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Einführung

Wer menschliches Verhalten zu analysieren versucht muss wissen, wo wir herkommen. Er muss die anthropologische Evolution befragen. Sie schuf ein in unseren Genen verankertes Fundament, das menschliches Verhalten lenkt, Lernen ermöglicht und Nachdenklichkeit schafft. Entstanden ist ein in unterschiedlichen evolutionären Epochen geprägtes komplexes Erbe, das in der menschlichen Geschichte im Kompromiss unser Handeln lenkt oder zu Entfremdungen führt, so der Kompromiss misslingt. Wer den Menschen nur mit einer Eigenschaft oder einem Teil unseres genetischen Erbe zu charakterisieren versucht macht aus ihm eine Spekulation. Wer im Menschen nur den Egoisten sieht macht aus ihm eine Bestie. Wer menschlichen Verstand und menschliche Vernunft allein betont macht aus dem Menschen ein „reflexives Produkt“ 1 und mitunter gar ein göttliches Wesen. Der Mensch ist weder Bestie noch ist er Gott. Er ist ein evolutionäres Produkt mit vielen Eigenschaften, die zusammen nur sein bisheriges Überleben sicherten und dieses auch weiterhin sichern sollen.

Die Geschichte des Menschen beginnt nicht, wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte beschrieben, vor 6000 Jahren als Gott „den Menschen ihm zum Bilde (1. Mose 1, 17) aus einem Erdenkloß schuf“ (1. Mose 2, 7). Sie beginnt auch nicht vor 70 000 Jahren weil der Mensch anfängt seinen handwerklichen Verstand zu benutzen und in der „Zivilisatorischen Wende“ eine kognitive Revolte 2 einleitet, in welcher der Jäger und Sammler zum Tierhalter und Landwirt wird und mit kognitiver Intelligenz „eine Geschichte von Morgen“ einleitet 3. Viel früher schon sind dem Menschen und seinen hominiden Vorfahren Großtaten gelungen: Er überlebt in einem gefährlichen Umfeld, weil er sich anzupassen versteht und die Fähigkeit zu Überleben in sich erkennt. Er benutzt sein biologisches Erbe, lernt und passt sich seinem Umfeld an. Bevor der Mensch sich anschickt, sich an seinem Umfeld zu vergehen und dieses zu manipulieren, richtet er seine Sinne und seine Intentionen an die Natur, lernt sie zu verstehen und sichert sich sein Überleben. Menschliches Verhalten wird von einem Erbe gesteuert, das mit der biologischen Evolution vor ca. 3,5 Milliarden Jahren beginnt und als früheste Eigenschaft des Lebens aus „Irritation und Reaktion“ das Prinzip der „Unterscheidung“ erfindet. Dieses Prinzip wird in der Evolution vielfach variiert und schafft in den letzten 2 - 3 Millionen Jahren einen Sonderweg des Menschen durch die Entwicklung menschlicher Mentalität.

Im christlichen Abendland wird der Mensch zunächst zum Objekt der Spekulation. Für Christen ist der Mensch ein Sünder, zumal eine natürliche Mentalität sein Verhalten lenkt und göttliche Gebote dies verändern sollen. Für Christen ist der Mensch auch ein göttliches Geschöpf, ist Teil einer göttlichen Familie. Mit dem Versprechen einer göttlichen Gnade muss der Christ sein Leben fristen und auf sein Ende warten. Für Idealisten ist der Mensch mit Verstand und Vernunft geadelt, ist zur Vervollkommnung und zur Herrschaft über seine Natur aufgerufen. Nicht das vom Menschen Erreichbare ist Ziel der Idealisten. Ihr Ziel ist eine schöpferische Kreativität, mit welcher der Mensch sich über seine Möglichkeiten erhebt und zum „Homo Deus“ wird 3 und sein Umfeld verändert. Seit Darwins Evolutionslehre aus dem Jahre 1856 erst wird im christlichen Abendland der Mensch zum Objekt einer evolutions-historischen Forschung 4,5. Ausgangspunkt für jede biologische Entwicklung und auch die Entwicklung zum Menschen ist eine von Charles Darwin beschriebene „evolutionäre Intelligenz“. Evolutionäre Intelligenz vollzieht sich ohne Anleitung oder Führung, orientiert sich an den in stetem Wandel sich einstellenden Gegebenheiten und ist ohne Ziel. Evolutionäre Intelligenz übernimmt das mit dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren aufgekommene Gesetz von „Ursache und Wirkung“ und macht daraus ein biologisches Gesetz von „Reiz und Reaktion“. Es lenkt bis heute die biologische Evolution. Wie es zum Urknall kam und wie das Leben auf unserer Erde entstand, wissen wir nicht. Was aber entstanden ist und existiert hat Eigenschaften und Qualitäten. Aus Existenz wird Essenz, die als Kosmologie, mit dem Beginn des Lebens als Biologie, mit der Entwicklung mentaler Eigenschaften als mentale Evolution des Menschen wissenschaftlich beschreibbar wird. Evolutionäre Intelligenz entwickelt sich aus einem dialektischen Zusammenspiel von Umwelt und biologischem Akteur. Klimatische-, vulkanologische- oder Plattenbewegungen verändern das Umfeld, in welchem ein biologischer Akteur lebt und durch genetische Mutationen verändert wird. Zusammen schaffen Umwelt und biologischer Akteur eine biologische Divergenz und eine kaum noch überschaubare Artenvielfalt als Konsequenz von Dialektik oder „evolutionärer Intelligenz“. Evolutionäre Intelligenz ist ein Dreiklang aus Reproduktion, aus Distanzierung und Veränderung und schließlich aus Einpassung:

 Jedes Lebewesen entsteht aus einer „Reproduktion“ des vorher Bestehenden und pflanzt sich wiederum durch Selbstreproduktion fort. Das Junge entsteht, das Alte stirbt. Alt und Jung, Jahrmillionen alte- oder frühe Geschöpfe der Evolution existieren neben Mutanten der jüngsten Zeit und alle reproduzieren sich. Reproduktion stabilisiert eine mögliche Art und stabilisiert das Leben.

 Neben einer „Wiederkehr des Gleichen“ durch Reproduktion wird Evolution durch „Distanzierung“ und „Veränderung“ bestimmt. Genetische Mutationen bewirken Veränderung und schaffen Differenzierung und auch das Umfeld unterliegt einem fortwährenden Wandel. Veränderung und Spezialisierung biologischer Akteure in einem sich verändernden Umfeld werden zum Motor des Wandels und diversifizieren das Leben in eine Vielfalt einzigartiger Geschöpfe.

 Dies aber nur, wenn die „Einpassung“ gelingt, wenn das Veränderte oder Neue die Arterhaltung und die Überlebenschancen verbessert. Was bisher Bestand hatte wird vom Angepassteren ersetzt. Der Nutzen des Neuen für die Einpassung ins Umfeld entscheidet über die Geschwindigkeit der Evolution.

Unterschiedliche Geschichten werden beschrieben: Charles Darwin beschreibt eine Geschichte des Entstehens, beschreibt eine „Evolutionsgeschichte“, aus der auch der Mensch mit seiner anthropologischen Evolution hervorgeht. In unserer abendländischen Vorstellung ist kognitive Intelligenz das uns vom Homo sapiens überlassene- und uns Menschen charakterisierende Erbe. Es macht uns Menschen zu etwas Besonderem in der biologischen Evolution. Die Weitergabe von Gedanken und Ideen von Mensch zu Mensch schafft eine zweite-, eine Kulturgeschichte des Menschen. Ist Hararis „Kurze Geschichte der Menschheit“ 2 eine Kulturgeschichte, zumal eine „kognitive Revolution“ diese Geschichte einleitet? „Kognitive Intelligenz“, Gedanken und Ideen bewirken die schöpferische Intelligenz des Menschen. Bestimmen schöpferische Intelligenz, bestimmen Gedanken und Ideen aber auch das menschliche Verhalten? Zweifel sind angebracht: Der Homo sapiens steht am Ende einer biologischen Entwicklungsreihe und beschenkt uns mit Gedanken und Ideen, deren eventuelle Auswirkungen auf die menschliche Geschichte wir heute erst erahnen. Zuvor haben die Hominiden in Millionen Jahren ein Verhalten entwickelt, das ihnen ein Überleben in einem wechselnden Umfeld ermöglicht. Eine Analyse der Entwicklung des menschlichen Verhaltens, eine „mentale Evolution“ des Menschen und deren Auswirkungen auf seine Geschichte versuche ich in einer „Mentalgeschichte des Menschen“ zu analysieren. „Evolutionsgeschichte“, „Kulturgeschichte“ und „Mentalgeschichte“ haben einen jeweils anderen Ausgangspunkt und auch eine unterschiedliche Zielorientierung.

Seit Darwins Evolutionslehre wird der Mensch zu einem Objekt der archäologischen Anthropologie. In vielen Regionen unserer Erde werden unterschiedlich erhalten gebliebene Schädel- und Skelettreste von Hominiden oder vom Homo sapiens ausgegraben. Erstmals werden Entwicklungslinien des Menschen diskutiert. Aus Veränderungen der Schädelform oder anderer Skelettreste erstellt die archäologische Forschung einen Stammbaum des Menschen, vom vierfüßigen Primaten ausgehend, über den auf zwei Beinen gehenden aufrechten Australopithecus und den hominiden Greifern Homo habilis oder Homo erectus schließlich zum Homo sapiens führend. Auch beobachten die Archäologen immer wieder Skelettreste, die sich der angesprochenen Entwicklungsreihe entziehen, zu Seitenlinien führen und aus der historischen Forschung unzugänglichen Gründen verschwinden. Dass auf der Erde lebende Tierarten oder Hominiden untergehen und für immer verschwinden können ist ein Ergebnis archäologischer Forschung.

Bestätigt wird der archäologisch entwickelte Stammbaum zum Homo sapiens schließlich durch eine in den letzten Jahrzehnten möglich gewordene Altersbestimmung entdeckter Skelettreste. Das Alter der Schädel- und Skelettreste wird mit deren formalen Veränderungen verglichen und so ein Stammbaum erstellt. Aus archäologischen Befunderhebungen und deren zeitlicher Einordnung entsteht so der Stammbaum des modernen Menschen, oder jener Stammbaum, wie er den heutigen Vorstellungen der Wissenschaft entspricht. Was dieser Stammbaum nicht liefern kann sind historisch gesicherte Hinweise auf ein unterschiedliches Verhalten der Zwischenglieder des menschlichen Stammbaums und dessen Lenkung durch mentale Fähigkeiten. Die Archäologie kann aus der Zunahme des Schädelumfanges oder aus der Ausweitung des Schädelinnenraumes ein kontinuierlich größer werdendes Gehirn vom nichtmenschlichen Primaten zum Homo sapiens erkennen oder kann diese Zunahme der Hirngröße durch vergleichende Untersuchungen an Tier und Mensch bestätigen. Sie kann aber nicht auf mentale Fähigkeiten oder mentale Entwicklungsschritte der Zwischenglieder des menschlichen Stammbaums verweisen.

Archäologische Spurensuche des Menschen ist eine wichtige Spezialität der Anthropologie, doch ist moderne Anthropologie eine interdisziplinär-, v.a. eine multidisziplinäre Wissenschaft. Jede wissenschaftliche Disziplin liefert ihren Beitrag und erst in der Zusammenschau entsteht ein reales Bild der Menschwerdung: Die Archäologie liefert mit ihren Befunden einen frühen Beweis für die Evolution des Menschen und mit ihren Befunden an unterschiedlichen Orten unserer Erde Beweise für frühe Wanderungen des Menschen. Die Verhaltensforschung an Tieren6 und an nichtmenschlichen Primaten 7,8,9,10,11,12 offenbart jenes biologische Fundament an mentalen Fähigkeiten, auf denen der Sonderweg zum Homo sapiens beginnt und sich fortsetzt. Während die Verhaltensforschung an Tieren einen Ausgangspunkt der mentalen Evolution zum Menschen analysiert, liefern Verhaltensanalysen des Menschen deren Endpunkt. Die Entwicklungspsychologie von Individuen beobachtet, wie sich evolutionäre Entwicklungsschritte in der individualpsychologischen Entwicklung in rascher Folge wiederholen. Schließlich beschreibt die Ethnologie das Leben indigener-, von der Moderne noch wenig veränderter Gruppen. Heutige indigene Gruppen sind zwar Sapiens-Menschen, doch sind ihre Gemeinsamkeiten ein wichtiger Hinweis auf genetisch erworbene-, von Kultur noch unbeeinflusste Verhaltensweisen. Auch die Genetik liefert mit der Entwicklung der biologischen Uhr im mitochondrialen Genom für die Evolution wichtige Befunde13 . Für im Genom feststellbare Veränderungen wird eine zeitliche Zuordnung möglich. Am Leipziger Forschungsinstitut für Anthropologie ist aus Knochenmaterial erstmals ein Neandertal-Genom analysiert worden 14. Der Autor dieses wichtigen Unternehmens Päabo aber schränkt ein: „Genetische Analysen an noch älteren Skelettresten werden immer schwieriger“ und genetische Aussagen für menschliches Verhalten sind unsicher: „Wir wissen so gut wie nichts darüber, wie ein Genom in die Besonderheiten eines werdenden Individuums umgesetzt wird“. Schließlich liefert die Neurophysiologie über vergleichende Analysen des Gehirns an unterschiedlichen Primaten oder an Untersuchungen an Neugeborenen bis ins Alter wichtige Entdeckungen zur Entwicklung, zumal die Embryonalentwicklung des Menschen diesen mit seiner biologischen Evolution verbindet15. Der Mensch ist ein Produkt der Evolution. Für diese Erkenntnis erhielten am 10. Dezember 1973 die Ethologen Konrad Lorenz, Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Für ihre Studien an Vögeln, an Bienen und an Fischen wurden Verhaltensforscher von Tieren geehrt, deren Ergebnisse weitreichende Parallelen zu menschlichem Verhalten offenbarten. Es wurden Verhaltensforscher gewürdigt, die eine neue Wissenschaft der „Ethologie“ begründeten 6. Ihr Ziel ist die biologische Grundausstattung menschlicher Psychologie zu betonen: Für Ethologen ist der Mensch in seinem Verhalten genetisch gelenkt, doch ermöglichen ihm auch biologisch entstandene Strukturen zu lernen und zu variieren. Für Ethologen ist die Darwinsche Theorie der Evolution die Basis, mit welcher allein das menschliche Verhalten erklärt werden kann. Der Mensch ist ein der biologischen Evolution entsprungenes-, ein über Jahrmillionen werdendes Wesen, ist genetisch gelenkt und, von Genetik ausgestattet, fähig zu lernen und zu entscheiden.

Biologische Fähigkeiten der Energie-, der Stoffwechsel-oder der Fortpflanzungskontrolle hat der Mensch alle von seinen biologischen Vorfahren der Säuger übernommen. Auch seine mentalen Fähigkeiten sind Produkte der biologischen Evolution. Was den Menschen zum Homo sapiens macht sind schließlich mentale Fähigkeiten, die er von Primaten übernimmt und in der Evolution vom nichtmenschlichen Primaten zum Homo sapiens weiterentwickelt. Viele Schritte mentaler Fähigkeiten - vom Reagieren zum Handeln, vom Kurz- zum Langzeitgedächtnis, von der Neugier zur Aufmerksamkeit, von Emotion zum Gefühl, vom Gefühl zum Verstand, von Gedanken zu Ideen, von der Zugehörigkeit zur Gruppe zum individuellen Selbst, von emotionaler- zu kognitiver Intelligenz und schließlich vom Nichtbewusstsein zum Bewusstsein - haben diese mentale Evolution geformt. Sie übernimmt Funktionen von evolutionären Ahnen, verändert sie und entwickelt Neues. Viele aufeinander aufbauende Stufen der Entwicklung menschlicher Mentalität münden schließlich in ein Verhalten, das den Sapiens-Menschen lenkt, unsere individuelle Entwicklung und schließlich menschliche Geschichte formt. Diese Entwicklung nach zu zeichnen ist eine Herausforderung, zumal die Evolution zum Menschen, v.a. seine mentale Evolution, jene Basis liefert, die heute unser Verhalten lenkt.

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse von Verhaltensforschern an Tieren oder nichtmenschlichen Primaten, von gemeinsamen ethnologischen Befunden an über die Erde verteilten indigenen Gruppen, von Befunden aus Neurophysiologie, aus Genetik und aus Archäologie liefert eine Menge an Daten, die eine Analyse der mentalen Evolution des Menschen ermöglichen. Die Ethologie der letzten 50 Jahre beweist eine schrittweise Entwicklung menschlicher Mentalität ausgehend von Trieben und Instinkten, über zusätzliches Lernen von Emotionen bis zu einer emotionalen- und schließlich einer kognitiven Intelligenz. Diese mentale Evolution spiegelt sich wiederum in der Individualentwicklung des Menschen 16, wozu uns die Entwicklungspsychologie interessante Einblicke vermittelt. Alle mit dem Menschen sich beschäftigenden Wissenschaften beweisen, wie sehr wir Menschen Geschöpfe der biologischen Evolution sind.

Jedes Buch über menschliches Verhalten muss die mentale Evolution als Ausgangspunkt des Menschen aufgreifen. Nur unsere evolutionäre Herkunft kann den Menschen und sein Verhalten erklären. In einer Entstehungsgeschichte menschlicher Psychologie muss erkennbar werden, wie v.a. menschliche Gefühle den Bezug zur Welt bestimmen und wie von ihnen ausgehende Gedanken oder Ideen nur dann ihre Wichtigkeit behalten, so sie durch unsere Gefühle, unsere soziale Zugehörigkeit und unsere Abhängigkeit von Natur und Umfeld ihre Berechtigung erfahren. Jede neue mentale- oder psychologische Erwerbung benutzt im evolutionären Ablauf die Vorausgehende als Orientierung, setzt diese fort, ergänzt sie oder optimiert sie. Durch genetische Mutationen erzeugte Veränderungen können sich nur dann durchsetzen, wenn sie das Vorhandene nicht verdrängen, sondern dieses allenfalls ergänzen und das Neue anpassbar oder flexibel gestalten. Ein menschliches Verhalten, das sich nur an Verstand und Wissen orientiert und die zuvor schon entstandenen- und gestaltenden Gefühle vernachlässigt, wie dies im christlichen Abendland geschah, konnte nicht gut gehen und musste korrigiert werden. Hoffen wir nur, dass die Korrektur nicht zu spät kommt.

Evolutionäre Intelligenz, ein dialektisches Zusammenspiel zweier sich laufend verändernder Pole aus Umwelt und biologischem Akteur, entwickelt biologische Diversität und schafft einzigartige Geschöpfe und hoch spezialisierte Arten: Sie lösen Staunen und Bewunderung aus und lassen in uns Menschen auch Demut aufkommen, denn jedes biologische Geschöpf, jede Pflanze und jedes Tier hat eine besondere-, eine eigene Entwicklungsgeschichte, die ein weltweites Überleben oder ein Dasein in der Nische möglich macht. Evolutionäre Intelligenz schafft für jedes biologische Geschöpf jene optimale Funktion, die sein Überleben und seine Fortpflanzung sichert. Jede Art ist einzigartig und jedes Glied ist wichtig im Zusammenspiel des Lebens auf der Erde. Beim Menschen führt diese Entwicklung zu einer „mentalen Intelligenz“. Sie ist eine durch evolutionäre Intelligenz erzeugte „mentale Intelligenz“, mit welcher wir Menschen unser Überleben sichern. Evolutionäre Intelligenz qualifiziert nicht: Was sich mit der mentalen Intelligenz des Menschen im Vergleich zur evolutionären Intelligenz verändert ist allenfalls eine neu aufgekommene Zielorientierung: Orientiert sich die „evolutionäre Intelligenz“ ausschließlich am jetzt Gegebenen, so orientiert sich eine von Gefühlen gelenkte „mentale Intelligenz des Menschen“ an der Vergangenheit und an der Gegenwart, doch hat sie, — wichtig ja, aber vielleicht gefährlich —, auch die Zukunft im Blick. Mentale Intelligenz ist ausgerichtet und hat Ziele. Die mentale Intelligenz will zuerst das Überleben des Menschen sichern, doch will sie gleichzeitig jenes Scheitern verhindern, das die „evolutionäre Intelligenz“ akzeptiert: Wer sich in ein gegebenes Umfeld nicht einzupassen versteht wird scheitern, untergehen und verschwinden. Nur weil ein potentielles Scheitern von Individuen oder Arten von der „evolutionären Intelligenz“ akzeptiert wird, kann jene Vielfalt einer biologischen Welt entstehen, die wir bewundern. Dies Scheitern muss einer zielorientierten-, von Gefühlen, von Gedanken und Ideen gelenkten mentalen Intelligenz des Menschen nicht widerfahren, doch sind deren Konsequenzen noch offen und nicht beantwortet. Wird mentale Intelligenz das Überleben des Menschen sichern oder wird sie, wie der Gigantismus der Dinosaurier, zur Bedrohung werden?

Der Mensch ist ein von evolutionärer Intelligenz erschaffenes biologisches Geschöpf mit mentalen Funktionen, deren Entstehung ich im 1. Teil dieses Buches zu beschreiben versuche. Ein von der biologischen- und mentalen Evolution gestaltetes Menschenbild entsteht und grenzt sich ab von philosophischen- oder religiösen Alternativen. Der eigentliche Anlass dieses Buches aber ist eine Verbindung von mentaler Evolution des Menschen mit seiner Geschichte. Werden evolutionär entstandene Fähigkeiten des Menschen im geschichtlichen Ablauf verwendet oder werden diese von kulturellen Erkenntnissen ergänzt oder gar ersetzt? Was hat der Mensch in seiner Geschichte aus seinen evolutionär erworbenen Fähigkeiten gemacht? Hat er sie genützt oder hat er sie sogar verachtet, weil er in eine von Gott erschaffene Welt entführt wurde und der Evolution misstraute? In Teil 2 analysiere ich deshalb die mehrere Tausend Jahre alten Geschichten von China, von Indien und vom christlichen Abendland. Es sind die bevölkerungs-reichsten Regionen unserer Erde. Alle drei verfügen über eine Jahrtausende alte- und durch Erzählungen und Schriften kommunizierte Geschichte von Ethik und menschlichem Verhalten. Auch spielen alle drei Regionen in der derzeitigen Politik eine wichtige Rolle und sind wirtschaftlich vernetzt. In allen drei Regionen wird schon lange vor der christlichen Zeitenwende eine gesellschaftliche Orientierung angestoßen mit unterschiedlichem Bezug zur mentalen Evolution des Menschen. Nicht einzelne historische Events interessieren in der Geschichte dieser Regionen, sondern ihre früh schon angelegten gesellschaftlichen Leitbilder, die bis heute ihre Geschichte bestimmt haben und noch immer bestimmen. Eine von mentalen Leitbildern geformte Geschichte-, eine Mentalgeschichte als Verbindung von Evolution und Geschichte, eine Geschichte menschlichen Verhaltens und nicht die Kulturgeschichte dieser Länder interessiert. Obgleich alle Menschen auf unserer Erde über ein gemeinsames evolutionäres Erbe verfügen, offenbaren die Geschichten von China, von Indien und vom christlichen Abendland erhebliche Unterschiede. Wie sind diese historischen Unterschiede entstanden, wenn wir Menschen alle das gleiche genetische Erbe in uns tragen?

Geschichte ist bisher fast immer eine Abfolge von Kulturen, die aufblühen und wieder verschwinden. Sie entspringen Mythen, religiösen Vorstellungen oder Ideen einzelner Menschen und werden wieder verschwinden. Wenn Oswald Spengler in seinem Jahrhundertbuch über verschwundene Kulturen vom „Untergang des Abendlandes“133 spricht, so prognostiziert er nicht den Untergang des Abendlandes, sondern das Verschwinden einer abendländischen-, von menschlichen Ideen entworfenen Kultur. Nicht ohne Grund erwähne ich dieses Beispiel einer abendländischen Kultur: Geschichte ist zwar auch eine Abfolge von Kulturen, doch wird menschliche Geschichte nachhaltig und langfristig vom menschlichen Verhalten und vom mentalen Erbe des Menschen gelenkt. In der Evolution überlebt nur, wenn einem evolutionären Erbe die Einpassung in ein gegebenes Umfeld gelingt. In der menschlichen Geschichte werden das Verhalten des Menschen und nicht ideelle Entwürfe sein Überleben bestimmen.

In einer Zusammenschau von mentaler Evolution und Geschichten in China, in Indien und im christlichen Abendland vergleiche ich in Teil 3 dieser Analyse die gemachten historischen Erfahrungen und suche nach Erklärungen. Ein gleiches evolutionäres- oder genetisches Erbe, aber unterschiedlich verlaufende-, sich an unterschiedlichen Leitbildern orientierende Langzeitgeschichten dieser Länder, müssen eine von kulturellen Unterschieden nicht erklärbare-, genetische Ursache haben. Warum entwickeln sich in einer Geschichte Verhaltensformen, die in anderen Geschichten nicht in gleicher Weise zu finden sind? Eine Antwort müsste uns Menschen helfen, in einer globalisierten Welt der Zukunft ein friedlicheres Zusammenleben und eine Bewahrung von Natur erreichen zu können.

EINE EVOLUTION, ABER UNTERSCHIEDLICHE GESCHICHTEN?

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