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5. Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration

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Die Frage der Souveränität, der Kompetenz-Kompetenz und andere wichtige Punkte wurden von Sir John Laws im Fall Thoburn v. Sunderland City Council[71] angesprochen. Dieser Fall betraf Markthändler, die sich geweigert hatten, beim Verkauf ihrer Waren metrische Gewichte zu benutzen. Sie beharrten darauf, die alten gesetzlichen Gewichte zu benutzen und wurden deshalb von den unteren Strafgerichten zu Bußgeldern verurteilt. Der Fall hätte in der Berufung einfach mit dem Argument entschieden werden können, dass die gesetzlichen Vorschriften, die den Übergang zu metrischen Maßen festlegten, im Einklang mit Gemeinschaftsrecht stehen, und dass die Verurteilungen daher rechtmäßig waren. Im Divisional Court (Abteilung des High Court) bezog sich Sir John Laws, der unter den älteren Richtern als besonders eigenwillig bekannt ist, jedoch auf die von den Anwälten vorgebrachten Argumente, um seine Überlegungen zu Souveränität und Verfassungstheorie darzustellen. Genau besehen war keine seiner Ausführungen für den Fall notwendig, und diese somit obiter dicta. Es ist jedoch die gewandteste Analyse zur Frage der Souveränität und weist unübersehbare Anklänge an das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes in der Maastricht-Entscheidung[72] aus dem Jahre 1993 auf.

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Ein Argument der Berufungskläger war, dass der European Communities Act durch eine spätere Maßnahme implizit außer Kraft gesetzt worden sei. Dies wäre jedoch mit der europarechtsfreundlichen Auslegungsregel für nationales Recht in Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act nicht vereinbar. Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, dass das Gemeinschaftsrecht im Recht des Vereinigten Königreiches fest verankert sei und nicht implizit außer Kraft gesetzt werden könne. Im vorliegenden Fall waren gemäß Abschnitt 2 Abs. 2 European Communities Act Verordnungen erlassen worden, die das Gesetz verändert hatten und welche vorsahen, dass die metrischen Maße unwiderruflich die einzig zulässigen sein sollten, und welche die Verhängung von Bußgeldern für den Fall der Nichtbefolgung vorsahen.[73] Für den „little Englander“ und seine Ansichten über Souveränität war dies natürlich ein rotes Tuch.

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Lordrichter Laws war hingegen der Ansicht, dass es im Vereinigten Königreich so genannte constitutional statutes gibt. Dies seien Gesetze, die als verfassungsrechtlich bezeichnet werden können und sich deshalb von anderen normalen Gesetzen unterschieden. Sie gehörten insofern einer anderen Kategorie an, als sie – anders als einfache Gesetze – nicht implizit widerrufen werden könnten. Ein Widerruf könne bei ihnen grundsätzlich nur ausdrücklich geschehen und allenfalls dann ausnahmsweise implizit, wenn der Wortlaut keinen Zweifel zulasse, dass sie von einem anderen Gesetz außer Kraft gesetzt werden dürfen. Der European Communities Act 1972 sei so ein constitutional statute. Dasselbe muss man für die Magna Carta (die Version von 1215, die kurz nach ihrem Erlass widerrufen wurde), die Bill of Rights 1688–89, den Act of Settlement 1701, den Parliament Act 1911, den Human Rights Act 1998 und andere annehmen. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedeutung dieser Gesetze ist es unwahrscheinlich, dass sie implizit widerrufen werden können. Dies wäre rechtlich und politisch nicht akzeptabel, so dass sie zu Recht als „verfassungsrechtlich“ bezeichnet werden. Das belegt auch der kürzlich vom Court of Appeal entschiedene Fall R (Jackson) v. Attorney General, in dem es zentral um die Auslegung des Parliament Act 1911 ging. Das Verfahren hatte die Gültigkeit des Parliament Act 1911 zum Gegenstand, auf dessen Grundlage das Gesetz zum Verbot der Fuchsjagd erlassen worden war.[74] Der Parliament Act sieht vor, dass das Parlament unter bestimmten Umständen ohne die Zustimmung des House of Lords Gesetze beschließen kann. Ohne auf Thoburn Bezug zu nehmen, rekurrierte der Court of Appeal erstmals auf die Gesetzgebungsdebatten im Parlament von 1911, um die verfassungsrechtliche Bedeutung des Gesetzes zu erforschen und ging damit weit über die traditionellen (englischen) Interpretationsmethoden hinaus. Im House of Lords fand dieser neuartige Gebrauch von Hansard (amtliches Parlamentsprotokoll, nach dem Drucker Hansard benannt) indes keine Unterstützung.[75]

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Die umstrittene Neuerung in Thoburn besteht in der Hierarchisierung von Gesetzen durch Sir John Laws: „There are now classes or types of legislative provisions which cannot be repealed by mere implication. These instances are given, and can only be given, by our own courts, to which the scope and nature of Parliamentary sovereignty are ultimately confided.“[76] Zur Hierarchie dieser Gesetze führte Laws weiterhin aus: „We should recognise a hierarchy of Acts of Parliament: as it were ‚ordinary‘ statutes and ‚constitutional‘ statutes. The two categories must be distinguished on a principled basis. In my opinion a constitutional statute is one which (a) conditions the legal relationship between citizen and State in some general, overarching manner, or (b) enlarges or diminishes the scope of what we would now regard as fundamental constitutional rights.“[77] Laws entfaltete für diese Kategorisierung vier Argumente: Das Gemeinschaftsrecht sei durch den European Communities Act implementiert[78] worden und vorrangig; der European Communities Act 1972 sei, wie oben ausgeführt, gemäß englischem Recht ein verfassungsrechtliches Gesetz, wobei das Common Law die Kategorie der verfassungsrechtlichen Gesetze anerkenne; die Rechtsgrundlage für die Beziehung zu der EU befinde sich innerhalb der nationalen Kompetenz und nicht innerhalb der Kompetenzen der EU. Die Grundlage dieses Verhältnisses liegt im Common Law, und dieses definiere die Souveränität.[79]

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Eine der wichtigsten Aussagen der Entscheidung Thoburn ist im folgenden Abschnitt enthalten: „In the event, which no doubt would never happen in the real world, that a European measure was seen to be repugnant to a fundamental or constitutional right guaranteed by the law of England, a question would arise whether the general words of the ECA were sufficient to incorporate the measure and give it overriding effect in domestic law. But that is very far from this case.“[80] Dies kann wohl als die britische Version des deutschen Maastricht-Urteils angesehen werden, in der Lordrichter Laws die Haltung der britischen Gerichte zur Frage der Kompetenz-Kompetenz verdeutlicht: „I consider that the balance struck by these four propositions gives full weight both to the proper supremacy of Community law and to the proper supremacy of the United Kingdom Parliament. By the former, I mean the supremacy of substantive Community law. By the latter, I mean the supremacy of the legal foundation within which those substantive provisions enjoy their primacy. […] If this balance is understood, it will be seen that these two supremacies are in harmony, and not in conflict.“[81]

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Falls die Argumentation von Sir John Laws bezüglich der verfassungsrechtlichen Gesetze korrekt ist und Akzeptanz findet, dann ist es gut, sich daran zu erinnern, was der Court of Appeal in R (Jackson) v. Attorney General ausgeführt hat.[82] Das Gericht bemerkte dort, dass der Parliament Act 1911, der es dem House of Commons und der Krone gestattet, Gesetze ohne die Zustimmung des House of Lords zu verabschieden, nicht in Bezug auf Gesetze von verfassungsrechtlichem Rang angewendet werden kann. Der Court of Appeal war der Ansicht, dass, je größer der verfassungsrechtliche Wandel sei, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit sei, dass die Gesetzgebungskompetenz des House of Commons nicht unter den Parliament Act 1911 fallen würde. Diese Interpretation des Gesetzes fand jedoch in der Entscheidung des House of Lords keine Zustimmung. Lord Bingham wies darauf hin, dass der historische Zweck des Parliament Act die Gewährung der Home Rule (Selbstregierung) für Irland gewesen war. Die Gewährung der Home Rule für Irland habe eine so fundamentale verfassungsrechtliche Veränderung dargestellt, dass das Argument des Court of Appeal leerlaufe.[83] Er gestand jedoch ein, dass es Beweise gibt, dass nachfolgende Regierungen jedweder politischer Gesinnung gewillt waren, den Parliament Act 1949, mit dem das Gesetz von 1911 umfassend novelliert worden war, nicht für einschneidende verfassungsrechtliche Zwecke in der Weise anzuwenden, in welcher der 1911 Act in seiner ursprünglichen Fassung angewandt worden war (der Government of Ireland Act 1914, der Welsh Church Act 1914, der 1949 Act selbst), sondern eher um Gesetze von geringerer verfassungsrechtlicher Bedeutung durchzusetzen (der War Crimes Act 1991, der European Parliamentary Elections Act 1999, der Sexual Offences [Amendment] Act 2000 und nun der Hunting Act 2004).[84] Lord Steyn führte aus, dass der 1949 Act potentielle Fragen wie die Abschaffung des House of Lords oder die Prinzipien im Judicial Review-Verfahren aufwerfen könnte. Diese Fragen seien seiner Ansicht nach „rein theoretischer Natur“, da die britische Verfassung nicht unbeschränkt verändert werden dürfe. Er betonte, dass es verfassungsrechtliche Prinzipien gäbe, die selbst ein souveränes Parlament nicht abschaffen könne.[85]

Erster Teil Offene Staatlichkeit§ 17 Offene Staatlichkeit: Großbritannien › III. Verfassungsrecht und die Europäische Konvention für Menschenrechte

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