Читать книгу Akrons Crowley Tarot Führer - Akron Frey - Страница 34
Analyse
ОглавлениеWährend sich der Magus nach Gestaltung und Ausformung des Willens sehnt, geht das Streben der Hohepriesterin in die Tiefe. Sie drückt die unbewussten Wünsche der Seele aus, deren Assoziationsgeflechte strickmusterförmig im Unbewussten aufgespannt sind, was der feine Maschendraht aus Lichtstrahlen anzeigt. Die opalisierende Gestalt, die dahinter erscheint, befindet sich sozusagen an der Schwelle zum Nichts, in das der Mensch seine Vorstellung projiziert, und verkörpert die geheimnisvollen Träume und die vergessenen Geschichten, die aus der Tiefe von Zeit und Raum wieder ins Bewusstsein der Vorbeiziehenden steigen.1 Aber sogar dann, wenn wir ihre Empfindungen in uns spüren, können wir sie nur schlecht nachvollziehen, denn sie drückt sie in einem verquasten Assoziationsschleier aus, der mehr an die Rätsel der Sphinx, das Orakel zu Delphi oder die drei Hexen in Macbeth erinnert. Das liegt darin, dass wir uns durch unser nach außen gerichtetes Bewusstsein in vielen Teilen von der instinktiven Weisheit der Natur abgeschnitten haben und deshalb kein Ohr mehr für diese inneren Botschaften der rechten Gehirnhälfte aufbringen. Aber in gewissen Fällen, wenn rationale Werkzeuge versagen oder aus Kurzsichtigkeit oder Verblendung unheilvolle Schritte eingeleitet werden wollen, kann es geschehen, dass sich der Geist der Göttin plötzlich in uns erhebt. Wenn sich der Mensch seiner Unzulänglichkeiten schöpferisch bewusst werden kann und seine Seele gegen jeglichen Versuch rebelliert, sich durch binäre Kalkulationen manipulieren zu lassen, schlägt die Stunde der Hohepriesterin. Dann kann es geschehen, dass wir einem dunklen Hinweis aus den Tiefen des Unbewussten folgen, ohne uns über die Beweggründe klar zu sein. Diese Botschaft ist mit Notwendigkeit dunkel und unergründlich, denn es ist klar, dass, wenn wir diese Karte ziehen, unsere mentale Kontrolle im Bereich der von uns gestellten Frage nicht mehr greift.1
Die geheimnisvolle Erscheinung mit dem sphärischen Schleier atmet aber auch das silberne Licht des Mondes ein und aus. Interessanterweise unterstellt ihr Crowley das alchemistische Element und Prinzip des Merkurs: Er ist die fluidische Grundlage aller Übertragungen der Tätigkeit, so schreibt er, und in der dynamischen Theorie des Universums ist er selbst dessen Substanz.2 Damit bezieht sich Crowley wohl mehr auf den unbewussten Seelenführer, den Psychopompos: Merkur ist der von Kether zu Binah – dem Verstehen – führende Pfad; und daher ist er der Botschafter der Götter, er repräsentiert genauestens den Lingam, das Wort der Schöpfung, dessen Sprache das Schweigen ist.2 Letztlich können wir das Heiligtum der Göttin nur kraft unserer Träume und Visionen betreten, denn ihr Mysterium kann nicht durch die Führung des Verstandes, sondern nur im mutigen Eintauchen in die unergründlichsten inneren Seelenebenen erreicht werden. Das zeigt uns der Bogen auf ihrem Schoß, die Waffe der Diana. Er ist nicht gespannt. Das bedeutet, das Ziel, das wir ansteuern, wird durch Kontemplation und zielgerichtete Versenkung erreicht, nicht durch äußere Aktivität und Hektik. Auch der obere Teil des Lichtschleiers, den sie zwischen ihren Händen geöffnet hält, ist ein Symbol für die Erlebniswelt der Seele, die dem Reisenden offen steht. Wenn das Maschennetz mehr die oberflächlichen Ziele der Seele repräsentiert, dann zeigt die halbkreisförmige Öffnung das Tor, durch das man in die eigene Illusion eintreten und sich damit mit dem Fluidum oder dem Geist hinter dem Bild der Hohepriesterin identifizieren kann.3 Denn das Licht, welches das mit einem nach oben geöffneten Lichtstrahlenkranz gekrönte Haupt der Göttin umhüllt, ist nicht nur eine Manifestation des ewigen Geistes, sondern auch ein schützender Filter, in dem sich nur die eigenen Erwartungen reflektieren. Auch das Unendlichkeitszeichen (Lemniskate = liegende Acht), das sie wie eine Brille vor ihren Augen trägt, ist mehr ein Spiegel für den Blick des Betrachters, denn wenn der Mensch der Göttin wirklich in die Augen sehen könnte, dann müsste er erblinden. Aus der Sicht des Beobachters steht die Lemniskate für die Beschreibung der Welt, die sich je nach Verschiebung des Fokus verändert, durch dessen Linse er die Karte betrachtet. Deshalb ist alles, was er in ihr sieht, nicht die Priesterin, sondern die Projektion seiner eigenen Vorstellung, der Göttin hinter dem Schleier begegnen zu wollen. Damit assoziiert sie sich mit jener illusionsschaffenden Energie, Maya genannt, die über die innere Gestaltungskraft verfügt, um sich in allen Bildvorstellungen zu inkarnieren, und schenkt ihm das intuitive Empfinden, dass alles, was er wahrnehmen kann, letztlich nur ein unbedeutender Bruchteil jener Träume ist, die für Kaiser oder Hohepriester unentwirrbar bleiben müssen, damit sie sich in ihrem Zwang nach Kontrolle nicht frustrieren.
Die um den unteren Bildrand gruppierten Symbole (Früchte, Blumen, Samenschoten) liegen vor dem Schleier der Isis und sind daher als in Erscheinung tretende Dinge schon manifestiert. Sie zeigen das innere Wachsen und Reifen der Seele, in der alle kollektiven Erlebnisse gespeichert sind, die »zukünftige« Vergangenheit oder die kommende Erahnung, die sich beispielsweise auch in Trümpfen wie Glück, Stern, Mond oder Æon niederschlagen. Dabei ist die Hohe Priesterin das kollektive Assoziationsmuster in der Tiefe der Seele, das mysteriöse Sehnen, unbewusste Erinnerungen ins Licht unseres Bewusstseins zu heben. Das Kamel, das am unteren Bildrand schreitet, ist eine Erinnerung an den hebräischen Buchstaben Gimel (Kamel), ein Verbindungsglied zwischen der geistigen Welt (Kether) und der Welt der realen Formen (Tiphareth). Dieser Pfad liegt in der Mitte des Lebensbaumes und wird von den Eingeweihten der Durchgang in die Stadt der Pyramiden genannt:
Im Wind des Geistes entsteht die Turbulenz namens Ich.
Sie zerbirst; hinab regnen die unfruchtbaren Gedanken.
Alles Leben ist erstickt.
Diese Wüstenei ist der Abyssos, darin das Universum ist.
Die Sterne sind nur Disteln in dieser Einöde.
Und doch ist diese Wüstenei nur ein verfluchter Ort
in einer Welt der Glückseligkeit.
Ab und an durchqueren Reisende die Wüste; sie kommen vom
Großen Meer und zum Großen Meer wandern sie auch.
Beim Gehen vergießen sie Wasser; eines Tages werden
sie die Wüste bewässert haben, bis sie erblüht.
Siehe! Fünf Fußstapfen eines Kamels! V.V.V.V.V.3
Buch der Lügen, S. 68
Dieser Weg ist es, den der Adept geht, wenn er sich seinem heiligen Schutzengel nähert, sich mit ihm verbindet und den Abyssos durchschreitet, ist er doch selbst der Quell, aus dem die Erkenntnis strömt, und gleichzeitig das Gefäß, mit dem er das Meer der Weisheit ausschöpft. Wie hat es doch der Advocatus Diaboli beim Magus so schön formuliert: Die Hohepriesterin ist die Quelle, die die (zukünftigen) Erkenntnisse des Magiers durch ihre Ahnungen ergänzt. Sie selbst steht für den Akt der inneren Offenbarung, denn sie ist die Endlosschleife der menschlichen Erkenntnis, die sich nicht nur kreisend um sich selbst, sondern gleichzeitig wie eine Spirale auch in immer höhere Sphären dreht und trotzdem mit den zentrifugalen Verstandeskräften korrespondiert, damit der Empfänger, wie in diesem Falle Crowley, seine Visionen letztlich entschlüsseln konnte.4