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KAPITEL 6

HERZ

Der See war zu klar.

Keri hatte in den letzten Jahren immer wieder stundenlang im Gras am Ufer gesessen. Hatte rekapituliert, was geschehen war, und sich ausgemalt, was hätte sein können, wenn nur ein Stein anders gelegen oder die Böschung weniger rutschig gewesen wäre.

Vieles erkannte sie nun wieder: Das saftig grüne Gras, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Die flachen, hellen Ufersteine, mit denen sich Keri und Valerian früher einen Spaß daraus gemacht hatten, sie möglichst oft übers Wasser springen zu lassen, ehe sie untergingen.

Das Wasser aber war nie so klar gewesen. Im Gegenteil, die nun sichtbaren Algen und das Laub der nahen Bäume hatten dafür gesorgt, dass die Oberflächliche immer undurchdringlicher wurde.

Keri ließ sich am Ufer nieder, ihre nackten Füße baumelten ins Wasser. Noch immer trug sie das Kleid, in dem sie Demeter verlassen hatte. Nun wünschte sie sich, ein anderes gewählt zu haben.

Das Wasser war kühl, doch mit einem Hauch vergangener Wärme, wie im späten Sommer, wenn Gewitter die aufgestaute Hitze durchbrachen und das stehende Gewässer aufwühlten. Auch das Ufergras trug die Erinnerung eines Regengusses noch in sich, wenngleich der Himmel wolkenlos war.

Als Keri sich vorbeugte, blickte ihr ihr eigenes Spiegelbild entgegen.

Was tust du hier?, schien es zu fragen.

»Ich suche«, flüsterte Keri.

Wonach?

Ich weiß es noch nicht, entgegnete Keri, ließ die Antwort aber dieses Mal unausgesprochen.

»Keridwen.«

Sie hatte nicht gehört, wie er sich genähert hatte. Doch nun fiel sein Schatten aufs Wasser und die Temperatur schien schlagartig um einige Grad zu fallen. Keri widerstand der Versuchung, aufzublicken.

»Die Dienerin hat mir davon berichtet, dass du kommen würdest. Ich konnte es erst nicht glauben. Aber du bist hier.«

Seine Finger fuhren über ihre Wange und Keri zuckte zusammen. Kalt, so kalt.

»Jetzt bist du hier«, wiederholte er, und es klang fast ehrfürchtig.

Keri erwiderte nichts darauf. Ihre Hände krallten sich in die Erde und sie musste tief durchatmen. Was tust du hier?

»Ich habe etwas für dich«, sagte er und Keri hörte leises Stoffgeraschel. Noch immer blickte sie starr auf die Wasseroberfläche, als sich eine viel zu weiße, feingliedrige Hand in ihr Sichtfeld schob. Sie hielt etwas in Form einer kleinen Rolle, das in Stoff eingeschlagen war.

»Nimm«, forderte er sie auf.

Zögernd griff Keri nach dem überraschend schweren Bündel und wickelte es auf. Zum Vorschein kam ein etwa handflächenbreiter weißer Armreif, verziert mit silbrig glänzenden Blumenornamenten, die im ersten Moment zu flimmern schienen. Keri stockte der Atem.

»Ich habe ihn für dich gemacht, schon vor Monaten. Lange bevor ich wusste, dass du kommen würdest. Gefällt er dir?«

»Er …« Keri musste tief Luft holen, während tausend unausformulierte Fragen durch ihren Kopf jagten. »Er ist wunderschön.«

Sie wollte sich bedanken, doch es ging nicht. Ihre Lippen zitterten, ihre Stimme versagte. Sie drehte den Reif in ihrer Hand und das Zittern erreichte den Rest ihres Körpers.

»Wovor hast du Angst?«, fragte er.

Zur Antwort konnte sie nur mit den Schultern zucken. Sie umklammerte den Reif in der Hoffnung, ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber seine Frage verunsicherte sie nur umso mehr. Sie hatte von ihm nicht erwartet, mit einem Begriff wie »Angst« überhaupt etwas anfangen zu können. Nicht mehr.

»Bereust du, hergekommen zu sein?«, fragte er weiter, als von ihr nichts kam. Seine Stimme hatte etwas Lauerndes bekommen.

Keri schüttelte den Kopf. »Ich …« Erneut brauchte es einen weiteren Anlauf, um ihre Stimme ihrem Willen zu unterwerfen. »Ich weiß nur nicht, was mich erwartet«, sagte sie schließlich.

»Spielt das eine Rolle?«

Innerlich verkrampfte sich Keri. »Ich bereue nicht, hergekommen zu sein«, entgegnete sie dennoch. »Es ist das Erste, was sich richtig anfühlt, seitdem … seit fünf Jahren. Aber was jetzt? Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich eine richtige Novizin werde! Ich will nicht … ich will nicht schon wieder versagen.«

Sie spürte einen kühlen Luftzug, als er sich nach vorn lehnte. Aus den Augenwinkeln erhaschte sie einen Blick auf sein weißes Gewand, hielt den Kopf aber weiter gesenkt.

»Versagen«, wiederholte er und schwieg. »Bist du deshalb hergekommen? Um nicht mehr zu versagen?«, fragte er nach einer Weile.

Keri zögerte. Ihr war klar, dass dies kein Gespräch nur zwischen ihnen beiden war. Sie musste vorsichtig sein, wenn sie diesen Weg zu Ende gehen wollte. »Natürlich nicht«, antwortete sie schließlich. »Es gibt tausend Gründe, weshalb ich hier bin. Ich habe die Macht der Engel gespürt, habe sie gesehen. Danach konnte ich nicht einfach zurück. Alles, was ich getan habe, erschien mir so falsch, so unwichtig! Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll …«

»Ich verstehe nur zu gut, Keridwen«, antwortete er sanft.

»Trotzdem – oder gerade deshalb – will ich niemanden mehr enttäuschen«, fuhr Keri fort. »Schon gar nicht die Engel.«

Erneut breitete sich Schweigen zwischen beiden aus, das von ihm gebrochen wurde.

»Es gibt etwas, was ich gerne bei mir wüsste«, sagte er. »Etwas, was nur du mir bringen kannst.«

Keri hob leicht den Kopf. »Was sollte das sein? Ich habe alles zurückgelassen.«

»Nicht alles«, entgegnete er und schwieg einen Moment. Dann, unvermittelt: »Du musst sterben, Keridwen. Nur dein Tod kann mir bringen, was ich haben möchte.«

Als Keri nichts erwiderte, fragte er: »Bist du bereit, dieses Opfer für mich zu bringen? Du würdest die Engel damit nicht enttäuschen. Du würdest mich nicht enttäuschen. Im Gegenteil.«

Keri sah auf, traf seinen Blick aus diesen weißgrauen, ausdruckslosen Augen. Warum sollte er ihren Tod wünschen, wenn er war, wofür er sich ausgab?

Ohne hinzusehen, wog sie den Reif in ihren Händen. Obwohl er so filigran wirkte, schien er mehrere Kilogramm zu wiegen.

Als sie ihn anzog, konnte sie kaum mehr ihren Arm heben.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Ich tue alles, solange du nur am Leben bist«, flüsterte sie, glitt ins Wasser und ließ sich unter die Oberfläche ziehen. In­stinktiv versuchte sie, wieder nach oben zu schwimmen, doch das Gewicht des Armreifs zog sie unerbittlich in die Tiefe.

Der See war zu klar.

Die Türme von Eden

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