Читать книгу EINE EVOLUTION, ABER UNTERSCHIEDLICHE GESCHICHTEN? - Albert Helber - Страница 13
4. Die Intelligenz der Unterscheidung:
ОглавлениеIm Wandel von der grünen Welt verwurzelter Pflanzen zur mobilen Welt der Tiere offenbart sich Entwicklung oder Evolution. Entwicklung aber ist mit „Irritation und Reaktion“ noch nicht erklärt. Wer sich in einem gegebenen Umfeld wohl fühlt wird Veränderungen nicht anstreben. Ein zweites Prinzip muss hinzu kommen, die biologische Evolution zu erklären. Dieses zweite Prinzip bedeutet: Auf Irritationen wird nicht nur reagiert. Auf „Irritationen wird unterschiedlich reagiert“, wird mit den Worten der Ethologie „topisch“ oder „phobisch“ reagiert. Irritationen sind angenehm, vermitteln Wohlgefühl, Zustimmung und werden akzeptiert oder sie sind störend, schmerzhaft, bedeuten Gefahr und werden abgelehnt. Die ersteren werden akzeptiert. Auf die letzteren reagiert man mit Ablehnung und Abwehr, sie werden phobisch beantwortet. In der Ethologie spricht man von „topischer Reaktion“, wenn das Tier „ohne Versuch und Irrtum die günstigste Raumrichtung“ anpeilt, während eine „phobische Reaktion“ auf eine Information folgt, die eine Richtung anzeigt, in die sich das Tier nicht bewegen soll. Jede sensorische Wahrnehmung muss entscheiden, welche Reaktion dem evolutionären Akteur Tier und Mensch nützt oder schadet. Eine sensorische Intelligenz muss die richtige Entscheidung treffen.
Eine Intelligenz der Unterscheidung sichert bei Tier und Mensch das Überleben und bestimmt die tierische Evolution. Mit „, senso-motorischer Intelligenz“, mit dieser für Tier und Mensch wichtigen Grundlage, beginnt die beschriebene mentale Entwicklungslinie zum Menschen. Sie beginnt vor Milliarden Jahren, macht Tiere und Menschen lebensfähig und erhält schließlich auch den Menschen am Leben. Reagieren beschreibt jedoch nur eine Hälfte des senso-motorischen Prozesses. Das Reagieren muss gerichtet sein und muss das Nutzlose oder Gefährliche vom Angenehmen, vom Wohltuenden oder Nützlichen unterscheiden. Eine Intelligenz der Unterscheidung, eine intelligente Analyse der Situation muss hinzu kommen, in der ich mich in einem gegebenen Umfeld befinde. Um intelligent-, lebensförderlich- oder lebenserhaltend reagieren zu können muss ein Tier die Möglichkeit haben mit seinen Sinnen eine Strategie zu entwerfen. Diese intelligente Strategie musste im evolutionären Begehr des Überlebens für Tier und Mensch gefunden werden und wurde auch gefunden. Im Vordergrund der Entscheidung steht der Zugriff auf Nahrung und Wasser, die Wahl eines Sexualpartners oder die Vermeidung von Gefahr. Sie können nur sicher gestellt werden, wenn eine zweite-, eine „sensorische Intelligenz“ hinzu kommt, mit welcher Tiere und Menschen unterscheiden können, was für sie wichtig oder unwichtig, nützlich oder schädigend, lebensförderlich oder gefährlich ist. Die Evolution tierischen und menschlichen Verhaltens ist in hohem Maße von der Entwicklung der „sensorischen Intelligenz“ und deren angepasster Variation abhängig.
„Arterhaltende Zweckmäßigkeit“ ist Konsequenz eines jeden biologischen Organismus` schreibt Konrad Lorenz. Jeder Organismus will sich selbst erhalten, will überleben, will auch seine Art erhalten, sich fortpflanzen und seine Gene weitergeben. Dies zu ermöglichen verwandelt die Biologie ein kosmologisches Gesetz von „Ursache und Wirkung“ in ein biologisches Gesetz von „Reiz und Reaktion“. Mit diesem Gesetz beginnt die biologische Evolution bei den Pflanzen. In der Mobilität tierischen Verhaltens lenken dann zwei Pole das Verhalten und das Zusammenleben biologischer Geschöpfe: „Akzeptanz oder Ablehnung“ und deren Variationen werden die biologische Evolution formen. Sensorische Wahrnehmungen werden akzeptiert und zustimmend- oder topisch ausgerichtet, oder sie werden abgelehnt, mit Abwehr beantwortet und sind phobisch ausgerichtet. Symbiose, Mutualismus und schließlich Kooperation sind Variationen der Akzeptanz. Vernichtung, Parasitismus und schließlich Konkurrenz dokumentieren unterschiedliche Formen von Ablehnung. Unter-schiedliche Formen von Akzeptanz oder Ablehnung formen auch das menschliche Verhalten.
Früh entscheidet eine evolutionäre Intelligenz zwischen Akzeptanz und Ablehnung: Große Bakterien verschlingen kleinere Bakterien und beginnen damit einen Kampf ums Dasein. Inkorporierte Bakterien werden chemisch aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet oder sie werden zu nützlichen Endosymbionten, die das Funktionieren der aufnehmenden Zelle verbessern. Aus Phagocytose sind zwei Möglichkeiten geworden, die hinfort die Biologie lenken werden: Im ersten Falle wird das aufgenommene Bakterium zur Bedrohung, wird chemisch vernichtet oder ausgelöscht. Ein potentieller Parasit oder Konkurrent wird ausgeschaltet. Im zweiten Falle entsteht eine „Symbiose“ als Leben erhaltendes- und Entwicklung möglich machendes Prinzip: Aus Vorläuferzellen werden funktionstüchtige Eukaryozyten, weil die aufgenommene Zelle aus organischem Material ATP zu produzieren versteht und in den Eukaryocyten die Energie liefernden Mitochondrien entstehen. In einer anderen-, zu Pflanzen führenden Symbiose bringt die aufgenommene Zelle eine Photosynthese-Funktion mit und macht aus der aufnehmenden Zelle einen Chloroplasten haltigen Eukaryocyten. Dass Mitochondrien und Chloroplasten inkorporierte Vorläuferzellen sind ist bewiesen: Mitochondrien und Chloroplasten verfügen über eine eigene Zellmembran und vermehren sich vor der Zellteilung des Eukaryocyten ebenfalls innerhalb der Zelle durch eine Zweiteilung ihrer mitochondrialen DNA. Mitochondrien sind nicht nur die Energie liefernden Strukturen einer Zelle. Ihre mitochondriale DNA ist heute die wichtigste Struktur einer „genetischen Uhr“ zur Altersbestimmung biologischer Organismen und macht aus der Paläontologie eine auch genetische Wissenschaft, die zeitliche Abläufe sichert. Symbiose ist die zuverlässigste Form von Zusammenarbeit und schafft eine gewollte gegenseitige Abhängigkeit. Eine abgestufte Form biologischer Zusammenarbeit ist der „Mutualismus“, ist eine Wechselbeziehung zweier Lebewesen, aus welcher beide Nutzen ziehen: Pilze und Wurzeln von Pflanzen bilden eine Mykorriza zu gegenseitigem Nutzen und „win-win-Situationen“ lenken auch das menschliche Zusammenleben. Schließlich finden unabhängig von einander lebende Geschöpfe zur „Kooperation“: Wenn Vögel aus der Haut von Elephanten oder anderen Säugetieren Parasiten entfernen, so sind diese für die Vögel eine wichtige Eiweißnahrung und Elephanten genießen die Entfernung der juckenden Räuber. Kooperation hilft den frühen Menschen und vielleicht noch mehr uns heute lebenden Menschen beim Überleben. Symbiose, Mutualismus und Kooperation sind unterschiedliche Formen von akzeptierter Zusammenarbeit im sozialen Zusammenleben von Tieren und Pflanzen. Akzeptanz, oder gegenseitige Zusammenarbeit in Form von Symbiose, Mutualismus oder Kooperation, sind in der biologischen Evolution eine wichtige Voraussetzung des Überlebens. Sie werden schließlich auch wichtige Funktionen der mentalen Intelligenz des Menschen sein und dessen soziales Zusammenleben gestalten. Aus einer Symbiose von Mann und Frau wird ein neuer Mensch. Aus Mutualismus wird Vertrauen und aus Kooperation wird Erfolg.
Das zelluläre Phänomen der Phagocytose führt zur Symbiose, aber auch zu unterschiedlichen Stufen einer Ablehnung: Im „survival of the fittest“ der biologischen Evolution überlebt eine Zelle, weil sie die eindringende- und potentiell Schaden zuführende Zelle mit einer chemischen Keule vernichtet. „Zelltod“ oder Vernichtung der eindringenden Zelle ist dann der Gegensatz von Symbiose. Auf Vernichtung folgt in der der Ablehnungsreihe der „Parasitismus“ und ist Gegenpol von Mutualismus. Der biologische Akteur des Parasitismus ist ein „Schmarotzer“, der sich von anderen Organismen einen Nutzen verspricht, sie gelegentlich auch tötet, v.a. aber sich „kommensal“ ernährt ohne zu töten. Am Ende dieser Reihe folgt der „Konkurrent“, der in jedem Gegenüber einen potentiellen Mitbewerber um ein gegebenes- oder Allen gehörendes Gut erkennt: Der Stärkste und Kräftigste wird Andere vertreiben, so sich dafür eine Gelegenheit bietet.
Akzeptanz in Form von Symbiose, Mutualismus und Kooperation oder Ablehnung in Form von Vernichtung, Parasitismus und Konkurrenz formen das Zusammenleben der Geschöpfe einer biologischen Evolution. Akzeptanz oder Ablehnung sind von der Biologie erschaffene Gegensätze, welche Entwicklung möglich machen. Sie sind in der biologischen Evolution entstanden und werden auch die mentale Entwicklung des Menschen und menschliches Verhalten bestimmen: Die Symbiose von Vorläuferzellen bringt die ortsständige Welt der Pflanzen hervor und auch die Mobilität von Tieren und Menschen. Eine symbiotische Verschmelzung von Eizellen und Samenzellen steht am Anfang aller Geschöpfe und auch die Symbiose des Kindes mit seiner Mutter steht am Anfang eines jeden menschlichen Individuums. Akzeptanz offenbarende Mutualismen oder Kooperation sind biologisch entstandene Eigenschaften und lenken das menschliche Verhalten. Gleiches gilt für ablehnende Verhaltensformen in Form von Tötung oder Vernichtung, von Parasitismus und Konkurrenz. Aus der biologischen Welt übernehmen wir Menschen nicht nur Triebe und Instinkte.
Wir orientieren unser menschliches Verhalten an Phänomenen, die früh in der biologischen Welt von evolutionärer Intelligenz erfunden wurden. Aus sensorischen Wahrnehmungen entwickeln wir mit unseren Gefühlen Glück, Lust, Hoffnung, Zuversicht, Liebe und Vertrauen oder aber Angst, Unlust, Furcht, Scham, Ekel und Aggressivität. Mit wohltuenden Gefühlen erleben wir soziale Akzeptanz und sind zufrieden. Mit leidigen Gefühlen erleben wir uns abgelehnt und entfremden uns aus der Gesellschaft. Mit gegensinnig wirkenden Polen wird früh schon das Entstehen der Welt erklärt: Aus einer Zusammenarbeit von „Akzeptanz oder Ablehnung“ der Biologen wird im frühhistorischen China ein Zusammenspiel der Pole von Yin und Yang, im indischen Denken von purusha und pakriti und nach 2000 Jahren Verspätung in Europa ein Zusammenspiel von Distinktion und Integration in Darwins Evolutionslehre.
Mit „Akzeptanz oder Ablehnung“ und deren Variationen macht eine evolutionär entstandene biologische Dialektik vor was schließlich der Philosoph Hegel in eine gedankliche Dialektik verwandelt und sich zu deren Erfinder erklärt. Die europäische Philosophie der Aufklärung greift die biologische Dialektik auf und entwickelt Vorstellungen und Ideologien zum Menschen, deren Merkmale nicht „Akzeptanz und Ablehnung“ als menschliche Eigenschaften beinhalten, sondern allein „Ablehnung“ bedeuten. In der Philosophie von Thomas Hobbes (1588 - 1679) sind die Menschen böse, sind Egoisten, ist der Mensch seinem Mitmenschen gegenüber ein Wolf, ein „homo homini lupus“. Die „Ablehnung“, die im o.g. biologischen Bild gegenseitige „Vernichtung“ bedeutet, ist für Hobbes der angebliche Naturzustand des Menschen und kann allein durch einen allmächtigen „Leviathan“ verhindert werden. Für John Locke (1632 - 1704), einerseits ein aufgeklärter Sensualist und andererseits ein vom Alten Testament der christlichen Bibel und vom calvinistischen Protestantismus tief beeinflusster Philosoph, wird die gegenseitige „Konkurrenz“ des Menschen, eine weitere Form von „Ablehnung“, zum Merkmal des Menschen und zur Orientierung der Staatslehre von John Locke. Sie sollte zu einer wichtigen Grundlage der amerikanischen Verfassung werden. In beiden Philosophien dieser europäischen Aufklärer ist der Mensch ein „homo homini lupus“ oder er ist Konkurrent. Beide Philosophien wurden vom christlichen Menschenbild beeinflusst und machten daraus eine rationale Ideologie der Aufklärung. In beiden Philosophien wird der Mensch nicht auch von positiven Phänomenen wie „Symbiose, Mutualismus oder Kooperation“ gelenkt, sondern ausschließlich von negativen Eigenschaften wie „Vernichtung, Parasitismus, Konkurrenz“. „Aus einer Symbiose von Mann und Frau wird ein neuer Mensch, aus Mutualismus wird Vertrauen, aus Kooperation wird Erfolg“ schreibe ich. Aus ablehnenden Phänomenen werden in der biologischen Evolution Zelltod oder Vernichtung, Parasitismus und Konkurrenz. „Vernichtung“ haben wir in Kriegen viel erfahren müssen. Parasitismus wird beim Menschen Misstrauen oder Unbehaglichkeit auslösen. Konkurrenz kann gelegentlich hilfreich sein, doch führt sie in der Regel zur Niederlage eines Konkurrenten.
Wie sehr ein unterschiedliches Menschenbild das wirtschaftliche Handeln beeinflusst zeigen zwei Väter einer klassischen Ökonomie17: Für den Begründer moderner Nationalökonomie Adam Smith (1723 - 1790) ist „eigennütziges“ Handeln Garant für eine gesellschaftliche Ordnung: Die Eigenliebe eines Handwerkers produziert ein Möbelstück und will auch Gewinne machen. Er versorgt aber auch Andere, die daraufhin ihr handwerkliches Produkt erstellen und verkaufen. Ein „mutualistisch“ ausgerichtetes gegenseitiges Handeln oder eine „win-win-Situation“ wird so zur „sozialen Marktwirtschaft“ eines Adam Smith. 5o Jahre vor Adam Smith hat Bernard Mandevilles (1670-1733) die Ichsucht oder den Egoismus des Menschen zum Stimulus für wirtschaftliches Handeln erklärt. Der intelligenteste „Konkurrent“ gewinnt im wirtschaftlichen Handeln. Bestimmen bei Adam Smith Mutualismus oder Kooperation das wirtschaftliche Handeln in einer „sozialen Marktwirtschaft“, so erklärt Mandevilles den Egoismus oder die Konkurrenz zum entscheidenden wirtschaftlichen Stimulus. Er wird von Hobbes Ideologie des „homo homini lupus est“ unterstützt und wird schließlich die Ideologie einer „kapitalistischen Weltwirtschaft“ bestimmen.