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Drittes bis sechstes Bändchen
XVI
Catherine

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Von der Rue de la Sourdière, bis zu dem Hause, das Gilbert in der Rue Saint-Honoré bewohnte, war es nur ein Schritt.

Dieses Haus lag unsern der Assomption, einem Tischler Namens Duplay gegenüber.

Die Kälte und die Bewegung weckten Sebastian auf. Er wollt, gehen, aber sein Vater widersetzte sich und trug ihn fortwährend in seinen Armen.

Als der Doctor bei der Thüre angelangt war, stellte er Sebastian einen Augenblick aus seine Füße und klopfte stark genug, daß er, so sehr auch der Conciergerie eingeschlafen sein mochte, doch nicht zu lange aus der Straße zu warten hatte.

Ein schwerfälliger, obgleich rascher Tritt erscholl bald jenseits der Thüre.

»Sind Sie es, Herr Gilbert?« fragte eine Stimme.

»Ah!« sagte Sebastian, »das ist die Stimme von Pitou.«

»Gott sei gelobt!« rief Pitou, während er öffnete. »Sebastian ist wiedergefunden!«

Dann wandte er sich gegen die Treppe um, in deren Tiefe man allmälig den Schein einer Kerze erblickte, und rief:

»Herr Billot! Herr Billot! Sebastian ist wiedergefunden, und zwar ohne Unfall, wie ich hoffe, – nicht wahr, Herr Gilbert?«

»Wenigstens ohne einen ernsten Unfall,« erwiederte der Doctor. »Komm, Sebastian, komm!«

Und er überließ Pitou die Sorge, die Thüre zu schließen, hob abermals vor den Augen des erstaunten Concierge, der in der baumwollenen Mütze und im Hemde auf der Schwelle seiner Loge erschien, – Sebastian in seinen Armen auf und fing an die Treppe hinauszusteigen.

Billot schritt, dem Doctor leuchtend, voran, Pitou ging hinter ihnen. Der Doctor wohnte im zweiten Stocke; die weit geöffneten Thüren deuteten an, daß er erwartet wurde. Er legte Sebastian aus sein Bett.

Pitou folgte ängstlich und schüchtern. An dem Kothe, der seine Schuhe, seine Strümpfe, seine Hose bedeckte und seine übrigen Kleidungsstücke befleckte, konnte man leicht sehen, daß er ganz frisch von einer langen Wanderung gekommen war.

Nachdem er die in Thränen zerfließende Catherine zu ihrem Hause zurückgeführt, nachdem er aus dem Munde des Mädchens selbst, das zu tief betroffen war, um seinen Schmerz zu verbergen, erfahren hatte, dieser Schmerz rühre von der Abreise von Herrn Isidor von Charny nach Paris her, hatte Pitou, dem dieser Schmerz doppelt, – als Liebendem und als Freund, – das Herz brach, von Catherine, die sich niedergelegt, und von ihrer Mutter, welche am Fuße des Bettes weinte, Abschied genommen und war mit einem viel langsameren Schritt, als der gewesen, welcher ihn herbeigeführt, nach Haramont zurückgekehrt.

Die Langsamkeit dieses Schrittes und der Umstand, daß er sich so oft umwandte, um traurig nach dem Pachthause zu schauen, von dem er sich, das Herz zugleich angeschwollen vom Schmerz von Catherine und von seinem eigenen Schmerz, entfernte, machten, daß er erst bei Tagesanbruch in Haramont ankam.

Die geistige Beklommenheit, die sich seiner bemächtigt hatte, machte, daß er wie Sertus, da er seine todte Frau wiederfand, sich mit starren Augen und die Hände aus seinem Schooße gekreuzt auf sein Bett setzte.

Endlich erhob er sich, und einem Menschen ähnlich, der, nicht aus seinem Schlafe, sondern aus seinen Gedanken erwacht, schaute er umher und sah bei dem von seiner Hand beschriebenen Blatte Papier ein zweites mit einer andern Schrift bedecktes Blatt.

Er trat an den Tisch und las den Brief von Sebastian.

Zum Lobe von Pitou müssen wir sagen, daß er sogleich seinen persönlichen Kummer vergaß, um nur an die Gefahren zu denken, welche sein Freund während der langen Reise, die er unternommen, laufen konnte.

Dann, ohne sich um den Vorsprung zu bekümmern, den der am Tage vorher abgegangene junge Mensch vor ihm haben mochte, setzte ihm Pitou, auf seine langen Beine vertrauend, nach, mit der Hoffnung, Sebastian einzuholen, hätte Sebastian keine Transportmittel gefunden und wäre er genöthigt gewesen, seinen Marsch zu Fuß zu machen.

Ueberdies müßte Sebastian wohl anhalten, während er immer marschiren würde.

Er bekümmerte sich nicht um irgend ein Gepäcke. Er umgürtete seine Lenden mit einem ledernen Riemen, wie er dies zu thun pflegte, wenn er eine lange Strecke zurückzulegen hatte: er nahm unter seinen Arm einen vierpfündigen Laib Brod, in den er eine Wurst steckte, und in seine Hand seinen Reisestock und begab sich auf den Weg.

Pitou machte mit seinem gewöhnlichen Schritt anderthalb Meilen in der Stunde; nahm er den Schnellschritt, so machte er zwei.

Da er indessen anhalten mußte, um zu trinken, um die Schnüre seiner Schuhe zu knöpfen und um sich nach Sebastian zu erkundigen, so brauchte er zehn Stunden, um vom Ende der Straße von Largny zur Barrière von la Villette zu kommen; sodann eine Stunde, wegen der Hemmnisse durch die Wagen, um von der genannten Barrière zum Hause des Doctor Gilbert zu gelangen: das machte elf Stunden. Er war um neun Uhr Morgens abgegangen und kam um acht Uhr Abends an.

Das war, wie man sich erinnert, gerade der Augenblick, wo Andrée Sebastian aus den Tuilerien wegführte, und wo der Doctor Gilbert mit dem König sprach. Er fand also weder den Doctor Gilbert, noch Sebastian; doch er fand Billot.

Billot hatte durchaus nichts von Sebastian gehört und wußte nicht, zu welcher Stunde Gilbert nach Hause zurückkehren würde.

Der unglückliche Pitou war so besorgt, daß es ihm nicht einfiel, mit Billot von Catherine zu sprechen. Seine ganze Conversation war ein langer Seufzer über das Unglück, welches er gehabt, daß er nicht in seiner Stube gewesen, als Sebastian dahin gekommen war.

Dann, da er den Brief von Sebastian mitgenommen, um sich im Nothfall bei dem Doctor zu rechtfertigen, las er diesen Brief abermals, was sehr unnöthig, denn er hatte ihn so oft gelesen und wiedergelesen, daß er ihn auswendig wußte.

Die Zeit war so langsam und traurig für Pitou und Billot seit acht Uhr Abends bis zwei Uhr Morgens vergangen.

Sechs Stunden, das war sehr lang! Pitou hatte nicht das Doppelte von dieser Zeit gebraucht, um von Villers-Cotterets nach Paris zu kommen.

Um zwei Uhr Morgens erscholl der Klopfer zum zehnten Male seit der Ankunft von Pitou.

Jedes Mal stürzte Pitou nach der Treppe, und trotz der vierzig Stufen, die er hinabzusteigen hatte, kam er immer in dem Augenblick unten an, wo der Concierge die Schnur zog.

Doch jedes Mal wurde er in seiner Hoffnung getäuscht: weder Gilbert, noch Sebastian erschienen, und er ging langsam und traurig wieder zu Billot hinauf.

Wir haben erzählt, wie, als er zum letzten Male noch hastiger als die andern Male hinabstieg, seine Erwartung erfüllt wurde, da er zugleich den Vater und den Sohn, den Doctor Gilbert und Sebastian erscheinen sah.

Gilbert dankte Pitou, wie man dem braven Jungen danken mußte, daß heißt durch einen Händedruck; dann, da er dachte, nach einem Trabe von achtzehn Meilen und einer Erwartung von sechs Stunden müsse der Reisende Ruhe nöthig haben, wünschte er ihm eine gute Nacht und schickte ihn zu Bette.

Doch, über Sebastian beruhigt, hatte Pitou nun Billot eine Mittheilungen zu machen. Er winkte daher Billot, und Billot folgte ihm.

Was Gilbert betrifft, so wollte dieser Niemand die Sorge anvertrauen, Sebastian zu Bette zu bringen und bei ihm zu wachen. Er untersuchte selbst das blaue Mal aus der Brust seines Sohnes und hielt sein Ohr an mehre Stellen des Rumpfes; als er sich sodann versichert hatte, daß der Athem völlig frei war, legte er sich aus ein Canapé bei dem Kinde, das, trotz eines ziemlich starken Fiebers, sogleich entschlummerte.

Bald aber bedachte er nach der Unruhe, die ihn selbst erfüllt hatte, welche Bangigkeit Andrée quälen müsse; er rief seinen Kammerdiener und befahl ihm, auf die nächste Post, damit er bei der ersten Abgabe an seine Adresse käme, einen Brief zu tragen, in welchem nur die Worte standen:

»Beruhigen Sie sich, das Kind ist wiedergefunden und hat kein Unglück erlitten.«

Am andern Tage ließ Billot schon am frühen Morgen Gilbert um Erlaubniß bitten, eintreten zu dürfen, was ihm bewilligt wurde.

Das gute Gesicht von Pitou erschien lächelnd an der Thüre hinter dem von Billot, dessen traurigen, ernsten Ausdruck Gilbert wahrnahm.

»Was gibt es denn, mein Freund, und was haben Sie?« fragte der Doctor.

»Herr Gilbert, Sie haben wohl daran gethan, mich hier zurückzuhalten, da ich Ihnen, Ihnen und dem Kinde, nützlich sein konnte, aber während ich in Paris bleibe, geht dort Alles schlecht.«

Man glaube übrigens nach diesen Worten nicht, Pitou habe die Geheimnisse von Catherine geoffenbart und von der Liebschaft des Mädchens mit Isidor gesprochen. Nein, die ehrliche Seele des wackern Commandanten der Nationalgarde von Haramont sträubte sich gegen eine Angeberei. Er hatte Billot nur gesagt, die Ernte sei schlecht gewesen, der Rocken habe gefehlt, ein Theil vom Getreide sei durch den Hagel niedergeschlagen worden, die Scheunen seien nur zum Drittel voll, und er habe Catherine ohnmächtig auf dem Wege von Villers-Coterets nach Pisseleu gefunden.

Billot hatte sich sehr wenig um den Mangel an Rocken und das Verhageln des Getreides bekümmert, aber es wäre ihm selbst beinahe unwohl geworden, als er die Ohnmacht von Catherine erfuhr.

Der brave Vater Billot wußte, daß ein Mädchen vom Temperament und von der Stärke von Catherine nicht ohne Grund auf der Landstraße ohnmächtig wird.

Ueberdies hatte er Pitou befragt, und welche Zurückhaltung Pitou auch bei seinen Antworten beobachtet, mehr als einmal halte Billot den Kopf geschüttelt und gesagt;

»Ja, ja, ich glaube, es ist Zeit, daß ich zurückkehre.«

Gilbert, der selbst empfunden, was ein Vaterherz leiden kann, begriff diesmal, was in dem von Billot vorging, als ihm Billot die von Pitou überbrachten Nachrichten mittheilte.

»Gehen Sie also, mein lieber Billot, da Gut und Familie Sie zurückfordern,« antwortete er; »aber vergessen Sie nicht, daß ich im Namen des Vaterlandes über Sie verfüge.«

»Ein Wort, Herr Gilbert,« versetzte der wackere Pächter, »und in zwölf Stunden bin ich in Paris.«

Nachdem er sodann Sebastian, der sich nach einer glücklich zugebrachten Nacht völlig außer Gefahr befand, umarmt und die zarte feine Hand von Gilbert in seinen zwei breiten Händen gedrückt hatte, schlug Billot den Weg nach seinem Pachthofe ein, den er auf acht Tage verlassen hatte, während er nun seit drei Monaten davon abwesend war.

Pitou folgte ihm; er nahm, – eine Gabe des Doctor Gilbert, – fünf und zwanzig Louis d’or mit, welche zur Kleidung und Equipirung der Nationalgarde von Haramont bestimmt waren.

Sebastian blieb allein bei seinem Vater.

Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

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