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Erster Band
IX

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Der Sammelplatz war auf der Straße von Chavigny.

Da trafen wir unsere Waldhüter und einen Theil unserer Schützen.

Nach zehn Minuten hatten diejenigen, die noch fehlten, uns eingeholt.

Einige Minuten vor fünf Uhr waren wir vollzählig.

Es wurde beschlossen, daß man den Dreieichenschlupf in großer Distanz umgeben, dann aber allmälig näher rücken und den Feind einschließen wolle.

Die Bewegung sollte so still als möglich der sich gehen, sintemal die Herren Wölfe die Gewohnheit haben, schon beim geringsten Lärm auszureißen.

Jeder« sollte seinen Weg genau untersuchen, damit man sich versicherte, ob der Wolf noch immer im Schlupf stecke.

Der Kreis verengerte sich, ohne heiß Jemand Spuren einer Flucht anzeigte.

Der Feldschütz hielt die Hunde Mocquets an der Koppel.

Jeder stellte sich an demjenigen Theil des Schlupfes auf, wohin sein Weg ihn gerade führte.

Der Zufall wollte, daß Mocquet und ich auf die nördliche Seite des Gehäges, d.h. auf diejenige, die mit dem Wald parallel lief, zu stehen kamen. Wie Mocquet vorausgesagt, hatten wir den besten Platz.

Es war wahrscheinlich, daß der Wolf in den Wald zu entkommen suchen und folglich auf unserer Seite herausbrechen würde.

Wir lehnten uns jeder an eine Eiche und waren fünfzig Schritte Von einander entfernt.

Dann warteten wir athemlos und ohne uns zu rühren.

Die Hunde wurden auf der entgegengesetzten Seite von uns losgekoppelt.«

Sie bellten zweimal auf und dann schwiegen sie wieder.

Der Feldschütz ging hinter ihnen her in den Schlupf, Indem er mit seinem Stock an die Bäume klopfte und ho ha ho rief.

Aber die Hunde waren wie angenagelt: die Augen hingen ihnen aus dem Kopf, ihre Lefzen waren aufgeworfen, ihre Haare sträubten sich.

Es war unmöglich, sie einen Schritt vorwärts zu bringen.

»He, Mocquet,« rief der Feldschütz, »das muß ein ganz gewaltiger Kerl von einem Wolf sein, denn Rocador und Tambelle wollen nicht anbeißen.«

« Mocquet hütete sich wohl zu antworten: der Ton seiner Stimme hätte dem Thier die Richtung verrathen, wo es Feinde zu finden hatte.

Der Feldschütz drang beständig vorwärts, indem er an die Bäume klopfte.

Die beiden Hunde folgten ihm, aber behutsam, von hinten, Schritt für Schritt, ohne Gebell und blos knurrend.

»Heiliges Gewitter!« rief der Feldschütz auf einmal, »ich bin ihm beinahe ans den Schwanz getreten. Der Wolf! der Wolf! der Wolf! Paß auf, Mocquet, paß auf!«

Und wirklich kam Etwas wie eine Kugel gegen uns.

Das Thier brach blitzschnell, gerade zwischen mir und Mocquet aus dem Schlupf hervor.

Es war ein ungeheurer Wolf, beinahe weiß vor Alter.

Mocquet feuerte seine beiden Schüsse auf ihn ab.

Er sah seine beiden Kugeln im Schnee aufprallen.

»Ei so schießen Sie doch,« rief er mir zu, »schießen Sie doch!«

Erst jetzt legte ich an, folgte dem Thier einen Augenblick und gab Feuer.

Der Wolf machte eine Bewegung, wie wenn er sich in die Schulter bisse.

»Getroffen! getroffen!« rief Mocquet; »der Junge hat getroffen! Mit den Unschuldigen ist der Herr!«

Inzwischen rannte der Wolf immer weiter und lief gerade auf Moynat und Mildet, die besten Schützen im ganzen Revier, zu.

Beide schoßen: das erste Mal in die Ebene, das zweite Mal in den Wald hinein.

Man sah die zwei ersten Kugeln sich kreuzen und Furchen im Schnee aufwerfen.

Diese zwei ersten Kugeln hatten den Wolf nicht berührt, aber ohne Zweifel war er unter den beiden andern gefallen.

Es war etwas unerhörtes, daß diese beiden Waldschützen einmal fehlschossen.

Ich hatte Moynat siebzehn Heerschnepfen hinter einander schießen gesehen.

Ich hatte Mildet ein Eichhörnchen, das von einem Baum auf den andern sprang, mitten entzweischießen gesehen.

Die Waldschützen waren dem Wolf in den Wald nachgelaufen.

Keuchend betrachteten wir die Stelle, wo sie verschwunden waren.

Wir sahen sie mit gesenkten Ohren und die Köpfe schüttelnd wieder zum Vorschein kommen.

»Nun, wie steht’s?« rief Mocquet ihnen entgegen.

»Ach was!« machte Mildet mit einer Armbewegung, »er ist jetzt in Taille-Fontaine.«

»In Taille-Fontaine!« rief Mocquet ganz verdutzt. »Die Tölpel haben ihn also alle zusammen gefehlt!«

»Warum denn nicht? Du hast ihn ja auch gefehlt.«

Mocquet schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, sehe schon, es steckt irgend eine Teufelei dahinter,« sagte er. »Daß ich ihn gefehlt habe, ist zum Verwundern; doch ist es immerhin möglich. Aber daß Meynat ihn mit seinen beiden Schüssen gefehlt hat, daß Mildet ihn mit seinen beiden Schüssen gefehlt hat, nein, das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

»Es ist aber doch so, mein guter Mocquet.

»Uebrigens haben Sie ihn getroffen, Sie,« sagte er zu nur.

»Ich . . . bist Du dessen gewiß?«

»Es ist eine Schande für uns Andere; aber so wahr ich mit meinem Familiennamen Mocquet heiße, so gewiß haben Sie ihn getroffen.«

»Nun gut, wenn ich ihn getroffen habe, so wird man das leicht sehen können, Mocquet. Er wird bluten. Laß uns schnell nachlaufen, Mocquet.«

Und ich wollte schon forteilen.

»Nein, bei Gott, nicht laufen,« rief Mocquet, indem er seine Zähne zusammenbiß und mit dem Fuß stampfte; »wir müssen im Gegentheil ganz langsam gehen, damit wir sehen, an was wir uns zu halten haben.«

Also langsam, aber jedenfalls laß uns geben.«

Und er begann der Spur des Wolfes Schritt für Schritt zu folgen.

»Bei Gott,« sagte ich »wir brauchen nicht zu fürchten, daß wir seine Fährte verlieren könnten; sie ist deutlich genug.«

»Ja, aber das ist es nicht, was ich suche.«

»Was suchst Du denn?«

»Sie werdens sogleich erfahren.«

Die Jäger, die mit uns den Schlupf umstellt, hatten sich zu uns gesellt und gingen hinter uns her, während der Feldschütz ihnen erzählte, was sich zugetragen hatte.

Mocquet und ich folgten den Spuren des Wolfes, die tief in den Schnee eingedrückt waren.

Als wir an den Platz kamen, wo ich das Thier getroffen haben sollte, sagte ich: »Siehst Du seht, Mocquet, daß ich doch gefehlt habe?

»Und warum sollten Sie gefehlt haben?«

»Ei man sieht ja kein Blut.«

»Dann suchen Sie einmal die Spur Ihrer Kugel im Schnee.«

Ich orientirte mich und ging in der Richtung weiter, die meine Kugel hatte nehmen müssen, im Fall sie wirklich den Wolf nicht berührt hatte.

Ich machte vergebens ein paar hundert Schritte.

Endlich kehrte ich zu Mocquet zurück.

Er winkte den Schützen sich um ihn zu sammeln.

»Nun,« sagte er zu mir, »und die Kugel?

»Ich habe sie nicht gefunden.«

»Da bin ich glücklicher gewesen als Sie; ich habe: sie gefunden.«

»Wie so? Du hast sie gefunden?«

»Drehen Sie sich einmal um und gehen Sie hinter mir drein.«

Ich führte das befohlene Manöver aus.

Die Jäger aus dem Schlupf hatten sich genähert.

Aber Mocquet hatte ihnen eine Linie bezeichnet, die sie nicht überschreiten sollten.

Die Schützen aus dem Walde kamen ebenfalls heran.

»Nun?« fragte Mocquet.

»Gefehlt! sagten Mildet und Meynat zugleich.

»Ich habe wohl gesehen, daß ihr in der Ebene gefehlt habt; aber im Wald . . .«

»Auch gefehlt!

Wißt ihr’s gewiß?«

»Man hat beide Kugeln in Baumstämmen gefunden.«

»Das ist kaum zu glauben,« meinte Watrin.

»Nein, man kann’s nicht glauben,« versetzte Mocquet, »und doch will Ich euch jetzt etwas noch Unglaublicheres zeigen.«

»Zeig’s!«

»Seht einmal den Schnee an. Was sehet ihr?«

»Die Fährte eines Wolfes, bei Gott!«

»Und bei seiner rechten Tatze, – da – was ist da?«

»Ein kleines Loch.«

»Nun! und ihr begreift nicht?«

Die Schützen sahen einander Verwundert an.

»Begreift ihr jetzt?« fuhr Mocquet fort.

»Unmöglich!« sagten die Schützen.

»Und es ist doch so, und ich will euch den Beweis liefern.«

Mocquet fuhren mit seiner Hand in den Schnee suchte einen Augenblick und zog mit einem Triumphgeschrei eine Platte Kugel hervor.

»Ei sieh da,« sagte ich, »das ist meine Kugel.«

»Sie erkennen sie also?«

»Ich glaub’s wohl, Du hast sie ja gezeichnet.«

»Und welches Zeichen habe ich hineingeschnitten?«

»Ein Kreuz.«

»Da seht ihr, meine Herren,« sagte Mocquet.

»Nun, so erklär’ es uns.«

»Seht ihr, er hat die gewöhnlichen Kugeln von sich abgelenkt, aber über die Kugel des Jungen, die ein Kreuz hatte, hat er keine Gewalt gehabt. Er hat sie in die Schulter bekommen, ich habe gesehen, wie er die Bewegung machte, als ob er sich beißen wollte.«

»Aber wenn er die Kugel in die Schulter bekommen hat,« fragte ich verwundert über das verblüffte Schweigen der Andern, »Wie kommt’s, daß sie ihn reicht getödtet hat?«

»Weil sie weder von Gold noch von Silber war, mein liebes Kind, und weil bloß goldene oder silberne Kugeln die Haut des Teufels ritzen und diejenigen tödten können, die einen Vertrag mit ihm geschlossen haben.«

»Aber Mocquet,« sagten die Schützen mit einem Schauder, »glaubst Du also . . .«

»Ja, ich wollte darauf schwören, daß wir’s mit dem Wolf des Holzschuhmachers Thibault zu thun gehabt haben.«

Die Waldschützen und die Jäger sahen einander an.

Zwei oder drei bekreuzten sich.

Alle schienen Mocquets Ansicht zu theilen und den Wolf des Holzschuhmachers Thibault wohl zu kennen.

Ich allein wußte Nichts von ihm.

»Ei,« drängte ich, »so sag mir doch endlich ein mal, was es mit diesem Wolf des Holzschuhmachers Thibault für eine Bewandtniß hat.«

Mocquet wollte nicht sogleich antworten.

»Ach ja, wahrhaftig,« rief er endlich, »der General hat mir gesagt, ich könne Ihnen die Geschichte erzählen, wenn Sie einmal fünfzehn Jahre alt seien. Sie sind jetzt so alt, nicht wahr?«

»Ich bin sechzehn Jahre alt,« antwortete ich mit Stolz.

»Nun wohl, der Wolf des Holzschuhmachers Thibault, mein lieber Herr Alexander, das ist der Teufel. Sie haben gestern Abend eine Geschichte von mir verlangt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Kommen Sie jetzt mit mir in mein Haus zurück, so will ich Ihnen eine Geschichte erzählen, und zwar eine schöne.«

Waldschützen und Jäger trennten sich mit stillem Händedruck; jeder zog seines Wegs, und ich ging mit Mocquet heim, der mir die nachfolgende Geschichte erzählte.

Vielleicht werdet ihr mich fragen, warum ich euch diese Geschichte, da ich sie doch schon so lange wisse, noch nicht erzählt habe. Ich antworte, daß sie sich in einer Lade meines Gedächtnisses befand, die beständig verschlossen geblieben ist und sich erst vor drei Tagen wieder geöffnet hat. Ich könnte euch auch sagen, bei welcher Gelegenheit; aber wahrscheinlich würde euch diese Erzählung, die uns nur hindern würde, auf die eigentliche Geschichte einzugehen, nicht sonderlich interessieren. Ich will daher lieber meine Erzählung sogleich beginnen.

Ich sage meine Erzählung, während ich vielleicht sagen sollte: die Erzählung Mocquets. Aber wahrlich, wenn man achtunddreißig Jahre lang über einem Ei gebrütet hat, kann man am Ende wohl glauben, man habe es gelegt.

Samstag den 31. Mai 1856.

Der Wolfsführer

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