Читать книгу Von alten Herzen und Schwertern - Aka Mortschiladse - Страница 17
12
ОглавлениеMaiko, die Frau des Hauptverwalters von Familie Eristawi, wurde mitten am Tag geraubt.
Ihr ältester Sohn Baduna war mit den Bauern in die Weinberge gegangen. Wahrscheinlich spielte er, als es passierte. Er war zwar der älteste Sohn, aber kaum sieben Jahre alt.
Tadia war allein zu Hause. Er war knapp vier Jahre alt und hatte alles mitangesehen. Er hatte alles gesehen, und als er merkte, was geschah, verfolgte er die Täter. Die Frauen des Dorfes beschrieben in herzzerreißenden Worten, wie er den Dolch seines Vaters ergriff, zum Weg rannte, auf dem er in der Ferne noch die Pferde sah, und ihnen folgte, bis er sie schließlich aus den Augen verlor. Ja, Tadia war zu Hause gewesen, er hatte im Zimmer gespielt, auf einem Stuhl gesessen, dem er wie einem Pferd die Sporen gab. Vom Fenster aus sah er seine Mutter, wie sie durch den Hof zum Tor ging, an dem zwei Männer auf Pferden warteten. Tadia hatte sie nicht einmal nach ihr rufen hören, so sehr war er mit Spielen beschäftigt. Seine Mutter nahm sicher an, dass die Männer Freunde ihres Mannes wären oder von ihm geschickt worden waren oder einfach fremde Reisende auf der Suche nach einem erfrischenden Schluck Wasser.
Es waren stattliche Pferde und die Reiter trugen noble Kleidung. Wären die beiden zu Fuß unterwegs gewesen, wäre Maiko nicht selbst zu ihnen gegangen, sondern hätte ihre Magd geschickt.
Die Magd war allerdings verschwunden, machte aber genug Lärm, um zu verhindern, dass man hören konnte, was Herrin und Reiter beredeten. Die Magd musste im Gemüsegarten gewesen sein, und Baduna war mit dem Verwalter in die Weinberge gegangen.
Tadia sah, wie seine Mutter das Haupttor öffnete und einer der Reiter sich zu ihr hinabbeugte, als würde er ihr etwas sagen.
Tadia sprang auf seinem Stuhl durchs Zimmer, während er alles beobachtete: Der Reiter beugte sich noch tiefer hinab und fasste ohne Vorwarnung nach Tadias Mutter. Das geschah so schnell und mit solcher Leichtigkeit, dass es Tadia völlig überraschte. Er hatte keine Vorstellung davon, was die Reiter mit seiner Mutter vorhatten. Er nahm einfach an, dass alle drei gemeinsam irgendwohin reiten mussten. Aber hatte Tadia seine Mutter schon einmal auf einem fremden Pferd sitzen sehen? Außerdem kam es ihm vor, als wollte seine Mutter gar nicht ausreiten. Der zweite Reiter drehte sein Pferd, half dem ersten, Maiko festzuhalten, ließ sich den schweren Filzmantel von den Schultern gleiten und bedeckte die Frau damit. Dann verschwanden sie mit ihr. Da erinnerte sich Tadia plötzlich daran, was die alten Bauern Hunderte von Malen zu ihm gesagt und seine Mutter weitere hundert Mal wiederholt hatte: „Wenn du nicht willst, dass dich die Lesginen schnappen und in eine dunkle Grube werfen, dann geh niemals allein in den Wald.“
Tadia rief seiner Mutter hinterher. Was er rief, hat niemand gehört. Irgendwie schaffte er es, den Dolch von der Wand zu nehmen, und rannte los, die Treppe hinab, durch den Hof zum offenen Tor. Er rannte durch die Spurrinnen der Ochsenkarren, erblickte die fliehenden Reiter und dachte sich, dass unter dem Filzmantel seine Mutter stecken musste. Er rannte blindlings hinterher, solange er konnte. Der Vorsprung der Reiter wuchs so schnell, wie sie in der Ferne kleiner wurden. Tadia sah, wie sie im Wald verschwanden, und er sah, wie die Sonne im Westen unterging. Dann kamen die Reiter zurück und jagten plötzlich ihn. Die Bauern sahen ihn, schreiend, die Hand nach der Sonne ausgestreckt, den Dolch so fest umklammert, dass es erst am nächsten Tag möglich war, ihn aus seinem Griff zu lösen. Alle hatten Angst, dass sich Tadia selbst verletzte, und fragten sich, wie er es schaffte, es nicht zu tun. Schon am nächsten Abend lief er zum Tor, sah die Sonne und ging ihr entgegen.
So fing Tadia an, regelmäßig davonzulaufen. Er lief immer in dieselbe Richtung: dorthin, wo die Sonne die Erde berührt und hinter dem Horizont verschwindet.
Sie wuchsen heran. Tadia war nicht verrückt, jedenfalls nicht völlig. Es gab Zeiten, in denen er seltener davonlief. Als er anfing, sich zu rasieren, lief er kaum noch weg, konnte es aber nicht ganz lassen. Der Frühling war eine gefährliche Jahreszeit: Jedes Frühjahr begann Tadia wieder nach seiner Mutter zu suchen, und davor fürchtete sich Baduna am meisten, als er im Gefängnis saß.
Es gab kaum einen Ort, an dem Baduna nicht gewesen war, um Tadia abzuholen und zurückzubringen. Er war jedoch nie wütend. Warum auch? Schließlich war Tadia ja nicht bei klarem Verstand. Tadia sprach nicht einmal mehr. Er war stumm und es war lange her, dass ihn überhaupt jemand aufgefordert hatte zu reden.
Dann heuerte Baduna in der georgischen Armee an, was bedeutete, dass er oft und weit würde reisen müssen. Irgendwie schaffte er es, in Tiflis stationiert zu werden, wo seine Taufpaten ihm helfen konnten. Aber er konnte Tadia nicht im Dorf lassen. Wie hätte er sicher sein können, dass Tadia nicht verschwinden oder sich in den Tod stürzen würde? Als die Eristawi die Herberge in Tiflis gefunden hatten und die Forsbergs sich Tadias annahmen, verfügte Baduna deshalb, dass die Hälfte des Vermögens der Pavnelis dazu dienen sollte, sich um Tadia zu kümmern. Was die Forsbergs betraf, konnte er sicher sein, dass Tadia nichts geschehen würde, solange sie ihm nicht erlaubten, den Hof zu verlassen. Es würde kein Tag vergehen, ohne dass Baduna nach ihm sah, es sei denn, er war mit seiner Einheit irgendwo im Einsatz. Und es verstrich kein Sonntag, ohne dass der Priester Tadia besuchte. Auch die Taufpaten waren sehr fürsorglich.
Aber jetzt, genau als Badunas Haft zu Ende ging, war Tadia abermals davongerannt, um nach seiner Mutter zu suchen.
Die Eristawis wollten für Baduna Pavneli eine Braut finden und wünschten sich, dass er in den Rang eines Unteroffiziers in der russischen Armee aufstieg. Sie wollten so vieles für ihn, aber Tiflis brachte alles durcheinander. Tiflis, so stellte sich heraus, war mit dem kleinen Dorf, seinen sorgfältig angelegten Weinbergen und dem Geburtshaus unseres Edelmanns nicht zu vergleichen. Und was war das Haus des Edelmanns denn schon wert? Drei kleine Zimmer im oberen Stockwerk, ein hölzerner Balkon, alte Waffen, eine Bibel, die nur von den Frauen gelesen wurde, eine Küche und ein Dienstzimmer im Erdgeschoss.
In Tiflis gab es für einen gepflegten jungen Edelmann so viel mehr Zimmer und trotzdem war Tadia davongerannt.
Der junge Pavneli zog los, um seinen Bruder zu suchen. Das konnten die Forsbergs allerdings nicht verstehen. Sie hatten ihn zwar an diesem Morgen noch nicht gesehen, aber Tadia zog nie morgens los, er wartete immer, bis die Sonne unterging.
Die größte Sorge war, dass er sich irgendwo von einem Felsen gestürzt hatte oder wegen seiner Schwäche und Stummheit rücksichtslosen Gaunern in die Hände gefallen war.