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c) Reaktion der Gerichte

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Die Gerichte haben für den Fall eines Konfliktes zwischen nationalem und unmittelbar wirksamem Gemeinschaftsrecht entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht vorrangig ist. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist damit heute allgemein anerkannt. Darüber hinaus haben die Gerichte mittlerweile entschieden, dass es eine Interpretation von nationalen Vorschriften nach Maßgabe nicht unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts gibt. Wie bereits angedeutet, führte die traditionelle Auffassung von der Doktrin der Parlamentssouveränität zu Spannungen zwischen dem Recht des Vereinigten Königreiches und dem Gemeinschaftsrecht.[40] Besondere Schwierigkeiten bereitete dabei Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act 1972, in dem es heißt: „[Z]usätzlich zu den in diesem Teil des European Communities Act 1972 genannten Gesetzen ist jedes bereits wirksame oder zukünftige Gesetz im Einklange mit den diesem Abschnitt vorhergehenden Vorschriften auszulegen.“ Die Gerichte haben diesen Abschnitt als Auslegungsregel angewandt. In Macarthys Ltd v. Smith[41] etwa führte Lord Denning aus, dass für den Fall, dass eine dem Gemeinschaftsrecht widersprechende Vorschrift des englischen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts ausgelegt werden könne, die Gerichte diese Auslegung vornehmen sollten. Die Besonderheit an dieser Entscheidung war, dass Lord Denning die Bindung an den European Communities Act 1972 betonte und gleichzeitig einen grundsätzlichen Aspekt der Parlamentssouveränität, die Doktrin des implied repeal, modifizierte. In Garland v. British Rail Engineering Ltd[42] legte das House of Lords die Frage der Interpretation von Art. 119 EWGV sogar dem EuGH vor. Obwohl Lord Diplock in Garland die von Lord Denning angewandte Methode der europarechtskonformen Interpretation weiterentwickelte, ließ er die Frage offen, ob die Gerichte im Falle einer gemeinschaftsrechtswidrigen Vorschrift des nationalen Rechts letzterer den Vorrang einräumen sollen.[43] Bis zu einer Antwort der britischen Gerichte sollten noch einige Jahre vergehen.

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Weitere Schwierigkeiten traten auf, nachdem der EuGH in der Rs. von Colson[44] entschied, dass nationale Gerichte auch nicht unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht beachten müssen. Die Klägerin im Fall Duke v. GEC Reliance Ltd[45] war der Ansicht, dass der Sex Discrimination Act 1975 mit der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 unvereinbar sei. Lord Templemans Ausführungen verdeutlichen die Problematik, wenn er ausführte, dass das Parlament bei der Verabschiedung des Sex Discrimination Act 1975 nicht beabsichtigt hatte, die Gleichbehandlungsrichtlinie von 1976 zu berücksichtigen. Seiner Meinung nach berechtige Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act 1972 die Gerichte nicht dazu, die Bedeutung eines britischen Gesetzes aufgrund einer Richtlinie, die keine unmittelbare Wirkung zwischen Individuen habe, umzuschreiben.[46] In Webb v. EMO[47] ging es ebenfalls um einen Konflikt zwischen Vorschriften des Sex Discrimination Act 1975 und der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207. Lord Keith führte diesmal aus, dass das britische Gesetz im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht auszulegen sei.

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Die Akzeptanz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wurde von Lord Bridge im Fall Factortame[48] erklärt. Die Antragsteller waren nach britischem Recht registrierte Unternehmen. Die Direktoren und die meisten der Aktionäre besaßen dagegen die spanische Staatsbürgerschaft. Die Unternehmen waren gemäß dem Merchant Shipping Act 1894 als britische Unternehmen registriert. Als das Gesetz im Jahre 1988 geändert wurde, scheiterte die weitere Registrierung der meisten dieser Unternehmen an den Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts- und Wohnsitzanforderungen an das leitende Personal. Sie erhoben Klage und trugen vor, dass Teile des Merchant Shipping Act 1988 mit den Art. 43, 48 und 294 EG unvereinbar seien. Eine Frage betraf zunächst die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz in Gestalt der Aussetzung der Anwendung von nationalem Recht während der Anhängigkeit des Falls beim EuGH. In R v. Secretary of State for Transport ex p Factortame No 1[49] waren die Law Lords wegen des Prinzips der Parlamentssouveränität nicht bereit, eine solche Anordnung zu treffen.[50] Als der Fall nach dem Vorlageverfahren gemäß Art. 234 EG vom EuGH zurückverwiesen wurde,[51] entschied das House of Lords, dass es keine Wahl habe und das Parlamentsgesetz, das angeblich gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, nicht anwenden könne.[52] Nachdem der Europäische Gerichtshof in einem weiteren Verfahren einen Gemeinschaftsrechtsverstoß festgestellt hatte,[53] wurden die Vorschriften des Gesetzes vom House of Lords für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt[54]. Dies war das erste Mal, dass ein Gesetz von den Gerichten wegen seiner Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nicht angewendet wurde, was wohl die wichtigste Modifikation der Verfassung seit dem Case Law des 17. Jahrhunderts darstellt. Denn die Souveränität des Parlaments wurde damit ernsthaft beschnitten.[55] Im Fall Equal Opportunities Commission v. Secretary of State for Employment[56] diente Factortame sodann als Präzedenzfall, und das House of Lords entschied ohne Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, dass Teile des Employment Protection (Consolidation) Act 1978 gemeinschaftsrechtswidrig waren.

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Die Auswirkungen der Factortame-Entscheidung auf die Doktrin der Parlamentssouveränität sind ausführlich diskutiert worden.[57] Die Entscheidung verdeutlicht darüber hinaus, dass die traditionelle Doktrin des implied repeal (stillschweigender Widerruf) im europarechtlichen Zusammenhang keine Anwendung mehr findet. Sollte das Parlament dennoch beabsichtigen, von einer europarechtlichen Verpflichtung abzuweichen, so muss dies durch eine explizite Regelung geschehen. Wie die Reaktion der Gerichte auf eine dermaßen ausdrückliche Abweichung von europarechtlichen Vorgaben aussehen würde, ist allerdings ungewiss und hängt letztlich von der verfassungsrechtlichen Verortung der Kompetenz-Kompetenz ab.[58]

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Lord Bridges Ansatz in Factortame kann methodisch durchaus als Gesetzesauslegung, hier des European Communities Act 1972, qualifiziert werden. Demnach sind abweichende nationale Vorschriften im Sinne des European Communities Act auszulegen oder nicht anwendbar, so wie es Abschnitt 2 Abs. 4 vorschreibt. Die Doktrin der Parlamentssouveränität bleibt damit intakt, und dem Parlament verbleibt theoretisch die gesetzgeberische Möglichkeit, ausdrücklich gegen Europarecht zu verstoßen. Diesem Ansatz ist entgegengehalten worden, dass Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act 1972 ausgesprochen schwierig zu verstehen[59] und eine Auslegung nicht immer möglich sei, ohne die Bedeutung des zu interpretierenden Gesetzes völlig zu entfremden. Es ist bezweifelt worden, dass die Vorschrift alle potentiellen Kollisionen vorhergesehen hat.[60]

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Lord Bridges Argumente basieren darüber hinaus auf Prinzipien, die sich aus der Mitgliedschaft in der EU ergeben: „If the supremacy within the EC of Community law over the national law of member states was not always inherent in the EEC Treaty, it was certainly well established in the jurisprudence of the Court of Justice long before the UK joined the Community [...] whatever limitation of its sovereignty Parliament accepted when it enacted the European Communities Act 1972 was entirely voluntary. Under the terms of the 1972 Act it has always been clear that it was the duty of a UK court, when delivering final judgment, to override any rule of national law found to be in conflict with any directly enforceable rule of Community law. Similarly, when decisions of the ECJ have exposed areas of UK statute law which failed to implement Council directives, Parliament has always loyally accepted the obligation to make appropriate and prompt amendments.“[61] Die Akzeptanz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ist somit zweifelsohne durch das höchste Gericht bestätigt worden.

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Im Fall Factortame V entschied das House of Lords schließlich die Frage der Staatshaftung, die auf einen Verstoß des Merchant Shipping Act 1988 gegen europarechtliche Vorschriften gestützt wurde.[62] Das House of Lords stellte insoweit fest, dass die britische Regierung der Auffassung der EU-Kommission seinerzeit nicht gefolgt war und damit die Grenzen ihres Ermessensspielraumes überschritten hatte. Die EU-Kommission hatte der Regierung am 28. März 1988 ihre Auffassung mitgeteilt, dass die Vorschriften gegen Art. 43 EG verstoßen. Trotz der Androhung eines Verfahrens nach Art. 226 EG erhielt der Merchant Shipping Act 1988 jedoch Gesetzeskraft. Dieser Verstoß sei, so meinten die Law Lords, hinreichend qualifiziert und berechtige die betroffenen Fischer zu Schadensersatz.[63] Nachdem 91 der 93 Kläger sich mit der britischen Regierung geeinigt hatten, wurde der Umfang des von der britischen Regierung geschuldeten Schadensersatzes auf 55 Mio. £ beziffert.[64] Die Bereitschaft englischer Gerichte, das europarechtliche Haftungsinstitut innerstaatlich zu verwirklichen, war nach der Entscheidung des EuGH in der gleichen Sache[65] auch in anderen Fällen deutlich geworden.[66] Trotz der Bedeutung dieser Fälle für die Entwicklung des bislang sehr restriktiven englischen Staatshaftungsrechts[67] blieben diese für die Kläger im Ergebnis oft ohne Erfolg. Ein Schwerpunkt der nachfolgenden Diskussionen liegt heute in der Bestimmung der Rechtsnatur des europarechtlichen Haftungsanspruchs.[68] Die Frage, ob der Anspruch als ein breach of statutory duty, ein Anspruch aus negligence oder als ein öffentlich-rechtlicher Anspruch, der im Judicial Review-Verfahren zu verfolgen sei, zu charakterisieren ist, hat unterschiedliche prozessuale Konsequenzen und ist kürzlich vom Court of Appeal in Phonographic Performance Limited v. Department of Trade and Industry and Another ausführlich behandelt worden.[69] Die Diskussion über die Reform des englischen Staatshaftungsrechts ist durch europarechtliche Vorgaben[70] und, wie später auszuführen ist, durch Grundsätze der Europäischen Konvention für Menschenrechte angestoßen worden.

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