Читать книгу Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4 - Александр Дюма - Страница 10

Erstes und zweites Bändchen
X
Der Pavillon von Andrée

Оглавление

Der Weg war nur ein zwischen der Mutter und dem Sohne ausgetauschter langer Kuß.


Der Pavillon von Andrée.


Also dieser Knabe, – ihr Herz zweifelte nicht einen Augenblick, daß er es sei, – dieser Knabe, der ihr in einer erschrecklichen Nacht, in einer Nacht der Bangigkeiten und der Schande geraubt worden war; dieser Knabe, der verschwunden war, ohne daß der Räuber eine andere Spur, als die seiner Fußstapfen im Schnee zurückließ; dieser Knabe, den sie Anfangs gehaßt, verflucht, so lange sie nicht seinen ersten Schrei gehört, sein erstes Wimmern aufgefaßt hatte; dieser Knabe, den sie gerufen, gesucht, zurückverlangt, den ihr Bruder in der Person von Gilbert bis auf den Ocean verfolgt hatte; dieser Knabe, den sie fünfzehn Jahre beklagt hatte, welchen je wiederzusehen sie verzweifelt war, an den sie nur noch dachte, wie man an einen geliebten Todten, an einen theuren Schatten denkt; dieser Knabe findet sich da, wo sie ihn am wenigsten zu treffen erwarten durfte, plötzlich durch ein Wunder wieder, durch ein Wunder erkennt er sie, läuft er ihr nach, verfolgt sie, nennt sie seine Mutter! diesen Knaben hält sie an ihrem Herzen, drückt sie an ihre Brust! ohne sie je gesehen zu haben, liebt er sie mit einer kindlichen Liebe, wie sie ihn mit einer mütterlichen Liebe liebt! ihre, von jedem Kusse reine, Lippe findet alle Freuden ihres verlorenen Lebens in dem ersten Kusse wieder, den sie ihrem Kinde gibt!

Es gab also über dem Haupte der Menschen etwas mehr als den leeren Raum, in dem die Welten rollen; es gab also im Leben der Menschen etwas Anderes, als den Zufall und das Verhängniß.

»Rue Coq-Héron, Nr. 9, am ersten Thorweg von der Rue Plattiere aus,« hatte die Gräfin von Charny gesagt.

Seltsames Zusammentreffen, das nach Verlauf von vierzehn Jahren das Kind in dasselbe Haus zurückführte, wo es geboren worden, wo es den ersten Hauch des Lebens eingeathmet hatte, und wo es von seinem Vater geraubt worden war!

Dieses kleine Haus, einst vom alten Baron von Taverney erkauft, als mit der großen Gunst, mit der die Königin seine Familie beehrte, einiger Wohlstand in die Verhältnisse des Barons wiedergekehrt war, hatte Philipp von Taverney behalten, und es wurde von einem alten Concierge bewacht, den die ehemaligen Eigenthümer mit dem Hause verkauft zu haben schienen. Es diente als Absteigequartier für den jungen Mann, wenn er von seinen Reisen zurückkam, oder für die junge Frau, wenn sie in Paris übernachtete.

Nach der letzten Scene, welche Andrée mit der Königin gehabt nach der Nacht, die sie in ihrer Nähe zugebracht, hatte Andrée beschlossen, sich von dieser Nebenbuhlerin zu entfernen, welche ihr den Gegenschlag von jedem ihrer Schmerzen zusandte, und bei der die Mißgeschicke der Königin, so groß sie waren, immer noch unter den Herzensbeklemmungen und Befürchtungen der Frau waren.

Schon am Morgen hatte sie ihre Dienerin nach dem Hanse der Rue Coq-Héron mit dem Befehle geschickt, den Pavillon in Bereitschaft zu setzen, der, wie man sich erinnert, aus einem Vorzimmer, einem kleinen Speisezimmer, einem Salon und einem Schlafzimmer bestand.

Früher hatte Andrée, um Nicole neben sich unterzubringen, aus dem Salon ein zweites Schlafzimmer gemacht: doch seitdem diese Nothwendigkeit verschwunden, war jedes Zimmer seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben worden, und die Kammerfrau, welche den untern Theil ganz ihrer Gebieterin überließ, die übrigens selten und immer allein hierher kam, hatte sich zu einer kleinen, im Dache angebrachten Mansarde bequemt.

Andrée hatte sich also bei der Königin, daß sie das Zimmer in der Nähe des ihrigen nicht behalte, damit entschuldigt, daß die Königin, welche so enge wohne, mehr einer ihrer Kammerfrauen, als einer Person bedürfe, welche nicht speciell ihrem Dienste zugetheilt sei.

Die Königin hatte nicht daraus gedrungen, Andrée bei sich zu behalten, oder sie hatte wenigstens nur so weit die Schicklichkeit es erheischte, daraus gedrungen, und als Nachmittags gegen vier Uhr die Kammerfrau erschien und Andrée meldete, der Pavillon sei bereit, hatte sie ihr befohlen, auf der Stelle nach Versailles abzugehen und ihre Effecten, welche sie in der Hast der Abreise in der Wohnung, die sie im Schlosse inne gehabt, zurückgelassen, zusammenzupacken und ihr am andern Tage diese Effecten nach der Rue Coq-Héron zu bringen.

Um fünf Uhr halte die Gräfin von Charny dem zu Folge die Tuilerien verlassen, wobei sie als einen genügenden Abschied die paar Worte betrachtete, die sie am Morgen der Königin gesagt, da sie ihr die Verfügung über das Zimmer, welches sie eine Nacht inne gehabt, zurückgab.

Als sie aus dem Gemache der Königin, oder vielmehr aus dem an das Gemach der Königin anstoßenden Zimmer wegging, hatte sie den grünen Salon, wo Sebastian wartete, durchschritten, war sie, verfolgt von ihm, durch die Corridors geflohen, bis zu dem Augenblick, wo ihr Sebastian in den Fiacre nachgestürzt war, der, zum Voraus von der Kammerfrau bestellt, sie vor dem Thore der Tuilerien, im Prinzenhofe erwartete.

Alles trug so dazu bei, für Andrée aus diesem Abend einen glücklichen Abend zu machen, den nichts stören sollte. Statt in ihrer Wohnung in Versailles oder in ihrem Zimmer in den Tuilerien, wo sie dieses so wunderbar wiedergefundene Kind nicht hätte empfangen können, wo sie wenigstens sich nicht dem ganzen Ergusse ihrer mütterlichen Liebe hätte hingeben können, befand sie sich in einem ihr gehörigen Hause, in einem abgesonderten Pavillon, ohne Bedienten, ohne Kammerfrau, ohne einen fragenden Blick!

Sie gab auch mit einem Ausdruck tief gefühlter Freude die von uns oben erwähnte Adresse, welche den Stoff zu dieser ganzen Abschweifung geliefert hat.

Es schlug sechs Uhr, als sich der Thorweg auf den Ruf des Kutschers öffnete und der Fiacre vor der Thüre des Pavillon anhielt.

Andrée wartete nicht einmal, bis der Kutscher von seinem Bocke stieg; sie öffnete den Schlag und sprang, Sebastian nach sich ziehend, aus die erste Stufe der Freitreppe.

Dann gab sie geschwinde dem Kutscher ein Geldstück vom doppelten Werthe dessen, was sie ihm schuldig war, und eilte, immer den Knaben an der Hand haltend, in das Innere des Pavillon, nachdem sie sorgfältig die Thüre des Vorzimmers geschlossen hatte.

Im Salon angelangt, blieb sie stehen.

Der Salon war nur durch das im Herde brennende Feuer und durch zwei aus dem Kamin angezündete Kerzen beleuchtet.

Andrée zog ihren Sohn auf eine Art von Causeuse fort, wo sich das doppelte Licht concentrirte.

Dann rief sie mit einem Freudenausbruch, in welchem noch ein letzter Zweifel zitterte:

»Oh! mein Kind, mein Kind, Du bist es also wirklich?«

»Meine Mutter!« erwiederte Sebastian mit einem Ergusse des Gemüths, der sich wie ein mildernder Thau aus dem springenden Herzen und den fieberhaften Adern von Andrée verbreitete.

»Und hier, hier,« rief Andrée umherschauend, da sie sich in demselben Salon befand, wo sie Sebastian geboren, mit Angst und Schrecken dieses Zimmer betrachtend, wo er ihr geraubt worden war.

»Hier,« wiederholte Sebastian, »was will dies besagen, meine Mutter?«

»Dies will besagen, mein Kind, daß Du vor bald fünfzehn Jahren hier in diesem Zimmer, wo wir sind, geboren worden bist, und daß ich die Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes preise, der Dich nach Verlauf von fünfzehn Jahren so wunderbar zurückgeführt hat.«

»Oh! ja, wunderbar,« sprach Sebastian; »denn hätte ich nicht für das Leben meines Vaters gefürchtet, so wäre ich nicht allein und bei Nacht nach Paris abgegangen; wäre ich nicht allein und bei Nacht nach Paris abgegangen, so würde ich nicht verlegen gewesen sein, zu erfahren, welchen von den zwei Wegen ich wählen mußte; ich hätte nicht aus der Landstraße gewartet; ich hätte nicht Herrn Isidor von Charny, als er vorüberritt, gefragt; er hätte mich nicht erkannt, mir nicht angeboten, mit ihm nach Paris zu kommen, er hätte mich nicht in den Palast der Tuilerien geführt, und ich hätte Sie auch nicht in dem Augenblick gesehen, wo Sie durch den grünen Salon schritten; ich hätte Sie nicht erkannt; ich wäre Ihnen nicht nachgelaufen; ich hätte Sie nicht eingeholt: ich hätte Sie endlich nicht meine Mutter genannt! ein Wort, das sehr süß und sehr zärtlich auszusprechen ist!«

Bei den Worten von Sebastian:

»Hätte ich nicht für das Leben meines Vaters gefürchtet,« empfand Andrée eine scharfe Herzbeklemmung, sie schloß die Augen und warf den Kopf zurück.

Bei den Worten: »Hätte mich Herr Isidor von Charny nicht erkannt, hätte er mir nicht angeboten, mit nach Paris zu kommen, hätte er mich nicht in den Palast der Tuilerien geführt,« öffneten sich ihre Augen wieder, ihr Herz that sich auf, ihr Blick dankte dem Himmel; denn in der That, es war ein Wunder, das Sebastian, geführt vom Bruder ihres Gatten, zurückbrachte.

Bei den Worten endlich: »Ich hätte Sie nicht Mutter genannt! ein Wort, das sehr süß und sehr zärtlich auszusprechen ist,« drückte sie, zum Gefühle ihres Glückes zurückgerufen, Sebastian abermals an ihre Brust.

»Ja, ja, Du hast Recht, mein Kind,« rief sie; »sehr süß! es gibt nur eines, das vielleicht süßer und zärtlicher ist, es ist das, welches ich Dir sage, indem ich Dich an mein Herz drücke: mein Sohn! mein Sohn!«

Dann trat ein Augenblick des Stillschweigens ein, und man hörte nur das sanfte Beben der über die Stirne des Kindes hinschweifenden mütterlichen Lippen.

»Aber,« rief plötzlich Andrée, »es ist unmöglich, daß Alles so geheimnisvoll in mir und um mich her bleibt; Du hast mir wohl erklärt, wie Du da warst, aber Du hast mir nicht erklärt, wie Du mich erkanntest, warum Du mir nachliefst, warum Du mich Deine Mutter nanntest.«

»Kann ich es Ihnen sagen?« erwiederte Sebastian, Andrée mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Liebe anschauend, »ich weiß es selbst nicht, Sie sprechen von Geheimnissen: Alles ist geheimnißvoll in mir wie in Ihnen.«

»Aber es hat Dir doch Jemand in dem Augenblick wo ich vorüberging, gesagt: »»Kind, da ist Deine Mutter!««

»Ja  . . .mein Herz.«

»Dein Herz? . . .«

»Hören Sie, meine Mutter, ich will Ihnen etwas erzählen, was an’s Wunderbare grenzt.«

Andrée rückte noch näher zu dem Kinde, während, sie einen Blick zum Himmel sandte, als wolle sie ihm dafür danken, daß er, als er ihr ihren Sohn zurückgab, ihn so zurückgab.

»Es sind zehn Jahre, daß ich Sie kenne, meine Mutter.«

Andrée bebte.

»Sie begreifen nicht?«

Andrée schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie sich sagen, ich habe zuweilen seltsame Träume, die mein Vater Sinnestäuschungen nennt.«

Bei der Erinnerung an Gilbert, welche wie eine stählerne Spitze von den Lippen des Kindes in ihr Herz eindrang, schauerte Andrée.

»Schon zwanzigmal habe ich Sie gesehen, meine Mutter.«

»Wie so?«

»In den Träumen, von denen ich so eben sprach,« Andrée dachte ihrerseits an die schrecklichen Träume, die ihr Leben bewegt hatten, an den Traum, dem ihr Kind seine Geburt verdankte.

»Stellen Sie sich vor, meine Mutter,« fuhr Sebastian fort, »wenn ich, noch ein Kind, mit den Kindern des Dorfes spielte und im Dorfe blieb, waren meine Eindrücke ganz die der andern Kleinen, und nichts erschien mir, als die wirklichen Gegenstände; doch, sobald ich das Dorf verließ, sobald ich die letzten Gärten überschritt, sobald ich den Saum des Waldes hinter mir hatte, fühlte ich etwas wie das Rauschen eines Kleides an mir vorüberziehen; ich streckte die Arme aus, um es zu fassen, doch ich faßte nur die Luft; da entfernte sich das Phantom. Aber von unsichtbar, wie es Anfangs war, wurde es allmälig sichtbar; im ersten Augenblick war es ein Dunst durchsichtig wie eine Wolke, ähnlich der, mit welcher Virgil die Mutter des Aeneas umhüllte, da sie ihrem Sohne auf der Küste von Carthago erschien; bald verdichtete sich dieser Dunst und nahm eine menschliche Gestalt an; diese menschliche Gestalt, welche die einer Frau war, glitt mehr über den Boden hin, als daß sie aus der Erde ging: da zog mich eine unbekannte, seltsame, unwiderstehliche Gewalt ihr nach. Sie drang in die dunkelsten Orte des Waldes ein, und ich verfolgte sie hier mit ausgestreckten Armen, stumm wie sie; denn obgleich ich ihr zu rufen versuchte, gelang es meiner Stimme doch nie, einen Ton zu articuliren, und ich verfolgte sie so, ohne daß sie stille stand, ohne daß ich sie einholen konnte, bis das Wunder, das mir ihre Gegenwart verkündigt hatte, mir ihren Abgang bezeichnete. Die Erscheinung verschwand allmälig, doch sie schien ebenso sehr als ich unter diesem Willen des Himmels zu leiden, der uns trennte, denn sie entfernte sich, indem sie sich nach mir umschaute, und, gelähmt vor Müdigkeit, als ob ich nur durch ihre Gegenwart aufrecht erhalten worden wäre, fiel ich an derselben Stelle, wo sie verschwunden war, nieder.«

Diese Art von zweiter Existenz von Sebastian, dieser in seinem Leben lebende Traum glich zu sehr dem, was Andrée selbst begegnet war, als daß sie sich nicht in ihrem Kinde hätte wiedererkennen sollen.

»Armes Kind,« sagte sie, indem sie ihn an ihr Herz drückte, »es war also unnütz, daß der Haß Dich von mir entfernte; Gott halte uns einander genähert, ohne daß ich es vermuthete; nur sah ich Dich, weniger glücklich als Du, weder im Traume, noch in der Wirklichkeit, und dennoch, als ich durch den grünen Salon ging, ergriff mich ein Schauer; als ich Deine Tritte hinter den meinigen hörte, zog etwas wie ein Schwindel zwischen meinem Geiste und meinem Herzen durch; als Du mich Madame nanntest, wäre ich beinahe stille gestanden; als Du mich meine Mutter nanntest, wäre ich beinahe ohnmächtig geworden; als ich Dich berührte, erkannte ich Dich.«

»Meine Mutter! meine Mutter! meine Mutter!« wiederholte Sebastian dreimal, als wollte er seine Mutter darüber trösten, daß sie so lange diesen süßen Namen nicht gehört.

»Ja, Deine Mutter!« erwiederte die junge Frau mit einem unbeschreiblichen Liebesentzücken.

»Und nun, da wir uns wiedergefunden haben,« sagte das Kind, »da Du so zufrieden und glücklich bist, mich wieder zusehen, werden wir uns nicht mehr verlassen, nicht wahr?«

Andrée bebte, sie hatte die Gegenwart im Vorüberziehen, die Augen halb über die Vergangenheit, ganz über die Zukunft schließend, ergriffen.

»Mein armes Kind, wie würde ich Dich segnen, wenn Du ein solches Wunder bewirken könntest.«

»Laß mich machen,« sagte Sebastian, »ich werde Alles dies ordnen,«

»Und wie?« fragte Andrée.

»Ich kenne die Ursachen nicht, die Dich von meinem Vater getrennt haben.«

Andrée erbleichte.

»Aber,« fuhr Sebastian fort, »so ernst und gewichtig sie auch sein mögen, sie werden verschwinden vor meinen Bitten und vor meinen Thränen, wenn es sein muß.«

Andrée schüttelte den Kopf.

»Nie! nie!« rief sie.

»Höre,« versetzte Sebastian, der nach den Worten die ihm Gilbert gesagt: »»Kind, sprich mir nie von Deiner Mutter,«« hatte glauben müssen, das Anrecht der Trennung sei auf ihrer Seite, »höre, mein Vater betet mich an.«

Die Hände von Andrée, welche die ihres Sohnes hielten, lösten sich; der Knabe schien nicht daraus zu merken und merkte vielleicht nicht daraus.

Er fuhr fort:

»Ich werde ihn vorbereiten, Dich wiederzusehen; ich werde ihm all das Glück erzählen, das Du mir gegeben Hast; dann, eines Tages, werde ich Dich bei der Hand nehmen, zu ihm führen und sagen: »»Hier ist sie! schau Vater, wie schön sie ist!««

Andrée stieß Sebastian zurück und stand auf.

Der Knabe heftete seine Augen ganz erstaunt aus sie; sie war so bleich, daß sie ihm bange machte.

»Nie!« wiederholte sie, »nie!«

Und diesmal drückte ihr Ton noch etwas mehr als den Schrecken, er drückte die Drohung aus.

Der Knabe wich aus dem Canapé zurück; er hatte in dem Gesichte dieser Frau jene erschrecklichen Linien entdeckt, welche Raphael den erzürnten Engeln gibt.

»Und warum,« fragte er mit dumpfer Stimme, »warum weigerst Du Dich, meinen Vater zu sehen?«

Bei diesen Worten brach, wie beim Zusammenstoß von zwei Wolken wahrend des Sturmes, der Blitzstrahl hervor.

»Warum?« versetzte Andrée, »Du fragst mich, warum? In der That, armes Kind, Du weißt es nicht?«

»Ja,« sagte Sebastian mit Festigkeit, »ich frage, warum?«

»Nun wohl,« erwiederte Andrée, unfähig, länger unter den Bissen der gehässigen Schlange, die ihr das Herz zernagte, an sich zu halten, »weil Dein Vater ein elender ist! weil Dein Vater ein Schändlicher ist!«

Sebastian sprang von dem Canapé auf, auf dem er saß, und stand aufrecht vor Andrée.

»Von meinem Vater sagen Sie das, Madame!« rief er, »von meinem Vater, das heißt, vom Doctor Gilbert, von demjenigen, welcher mich erzogen hat, von demjenigen, welchem ich Alles verdanke, von demjenigen, welchen ich allein kenne? Ich täuschte mich, Madame, Sie sind nicht meine Mutter!«

Der Knabe machte eine Bewegung, um nach der Thüre zu laufen.

Andrée hielt ihn zurück.

»Höre,« sagte sie, »Du kannst nicht wissen, Du kannst nicht urtheilen, Du kannst nicht begreifen.«

»Nein! aber ich kann fühlen, und ich fühle, daß ich Sie nicht mehr liebe!«

Andrée stieß einen Schmerzensschrei aus.

Doch in derselben Sekunde lenkte ein äußeres Geräusch die Gemüthsbewegung ab, die sie empfand, obgleich sich diese Gemüthsbewegung ihrer für den Augenblick ganz und gar bemächtigt hatte.

Dieses Geräusch war das des Hofthores, welches sich öffnete, und eines Wagens, der vor der Freitreppe anhielt.

Bei diesem Geräusch überlief ein solcher Schauer die Glieder von Andrée, daß dieser Schauer von ihrem Körper zu dem ihres Kindes überging.

»Warte!« sagte sie zu ihm, »warte und schweige!«

Unterjocht, gehorchte das Kind.

Andrée richtete sich auf, unbeweglich, stumm, die Augen starr aus die Thüre geheftet, bleich und kalt wie die Bildsäule der Erwartung.

»Wen werde ich der Frau Gräfin melden?« sagte die Stimme des alten Concierge.

»Melden Sie den Grafen von Charny und fragen Sie die Gräfin, ob sie mir die Ehre erweisen wolle, mich zu empfangen.«

»Oh!« rief Andrée, »in dieses Zimmer, Kind, in dieses Zimmer! er darf Dich nicht sehen, er darf nicht wissen, daß Du existirst.«

Und sie schob das erschrockene Kind in das anstoßende Zimmer.

Dann, während sie die Thüre hinter ihm schloß, sprach sie: »Bleibe hier, und wenn er weggegangen ist, werde ich Dir sagen, werde ich Dir erzählen  . . .Nein! nein! nichts von Allem dem, ich werde Dich umarmen, und Du wirst einsehen, daß ich wirklich Deine Mutter bin.«

Sebastian antwortete nur durch eine Art von Seufzer.

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thüre des Vorzimmers, und, mit seiner Mütze in der Hand, entledigte sich der alte Concierge seines Auftrags.

Hinter ihm, im Halbschatten, errieth das durchdringende Auge von Andrée eine menschliche Gestalt.

»Lassen Sie den Herrn Grafen eintreten,« sagte sie mit der festesten Stimme, die sie finden konnte.

Der alte Concierge ging rückwärts hinaus, und der Graf von Charny erschien, den Hut in der Hand, aus der Schwelle.

Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

Подняться наверх