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b) Debatte über den Verfassungscharakter

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Mehrere Entwicklungen änderten die Grundlage der Debatte. Verursacht wurden diese Entwicklungen von der europäischen Rechtsprechung wie auch von der sich beschleunigenden Zahl von Vertragsänderungen. Durch die Feststellung des EuGH, dass der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellte, gab der Europäische Gerichtshof der Rechtslehre eine neue Ausrichtung.[96] Der EGMR hat mit seiner Behauptung der Existenz einer auf der Konvention basierenden „europäischen öffentlichen Ordnung“ seinerseits die Rechtslehre aufgefordert, sich mit der konstitutionellen Tragweite der EMRK zu befassen.[97] Die Ausarbeitung des Vertrages von Maastricht und seine Ratifikation führten zu zahlreichen Lehrmeinungen zum Thema politische Union. Einige „constitutionnalistes“ begannen, sich näher mit einem Vertrag zu befassen, dessen Vokabular dem Verfassungsrecht entlehnt ist. Die Erwähnung einer Unionsbürgerschaft, die Stellung des Parlaments als „Mitgesetzgeber“ und die Anerkennung der Geltung von Grundrechten mussten auf Resonanz bei den Spezialisten des Verfassungsrechts stoßen. Die meisten ihrer Beiträge behandelten das Verhältnis der Verträge zum nationalen Verfassungsrecht und folgten der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel.[98] Einige Autoren haben jedoch versucht, sich zum Verfassungscharakter der Verträge zu äußern.

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Zunächst trat ein neuer Gegensatz zwischen „constitutionnalistes“ und „communautaristes“ auf. Angesteckt vielleicht vom sich als „Motor der Integration“ verstehenden und unitarisch ausgerichteten EuGH haben einige „communautaristes“ die Formulierung „Verfassungsurkunde“ wörtlich genommen und sich bemüht, die Gleichwertigkeit der Verträge mit einer Verfassung nachzuweisen. Genannt seien hier insbesondere J. Boulouis, J.-P. Jacqué oder D. Simon.[99] Bei einigen „constitutionnalistes“ – am überzeugendsten nach wie vor L. Favoreu – sind sie freilich auf harten Widerstand gestoßen.[100] L. Favoreu lehnte eine Gleichsetzung der Verträge mit einer Verfassung angesichts des Fehlens einer verfassunggebenden Gewalt – also eines europäischen Volkes, eines Parlaments als alleinigem Gesetzgeber und eines tatsächlichen Schutzes der Grundrechte – vehement ab.

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Mit den Jahren nahm der Streit zwischen Spezialisten mit unterschiedlichen konzeptionellen Ansätzen jedoch tendenziell ab. Zwischen den Fachvereinigungen beider Gruppen (Französische Vereinigung für Verfassungsrecht – Association française des constitutionnalistes, Vereinigung Europäischer Studien – Commission pour l’Etude des Communautés Européennes) findet heute ein regelmäßiger Austausch statt.[101] Die Trennlinie besteht nicht mehr so sehr zwischen „constitutionnalistes“ und „communautaristes“ als vielmehr zwischen den Autoren, die sich auf den Nationalstaat beziehen, und denen, die auf den Besonderheiten der EU beharren. Erstere teilen sich in zwei Gruppen. Einige, wie L. Favoreu, gehen von den zwingenden Elementen nationaler Verfassungen (Volk, Staat) aus, um damit die Unmöglichkeit zu begründen, Gründungsverträge und Verfassung gleichzusetzen. Andere verweisen zur Begründung des Verfassungscharakters der Verträge auf die allmähliche Annäherung der EU an bestehende politische Organisationsformen. Die als Modell dienende politische Organisationsform ist je nach Verfasser unterschiedlich. Das kann der Staat sein[102] oder ein Staatenverbund[103]. Die methodologische Grundlage ist jedenfalls identisch: Beide gehen von einem bestehenden Modell aus und vergleichen die EU mit ihm. Die Verfechter der EU als einer Einrichtung sui generis, meisterhaft vertreten von L. Azoulay,[104] weisen einen Vergleich zwischen den Verträgen und einer Verfassung unter Verweis auf den wesentlichen Unterschied zwischen den von ihnen verfassten politischen Einheiten zurück. Verfassungen bilden die Grundlage der staatlichen Rechtsordnung und eines staatlichen politischen Systems. Die Verträge schüfen hingegen keinen Staat. Ausgehend von dieser Feststellung prüft L. Azoulay die Verträge, auch den VVE, unter spezifischen Gesichtspunkten und versucht, ihren Gegenstand zu identifizieren. Er kommt zu dem Schluss, dass die Verträge keine Bürgerschaft begründen, so dass es begrifflich auch kein europäisches Volk gibt. Dagegen begründeten die Verträge eine soziale Körperschaft und stellten so eine „Gesellschaftsverfassung“ dar. Diese betone die der europäischen Gesellschaft gemeinsamen Werte. Die Beteiligung der „Bürgergesellschaft“ am politischen System werde skizziert, z.B. durch die den Sozialpartnern zukommenden Funktionen. Die Absicht dieser Untersuchung ist eine Betrachtung der Union „von innen heraus“ und nicht in Bezug auf ein vorgegebenes staatliches Modell. Sie ermöglicht zugleich, den Stand der Integration mit dem von den „constitutionnalistes“ geäußerten Hauptkritikpunkt zu versöhnen: dem Fehlen eines verfassunggebenden Volkes. Damit übergeht sie die politischen Existenzbedingungen einer Verfassung nicht, sondern lässt Raum für Überlegungen zu den den Bürgern bei der Errichtung der Europäischen Union zukommenden Funktionen.

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