverletzungen können vor jedem Gericht gerügt werden.

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Wenn sich ein Bürger gegen eine Menschenrechtsverletzung zur Wehr setzen möchte, kann er sich direkt an die Gerichte wenden. Soweit Menschenrechtsverletzungen im Judicial Review-Verfahren gerügt werden, muss der Kläger klagebefugt sein. Test für die Klagebefugnis ist die Frage, ob der Kläger „Opfer“ eines Menschenrechtsverstoßes geworden ist. Die Gerichte und Tribunale können alle „normalen“ Entscheidungen treffen, Gerichte auch auf Schadensersatz erkennen und einstweilige Verfügungen erlassen. Die genaue Qualifizierung des Schadensersatzanspruches ist streitig. Einerseits wird die Ansicht vertreten, es handele sich um einen deliktischen Anspruch; andererseits wird angenommen, es handele sich um einen öffentlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch. Diese Unterscheidung ist relevant, da die von den Richtern festzusetzende Art und Höhe des Schadensersatzanspruches von dieser Zuordnung abhängen kann.[103] Die Gewährung des Schadensersatzes steht im Ermessen des Gerichts und erfolgt nur, falls sie „notwendig“ ist. Die Gerichte haben somit die Befugnis zur Gewährung von Schadensersatz, sind aber nicht dazu verpflichtet. Die Gewährung von Schadensersatz wegen Verstoßes gegen Menschenrechte gemäß Absatz 8 des Human Rights Act 1998 sollte sich an den Grundsätzen, die vom EGMR entwickelt worden sind, orientieren, so dass der nationale Schadensersatz „äquivalent“ mit diesen ist. Das Gericht ist somit gehalten, die europäischen Grundsätze „in Betracht“ zu ziehen; es ist jedoch – anders als im Hinblick auf die aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Verpflichtungen[104] – nicht an sie gebunden.[105] Nur wenige Entscheidungen haben diese Frage bislang erörtert. Der Bericht der Law Commission aus dem Jahre 2000 stellt in detaillierter Weise die Schwierigkeiten dar, die sich aus den lückenhaften Grundsätzen des EGMR in dieser Frage für die englischen Gerichte ergeben.[106] Die zwei wichtigsten Entscheidungen sind die vom Court of Appeal getroffene Entscheidung in der Rs. Anufrijeva[107] und die Entscheidung des House of Lords in der Rs. Greenfield[108]. In der Rs. Anufrijeva waren die Kläger, aus dem Baltikum stammende Asylbewerber, der Ansicht, dass ihre Unterbringung in einer Notunterkunft unzureichend sei und dass ihre Anträge auf Asyl so langsam bearbeitet worden seien, dass hierin jeweils ein Verstoß gegen Art. 8 des Human Rights Act i.V.m. der EMRK liege, der zu einem Schadensersatzanspruch gemäß Abschnitt 8 des Human Rights Act berechtige. Die Anträge blieben erfolglos. Lord Woolf formulierte in Anufrijeva einige wichtige Grundsätze: Der Kläger sollte in die Lage versetzt werden, in der er sich vor dem Menschenrechtsverstoß befunden habe, die Rechtsprechung des EGMR sei in der Frage des Schadensersatzes für immaterielle Rechtsverletzungen nicht beständig, Schadensersatz für prozessuale Rechtsverletzungen sei selten, und die Schwere der Rechtsverletzung im Einzelfall müsse in die Erwägungen einbezogen werden. In der Rs. Greenfield ging es ursprünglich um den Schadensersatzanspruch eines Inhaftierten, der der Ansicht war, dass die wegen Verstoßes gegen die Anstaltsordnung angeordnete Haftverlängerung nicht in Einklang mit den Anforderungen des Art. 6 des Human Rights Act i.V.m. der EMRK erfolgt sei. Das House of Lords hatte nur noch über den Schadensersatzanspruch zu befinden. Lord Bingham argumentierte, dass der Schadensersatzanspruch gemäß Abschnitt 8 des Human Rights Act nicht im Deliktsrecht anzusiedeln sei. Sein Zweck sei weitergehend und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vergleichen.[109] Es wird angenommen,[110] dass dies die Höhe des Schadensersatzes begrenzen wird. Menschenrechtsverstöße sind jedoch nicht zwingend Straftaten.

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Der Human Rights Act 1998 erlaubt es den Gerichten nicht, nationales Recht außer Kraft zu setzen. Die höheren Gerichte können eine so genannte Declaration of Incompatibility (Unvereinbarkeitserklärung) gemäß Abschnitt 4 abgeben, die in zweifacher Hinsicht Wirkungen entfaltet: Zum einen erregen solche Erklärungen das öffentliche Interesse und drängen die Regierung zu einer Änderung der Rechtslage. Zum anderen versuchen die Gerichte, solche Erklärungen zu vermeiden und die Gesetze menschenrechtskonform auszulegen. Nur die höheren Gerichte können eine solche Erklärung abgeben. Das sind der High Court, der Court of Appeal und das House of Lords. Die unteren Gerichte müssen zwar Gesetze, soweit dies möglich ist, menschenrechtskonform auslegen; County Courts, Tribunals, der Crown Court oder Magistrates Courts können jedoch keine Unvereinbarkeitserklärung abgeben. Im Falle einer Unvereinbarkeit müssen sie das britische Recht anwenden.[111]

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Im Fall Gahaidan v. Mendoza stellte Lord Steyn fest, dass es bislang fünfzehn solcher Erklärungen gegeben hat, von denen fünf von höheren Gerichten aufgehoben worden seien.[112] Einer der wichtigsten Fälle war R (Alconbury Developments Ltd) v. Secretary of State for Transport, the Environment and the Regions.[113] In diesem Fall hob das House of Lords die Unvereinbarkeitserklärung des Divisional Court bezüglich einer Unvereinbarkeit des Bauplanungsrechts mit Art. 6 der Konvention auf und entschied, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten im Judicial Review-Verfahren ausreichend seien, um den Verstoß gegen Art. 6 EMRK zu heilen. Darüber hinaus sei der Secretary of State, der die Planungsentscheidung in bestimmten Fällen selbst trifft, dem Parlament gegenüber verantwortlich. In Wilson v. First County Trust Ltd (no. 2)[114] entschied das House of Lords, dass entgegen dem Urteil des Court of Appeal Abschnitte des Consumer Credit Act 1974 nicht mit Art. 6 unvereinbar waren. R (H) v. Mental Health Review Tribunal[115] bezog sich auf die teilweise Unvereinbarkeit des Mental Health Act 1983 mit Art. 5 Abs. 1 und 4 der EMRK. Problematisch war hier die Beweislastverteilung zu Lasten des Patienten, welcher laut Gesetz das Nichtmehrvorliegen der Einweisungsbedingungen darzulegen hatte. Das Gesetz wurde entsprechend abgeändert und betroffene Patienten erhielten Schadensersatz. In International Transport Roth GmbH v. Secretary of State for the Home Department[116] wandten sich die Kläger, 50 Lastwagenfahrer und Speditionen, gegen die Auferlegung von Strafen gemäß dem Immigration and Asylum Act 1999. Sie hatten, ohne davon Kenntnis zu haben, illegale Einwanderer nach Großbritannien mitgenommen und waren zu Geldstrafen verurteilt worden. Dagegen brachten sie vor, dass das Gesetz gegen das Recht auf Eigentum und das Recht auf rechtliches Gehör verstoße, denn es schrieb vor, dass die Geldstrafe mit der Entdeckung der Einwanderer erhoben werden müsse, und somit keine Anhörung stattzufinden habe, von der Möglichkeit, einen Dolmetscher zuzuziehen, ganz zu schweigen. Das House of Lords entschied, dass das Gesetz nicht auslegungsfähig sei, und dass es unverhältnismäßig sei, Geldstrafen aufzuerlegen, ohne die Schuld des Fahrers zu berücksichtigen. Der Immigration and Asylum Act 1999 wurde dementsprechend geändert (jetzt Nationality, Immigration and Asylum Act 2002).

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Zu diesem früheren Fall muss die wohl wichtigste Unvereinbarkeitserklärung bezüglich des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 gezählt werden. Hier ging es um die Inhaftierung von Ausländern, die ohne Gerichtsverhandlung gemäß den Bestimmungen des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 vom Secretary of State als verdächtige Terroristen benannt werden.[117] Das Gesetz hatte dem Innenminister die Befugnis eingeräumt, Verdächtige auf unbestimmte Zeit zu internieren.[118] Der Attorney General verteidigte die Regierung dahingehend, dass die Richter gegen den Willen einer demokratischen Regierung gehandelt hätten. Lord Bingham argumentierte dagegen, dass der Human Rights Act 1998 den Gerichten ein genau festgelegtes, demokratisches Mandat zugewiesen habe.[119] Die Entscheidung ist verfassungsrechtlich insoweit bedeutsam, als es seit Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 das erste Mal war, dass ein englisches Gericht ein Gesetz, welches der Exekutive so umfangreiche Befugnisse einräumt, für menschenrechtswidrig erklärte.[120] Bemerkenswert ist auch, dass das Gericht erstmals in einer Besetzung mit neun Richtern statt in der Besetzung mit fünf Richtern entschied. Mit einer Mehrheit von acht zu einer Stimme befand das House of Lords, dass der betreffende Abschnitt des Gesetzes nicht mit Art. 5 und 14 der EMRK vereinbar sei. Während des Gesetzgebungsverfahrens hatte die Regierung bereits erkannt, dass diese Maßnahmen nicht mit Art. 5 der EMRK übereinstimmen würden und derogierte insoweit gemäß Art. 15 die Konvention. Fraglich war jedoch, ob tatsächlich eine Notstandssituation vorlag, die eine solche Derogation rechtfertigte. Die Law Lords entschieden, dass diese Frage politischer Natur sei und die Gerichte in dieser Hinsicht nicht kompetent seien. Die zweite Frage bezog sich jedoch auf die Verhältnismäßigkeit der Derogation von Art. 5, die nur ausländische Verdächtige, die nicht deportiert werden konnten, betraf. Sie erachtete das House of Lords als eine Rechtsfrage und entschied, dass der Innenminister weniger einschneidende Maßnahmen als die Internierung der Verdächtigen hätte in Betracht ziehen müssen, die Überwachung etwa, und dass das Gesetz somit unverhältnismäßig sei. Auch sei die Unterscheidung zwischen ausländischen und britischen Verdächtigen diskriminierend und verstoße gegen Art. 14 EMRK. Seit den Londoner Terroranschlägen vom 7. Juli 2005 wird die Haltung der britischen höchsten Richter in der Belmarsh-Entscheidung kontroverser denn je bewertet. Einerseits wird befürchtet, dass die Inhaftierung von zehn ausländischen Verdächtigen als Vorbereitung zu deren Ausweisung ein Rückschritt in Bezug auf die in der Belmarsh-Entscheidung hochgehaltenen Freiheitsrechte sei;[121] andererseits warnt die konservative Presse davor, dass sich die Judikative nicht zu sehr in politische Fragen einmischen solle, wenn es um die nationale Sicherheit gehe.[122]

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Die geplanten Gesetzesvorhaben erfordern eine behutsame Balance zwischen Freiheit, Sicherheit und der Rolle des Staates. Der Innenminister hat bereits verschärfte administrative Maßnahmen verkündet, die Ausweisungen und Einreiseverbote für unerwünschte Ausländer erleichtern. So sind Abkommen mit vorwiegend arabischen Staaten geplant, die mit Blick auf Art. 3 EMRK sicherstellen sollen, dass Ausgewiesenen keine Folter droht. Diesbezüglich wird jedoch bereits befürchtet, dass solche Abkommen ohne die Überwachung durch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International wirkungslos seien.[123] Premierminister Tony Blair verkündete weitere neue Gesetzesvorschläge und eine eventuelle Änderung des Human Rights Act 1998.[124] Aufgrund der konkret gewordenen Bedrohung durch den totalitären Islamismus ist die vom Parlament geforderte Herstellung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit noch schwieriger geworden.

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Das Belmarsh-Urteil hatte praktische Konsequenzen, die in der Verabschiedung des neuen Prevention of Terrorism Act im März 2005 kulminierten, welcher einen Teil des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 ersetzt. Darüber hinaus verdeutlicht der Fall, dass verfassungsrechtliche Fragen durch die Inkorporierung der Menschenrechte und die Einbeziehung der Gerichte nuancierter und komplizierter geworden sind.[125] Die Belmarsh-Entscheidung hat fundamentale Fragen in Bezug auf die Gewaltenteilung und den Schutz von Menschenrechten in Zeiten der Bedrohung aufgeworfen. Kritisiert wurde zum Beispiel die untergeordnete Rolle des Parlamentes in der Frage der Derogation. Obwohl der Innenminister dem Parlament noch Mitte Oktober 2001 versichert hatte, dass keine „unmittelbaren Beweise für eine besondere Bedrohung des Vereinigten Königreiches vorlagen“[126], benachrichtigte er wenig später den Europarat von der geplanten Derogation.[127]

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Durch den Human Rights Act 1998 wurde formell-rechtlich gesehen kein Verfassungsrecht geschaffen. Wie bereits ausgeführt, wurde den Gerichten jedoch eine wichtige Rolle bei der Überprüfung von Gesetzesrecht in Bezug auf die Vereinbarkeit mit Konventionsrechten übertragen. Gemäß Abschnitt 3 werden Gesetze so ausgelegt, dass sie, „soweit dies möglich ist“, mit der Konvention übereinstimmen. Wenn die Vereinbarkeit nicht zu erreichen ist, dann kann keine Interpretation vorgenommen werden. Der Zweck eines Gesetzes darf nicht verletzt werden. Falls jedoch zwei Interpretationen möglich sind, muss die konventionskonforme Auslegung gewählt werden. Diese Auslegungsregel, die sich auf vergangene und zukünftige Gesetze bezieht, ist mit enormer Flexibilität angewandt worden.[128] Die Regierung wollte den Gerichten aber keine Verwerfungskompetenz einräumen, weil dies dem Prinzip der Parlamentssouveränität entgegengestanden hätte.

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Den Gerichten die Kompetenz zu verleihen, Gesetze außer Kraft zu setzen, würde den Richtern eine Kompetenz über die Entscheidungen des Parlaments geben, die unter den heutigen verfassungsrechtlichen Bedingungen nicht möglich ist. Eine solche Kompetenz würde die Richterschaft mit Wahrscheinlichkeit in große Konflikte mit dem Parlament geraten lassen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Richterschaft dies wünscht, oder dass dies ein Wunsch der Öffentlichkeit wäre. Die gegenwärtige Regierung hat keine Befugnis, ein solches politisches Mandat zu gewähren.[129]

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Der Human Rights Act sieht in Abschnitt 10 und Anhang 2 jedoch ein Schnellverfahren vor, in dem durch delegierte Gesetzgebung, die von beiden Kammern im Parlament genehmigt wird, die Gesetze so abgeändert werden, dass sie konventionskonform werden. Es muss jedoch angemerkt werden, dass eine Unvereinbarkeitserklärung für die Parteien eines Rechtsstreits nicht bindend ist.[130] So wird die Souveränität des Parlaments erhalten. Die Gesetze des Schottischen Parlaments müssen mit der Konvention in Einklang stehen. Streitigkeiten werden an das Judicial Committee des Privy Council weitergeleitet, soweit schottische Gerichte den Streit nicht beigelegt haben. Gesetzesentwürfe des Schottischen Parlaments können zur Überprüfung der Vereinbarkeit mit der Konvention oder EU-Recht an den Privy Council weitergeleitet werden.

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Da England über kein Verfassungsgericht verfügt, sah es die Regierung als wichtig an, dass die Konventionsrechte umfassend und unmittelbar von allen Gerichten herangezogen werden können und die Rüge ihrer Verletzung nicht „auf eine Art Verfassungsgericht beschränkt blieb“[131]. Allerdings ist die Modernisierung der britischen Richterschaft und der traditionellen Rolle des Lordkanzlers seit Jahren sehr eingehend diskutiert worden.[132] Der Constitutional Reform Act 2005 beabsichtigt, die zwölf Law Lords, die im Moment im Appellate Committee des House of Lords sitzen, in einen neuen „Supreme Court“ zu überführen.[133] Dieser Teil des Constitutional Reform Act 2005 ist noch nicht in Kraft, da der neue Sitz für den Supreme Court, die Middlesex Guildhall, erst im Jahre 2008 bezugsfähig sein wird. Darüber hinaus sieht das Gesetz Reformen für die Richterwahl durch die Einsetzung eines Richterwahlausschusses und die Modizifierung der Position des Lordkanzlers vor. Vorgesehen ist weiterhin eine Reform des 400 Jahre alten Auswahlsystems für die Anwaltschaft (Queen’s Counsel). Geplant ist ein Bewertungssystem, welches den informalen Vorgang des „sounding out“, einer Art geheimen Diskussion von potentiellen Kandidaten für die Richterbank, ersetzen soll.[134] Die Pläne für die Schaffung eines Supreme Court sehen den Zusammenschluss des Appellate Committee des House of Lords und des Judicial Committee des Privy Council vor.[135] Ersteres ist momentan die letzte Instanz für die Gerichte in England, Wales und Nordirland und für Zivilrechtsfälle in Schottland. Der Privy Council ist ein Relikt der königlichen Prärogative und für Fälle aus Übersee und Fälle, die sich mit Dezentralisierungsfragen befassen, zuständig. Der neue Supreme Court wird von der Rechtsetzungsbefugnis des House of Lords getrennt sein und in ein anderes Gebäude ziehen.

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Es gibt allerdings nicht allzu viel Unterstützung für den Vorschlag zur Errichtung eines neuen Supreme Court. Die Hälfte der Law Lords ist dagegen, hat die Vorschläge als „schädlich“ und „unnütz“ bezeichnet und hält den Kostenaufwand für unverhältnismäßig.[136] Andere sind der Meinung, dass die Reformen nicht weit genug gehen.[137] Der neue Supreme Court werde keine Kompetenz zur Annullierung von Gesetzen erhalten, so dass Lord Woolf, der Lord Chief Justice of England and Wales, befürchtete, dass „among the Supreme Courts of the world, our Supreme Court will, because of its more limited role, be a poor relative. We will be exchanging a first class final court of Appeal for a second class Supreme Court“[138]. Ferner machte er darauf aufmerksam, dass die Flexibilität der traditionellen britischen Verfassung erhebliche Nachteile zeitigt: „We have never had the protection that a written constitution can provide for institutions that have a fundamental role to play in society“[139]. Lord Woolf gehört zu den prominentesten Befürwortern einer geschriebenen Verfassung, um die britische Verfassung vor weiteren rasanten Veränderungen zu bewahren.[140]

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Der offenkundige Trend zu einer stärkeren Verrechtlichung der Verfassung ist zum Teil auf den Druck zurückzuführen, der vom EGMR auf das Vereinigte Königreich ausgeübt worden ist, insbesondere basierend auf Art. 6 EMRK. In McGonnell v. UK[141] wurde entschieden, dass die Position des Deputy Bailiff of Guernsey mit Art. 6 EMRK inkompatibel war, da er als Richter und als Präsident des Parlaments tätig war, welches das fragliche Gesetz beschlossen hatte. Im Fall Starrs v. Ruxton[142] entschied der High Court of Justiciary, dass die Position des Temporary Sheriff (Richter in Schottland, der von der Exekutive auf Zeit ernannt wird), nicht dem Kriterium der Unabhängigkeit im Sinne von Art. 6 der Konvention entsprach. Bemerkenswert ist ferner, dass der britische Verfassungswandel von einem zunehmenden Interesse an anderen europäischen Rechtsordnungen begleitet ist.[143] Das Consultation Paper von 2003 verdeutlichte jedoch, dass das neue höchste Gericht nicht mit dem US Supreme Court oder dem deutschen Bundesverfassungsgericht vergleichbar sein soll.[144] Der logische Schritt zum Aufbau eines Verfassungsgerichts wäre sicher die Akzeptanz einer geschriebenen Verfassung und deren Anerkennung als höherrangiges Recht. Anders als in der deutschen Verfassungsgeschichte ist jedoch das Wachstum der englischen Verfassung immer organisch gewesen.[145] Das Vereinigte Königreich wird deshalb auch insoweit seinen eigenen Weg gehen. Trotz einiger Unzufriedenheit mit dem Gesetz bezüglich der kaum veränderten Kompetenzen des neuen Gerichts ist die Einwirkung einer solchen Reform auf den altehrwürdigen Teil der Verfassung des Vereinigten Königreiches nicht zu unterschätzen.

Handbuch Ius Publicum Europaeum

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