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3. Von der Pflanze zum „Trieb“, vom Tier zum „Instinkt“.

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Schon in der Lebenswelt der Pflanzen kündigt sich an: Wer seine lebenswichtigen Substanzen nicht aus tiefen Wurzeln sichern kann, muss eine neue Form der Nahrungssuche organisieren. Er sucht sich was er braucht. Ein bisheriges „senso-metabolisches Reagieren“ mit Nutzung des Lichtes als Energiequelle wird durch ein „senso-motorisches Reagieren“ ergänzt. Bewegung oder Mobilität wird zur Überlebensstrategie der Tiere. Der Sauerstoff als „Abfallprodukt der Photosynthese der Pflanzen“ wird zum Brennstoff der Mobilität, mit welcher sich Tier und Mensch jener Substanzen ermächtigen, die sie für Wachstum und Kraft brauchen. Sauerstoff muss zu Energie werden: Wiederum entwickelt eine Vorläuferzelle vor Milliarden Jahren das aus Eiweiß hervorgehende ATP, welches die Verarbeitung des Sauerstoffs möglich macht. Diese ATP liefernde Vorläuferzelle wird durch Symbiose zum Besitz eines Eukaryocyten, wird zu den Energie liefernden Mitochondrien in den Zellen von Tier und Mensch. Was immer Tier und Mensch an Nahrung aufnehmen werden Mitochondrien zu Energie machen.Wichtig bleibt allein die notwendige Nahrung durch eine aufkommende Mobilität zu besorgen. „Senso-motorisches Reagieren oder Agieren“ wird zur Lebensgrundlage von Tier und Mensch und lässt sie bis heute überleben.

In der biologischen Evolution von Tier und Mensch und auch in ihrer Individualentwicklung steht das senso-motorische Reagieren am Anfang der Entwicklung. Die amöboide Zelle entwickelt Pseudopodien oder Scheinfüßchen durch das Gelieren eines Teils ihres flüssigen Plasmas. Andere Einzeller oder Bakterien drücken sich mit Polstern von der Unterlage weg und lassen sich einem Ziel zutreiben. Wieder Andere entwickeln Flagellen, deren Drehbewegungen die Bakterien fortbewegen und Schlangenbewegungen zum Ziel führen. Flagellen sind erste Organe, die Mobilität sichtbar machen, ausgelöst und zielgerichtet sind und schließlich zu Füßen werden. Mobilität wird für Tiere zu jener Funktion, mit der sie ihre Nahrung finden oder sich vor Schaden schützen. Eine neue Form von Mobilität wird auch zum Gründungs-mythos des Menschen oder zum Beginn der menschlichen Entwicklung. Aus vierfüßig sich bewegenden Primaten werden vor ca. 3 - 6 Millionen Jahren auf zwei Beinen rennende Australopitheci. Ihre Gehirne sind nur unwesentlich größer als jene nichtmenschlicher Primaten, doch können sie auf zwei Beinen längere Strecken überwinden, benötigen, wie wir heute wissen, auch weniger Energie und bekommen die Arme frei zum Greifen. Was schon Tiere beweisen bestätigt sich in der Mensch-werdung: Der Anfang einer jeden evolutionären Entwicklung von Tieren und Menschen wird von Mobilität, von körperlicher Aktivität, vom Handeln bestimmt. Was die Evolution uns lehrt bestätigt sich in der Individualentwicklung des Menschen: Beim Menschen führen schon im Uterus Irritationen der Mutter zu Stoßbewegungen des Kindes, die wir als früheste Lebenszeichen des Kindes realisieren. Wer nach der Geburt von der Luft der neuen Umgebung irritiert wird beginnt zu atmen. Wenn das Kind die mütterliche Brust wahrnimmt beginnt es zu saugen. Wer Hunger hat ruft oder strampelt. Wie alle Tiere agiert und bewegt sich auch der Mensch bevor er Bewusstsein, Gefühle und Geist entwickelt.

Dieses älteste- Tier und Mensch gemeinsame „senso-motorische Reagieren“ ist ein Erbe der biologischen Evolution, ein Erbe, das wie alles in der Evolution, vielfache Variationen erfahren wird. Senso-motorisches Reagieren beginnt als spontane Antwort und wird in der Evolution und auch in der Individualentwicklung von Tier und Mensch eine breite Vielfalt aus genetisch gelenkten Reaktionen und schließlich auch aus erlernten-, überlegten- und geplanten Aktionen entwickeln. Früheste Aktionen wie das erste Atmen nach der Geburt oder das Saugen an der mütterlichen Brust sind gezielte- und genetisch programmierte Antworten auf Irritationen. Schon das Strampeln mit Armen und Beinen aber ist ein Indiz dafür, dass senso-motorisches Reagieren in unserem genetischen Erbe zwar angelegt ist, doch muss Lernen und Üben hinzukommen, wenn wir auf zwei Beinen stehen und gehen wollen, mit unseren Händen greifen oder mit Lauten, Stimmen oder Worten uns verständlich machen wollen. Im ausreifenden Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Muskeln entstehen Handlungen, Augenbewegungen oder Sprache, die durch Wiederholung und Übung erst stabilisiert und erlernt werden müssen, um jene Sicherheit zu geben, die Mensch und Tier in einer mobilen Welt benötigen. „Intelligenz“, so der Neurobiologe Gerhard Neuweiler21 „beginnt als senso-motorische Intelligenz“ durch das Üben senso-motorischer Aktionen. Intelligenz beginnt als unbewusstes Lernen und Üben gezielter Bewegungen, für welche die biologische Evolution in den Neuronen tierischer und menschlicher Gehirne die Voraussetzungen schuf. In sensorischem Austausch mit der Peripherie des eigenen Körpers müssen im Gehirn Beugemuskeln und Stecker aktiviert oder inaktiviert werden. Auch muss für eine zuverlässige- und gezielte Bewegung eine präzise Zeitrelation unterschiedlicher Muskelgruppen gegeben sein. Senso-motorisches Reagieren, die dafür nötigen sensorischen Organe und die ausführende Muskulatur sind genetisch angelegt, doch sind Feinabstimmung oder Optimierungen von Bewegung und Handlungen durch Übungen und durch Lernen erworbene Fähigkeiten. Senso-motorisches Reagieren wird, wie alle weiteren Fähigkeiten von Tier und Mensch von Trieben, von Instinkten, von Erlerntem, von Gefühlen und schließlich von Erdachtem gesteuert.

Bewegung und Mobilität sind für Tier und Mensch Voraussetzungen auf der Suche nach Nahrung und auf der Partnersuche, um Fortpflanzung möglich zu machen. Bewegung und Mobilität sind Existenz sichernde und in der Evolution früh auftauchende Fähigkeiten. Der Drang Mobilität zu optimieren und sie zu beschleunigen ist offenbar ein evolutionäres Phänomen. Er macht, ich wiederhole mich, aus einem vierfüßigen Primaten einen auf zwei Beinen gehenden-, längere Strecken überwindenden- und Energie einsparenden Australopithecus. Der nachkommende Erectus-Hominide taucht schon vor einer Million Jahre und 10 000 km von Afrika entfernt als China-Mensch in Asien auf. Dessen Nachfahre oder Homo sapiens erschließt sich in nur 50 000 Jahren den gesamten Erdball. In den im Gilgamesh-Epos zusammen gefassten-, 5000 bis 3000 Jahre v. Chr. aufgekommenen Erzählungen werden erstmals Schiffe erwähnt, mit denen die Küsten befahren werden. In der eurasischen Steppe werden in der Jungsteinzeit der Jahre 6000 bis 3000 v. Chr. Pferde domestiziert, auf deren Rücken der Mensch seine Mobilität beschleunigt. Auch wird vor ca. 4000 Jahren in der numerischen Kultur das Rad erfunden und werden Wagen konstruiert, mit denen der Mensch schneller transportieren kann, was er benötigt und später sich selbst auch schneller macht. Pferde, Wagen und vom Wind getriebene Schiffe bleiben dann für mehrere Tausend Jahre für den Menschen jene Helfer, mit denen er arbeitet, mit denen er weiterzieht oder Kriege führt, bis Technik aufkommt und menschliche Mobilität weiter beschleunigt: 1769 erfindet James Watt die Dampfmaschine. 1817 stellt Karl Drais seine einspurige Laufmaschine oder Draisine als Prototyp eines Fahrrades vor. 1825 fährt die erste Eisenbahn in England. 1885 erfindet Karl Benz das Auto. 1903 gelingt den Gebrüder Wright erstmals ein Motorflug mit einem Flugzeug. Im 2. Weltkrieg werden Raketen getestet, mit denen 1969 der Mond erreicht wird und neuerdings wird der Mars zum Ziel. Mobilität hat die Evolution und auch die Entwicklung zum Menschen möglich gemacht, doch hat der Mensch aus der Mobilität eine Beschleunigungsmaschinerie entwickelt, die zur Gefahr wird. Die moderne Mobilität des Menschen wird mit fossiler Energie betrieben, die beim Verbrennen CO2 freisetzt und unseren Lebensraum gefährdet. Durch die Ausbeutung fossiler Energie hat sich der Mensch in Gefahr gebraucht, weil ihm seine Mobilität auf zwei Beinen nicht genügen- und er immer schneller werden wollte. Wieder bestätigt sich ein dialektisches Gesetz der Evolution: Was einmal gut war kann später auch Böses bewirken.

In der biologischen Welt führen Reize zu einer physiologischen Reaktion und diese wiederum zu einer arteigenen-, genetisch festgelegten Bewegungskoordination als Antwort. Der Verhaltens-forscher Konrad Lorenz unterscheidet bei Trieben eine stets auf das Ziel ausgerichtete gleichartige Reaktion, während bei Instinkten auf einen Reiz eine „topische“ und eine „phobische“ Antwort gegeben wird: Beide sind genetisch festgelegte Bewegungskoordinationen als Antwort auf Reize. Die „topische Reaktionsform“ wählt, genetisch programmiert, ein Ziel und sucht dieses Ziel. Die „phobische Reaktionsform“ meidet, durch einen Reiz informiert, wiederum genetisch fixiert, die Gefahr und flieht. Bei triebhaftem Verlangen oder bei Trieben allgemein ist die genetisch festgelegte Aktion eine allein „topisch“ ausgerichtete-, vom Triebdruck ausgelöste-, zur Befriedigung führende Koordination von Handlungen. Dieses biologische Triebverhalten ist auch ein im Menschen noch zu beobachtendes biologisches Erbe.

„Irritation und Reaktion“ oder „senso-motorisches Reagieren“ sind auch die Basis für „Instinkte“, doch benutzen sie eine doppelte Intelligenz. Instinkte müssen Chancen erkennen und auf Gefahren reagieren: Wer überleben und seine Gene weiter geben will muss Gefahren erkennen, die ihn bedrohen oder Chancen erspähen, die ihm nützen. Die Evolution hat Tier und Mensch eine erste Fähigkeit des Unterscheidens geschenkt: Sie können „topisch“ und „phobisch“ reagieren. Sie müssen kämpfen oder fliehen, müssen sich präsentieren oder sich davon machen. Um dieses Miteinander möglich zu machen entwickelte die evolutionäre Intelligenz nach topischer Aktion der Getriebenen eine weitere mentale Funktion zur Lenkung des Verhaltens von Tier und Mensch. Sie entwickelte Instinkte, mit denen Tier und Mensch ihr Überleben sichern, indem sie „topisch“ und „phobisch“ reagieren. Triebe und Instinkte sind Verhaltensweisen, die bei frühen Tiergruppen der biologischen Evolution durch eine direkte Kopplung von sensorischem Input und motorischer Aktion entstehen. Direkte Kopplung von Reiz und Antwort sind frühe evolutionäre Anpassungen. Beim Trieb ist die Antwort direkt oder topisch an das Triebziel gerichtet, während der Instinkt sowohl topisch und auch phobisch reagiert. Beide aber, Triebe und Instinkte, sind genetisch festgelegte und biologisch frühe Entwicklungen.


Das Instinktverhalten ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal biologischer Klassifizierung von Arten. Instinkte sind assoziative Reaktionen oder zu Algorithmen verbundene Assoziationen. Sie sind durch Erfahrung nicht veränderbar oder ersetzbar. Ein in Instinkten programmiertes Verhalten ist starr, zumal drohende Gefahren oder sich bietende Chancen bereits in der evolutionären Genese des Instinktes berücksichtigt und eingearbeitet wurden. Wenn Gnus, ihrem Herdinstinkt folgend, sich in den Mara-Fluß stürzen werden sie nicht selten zu Opfern der Krokodile. Ihr Herdinstinkt hilft ihnen eine wichtige Weide zu finden, doch zwingt sie dieser Instinkt gelegentlich auch in den Tod durch Krokodile. Auch wenn sie Krokodile im Fluss sehen folgen sie ihrer Herde. Wenn die Maus instinktiv nach jedem Fleischhappen greift, wird sie irgendwann in der Mausefalle landen. Wer sich wie die Kinder von Schimpansen ausschließlich an der Mutter und nicht auch an Ersatzmüttern oder Vätern orientiert wird nicht selten auch sterben, so der Mutter etwas zustößt. Instinkte sind großartig entworfene- und komplex aufgebaute-, das eigene Leben schützende Verhaltensweisen von Tier und Mensch, doch fehlt ihnen jede Form von Improvisation. Ist ein Instinkt ausgelöst, so wird er einem gegebenen Muster folgen und manchmal auch zur Todesfalle werden. Instinkt-geleitete Tiere halten an ihrem Verhalten fest, auch wenn sich das Umfeld oder das Klima ändert. Vor ca. 65 Millionen Jahren kam es in Yucatan im heutigen Mexiko zu einem Einschlag eines Meteoriten, der weite Gebiete unserer Erde mit einem Regen aus Asche und Hitze überzog und mit einem Staub aus Schwefel, Kohlendioxyd und Gips die Atmosphäre veränderte. Schon vor diesem Ereignis, so die Forschung heute, wurde ein Schwund der Population der Saurier angenommen, dessen Ursache man nicht kennt. Der Meteorit aber versetzte einer schwindenden- und instinktgeleiteten Population von Saurierriesen den letzten Todesstoß. Übergroße- und zu einem Rückzug in schützende Regionen unfähige Dinos mussten sterben. Kleine und sich in Erdlöchern verkriechende Dinosaurier überlebten und wurden schließlich zum Ursprung unserer prächtigen Vogelwelt. Von der Evolution entwickelte Größe kann Kraft, aber mitunter auch den Tod bedeuten und gleiches gilt für alle genetisch verankerten Verhaltens-weisen in Instinkten.

Wenn wir von Trieben oder Instinkten sprechen, so denken wir v.a. an Verhaltensweisen von Tieren und vergessen, dass auch menschliches Überleben durch Instinkte erst möglich wird. Wer zu atmen beginnt, weil er von der Kühle der Luft seines kurzen Daseins nach der Geburt irritiert wird, rettet sich, indem er zu atmen beginnt. Wer an der Brust der Mutter zu saugen beginnt folgt einem genetisch vorgegebenen Plan, einem Trieb oder einem Instinkt. Und wer sich in Notwehr sein Leben schützt hat keine Zeit zu überlegen. Ihm hilft der Trieb oder sein Instinkt, mit denen er sich schützt. Menschliche Mentalität beginnt früh in der biologischen Evolution und Triebe oder Instinkte gehören dazu.

EINE EVOLUTION, ABER UNTERSCHIEDLICHE GESCHICHTEN?

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