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TEIL I

LEGBA

KAPITEL 1

ABSCHIED

»Es ist Zeit.«

Keri nickte.

Die Besucher hatten dieses Mal darauf verzichtet, Aufsehen zu erregen. Zu zweit standen sie im Dunkeln vor der Eingangstür, ein Mann und eine Frau, ausnahmsweise nicht umgeben von der Traube neugieriger Gaffer, die ihresgleichen sonst auf Schritt und Tritt folgte. Ihre Uniformen verbargen sie unter schwarzen Mänteln.

Keri wusste trotzdem allzu genau, wer oder vielmehr was sie waren. Zwar war sie sich nicht sicher, ob sie den beiden schon einmal begegnet war, doch die Besucher verströmten die charakteristische Kälte der Liminalen.

»Wir warten im Hof«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang sanft und kam Keri vage bekannt vor, aber sie konnte diese Leute nicht auseinanderhalten. Ob Mann oder Frau, groß oder klein, dunkel- oder hellhäutig – ihre Aura war immer die gleiche. Egal, wie sanft sie klangen, sie blieben kalt.

»Du hast fünfzehn Minuten. Du brauchst nichts mitzunehmen.«

Wieder nickte Keri, worauf sich die beiden umdrehten und in der Dunkelheit verschwanden. Ihre Schritte knirschten im Kies.

Keri schloss die Tür und ging ins Haus zurück. Ihre Eltern und Max saßen im Wohnzimmer. Max’ kleine Tochter schlummerte an seiner Schulter. Wortlos sahen die drei Keri an und in ihrem Blick las sie, dass sie wussten, wer an der Tür gewesen war.

Ihre Mutter reagierte als Erste, kam auf Keri zu und umarmte sie – das erste Mal seit Monaten, das zweite Mal in den letzten vier Jahren. Keri zögerte einen Moment, dann erwiderte sie die Geste. Früher hatte sich das vertraut angefühlt. Heute schmeckte es nach Erinnerung. Keri spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

Ihre Mutter ließ sie los und trat zurück. Sie lächelte.

»Wir sind so stolz auf dich«, flüsterte sie und fischte eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel. »Du tust das Richtige.«

Keri versuchte zurückzulächeln, war sich aber unsicher, ob es ihr gelang.

Ihr Vater sagte nichts, als er sie an der Schulter drückte. Doch auch er lächelte, obwohl Traurigkeit in seinem Blick lag. Dann kehrte er zu seinem Sessel zurück und eine unangenehme Stille erfüllte den Raum. Worüber sprach man, wenn man nicht wusste, ob man einander je wiedersah?

»Ich muss … was holen«, brachte Keri schließlich hervor und floh aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie schloss die Tür, lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen und atmete tief durch.

Seit Monaten hatte sie gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Dass sie irgendwann vor der Tür stehen und Keri abholen würden. Es war in Ordnung. Sie hatte sich das selbst ausgesucht und es kam ihr auch heute noch richtig vor. Meistens zumindest.

Mit einem Seufzen öffnete Keri die Augen und sah sich um. Es gab nichts, das sie holen musste. Auch das hatten sie ihr schon vor Monaten gesagt. Keris altes Leben würde hierbleiben und es sollte nichts geben, was sie daran erinnerte.

Der Gedanke, sich von all den Dingen zu trennen, tat weh. Da waren die alten Bücher, die sie irgendwann aus der Bibliothek mit heimgenommen hatte, weil sich außer ihr ohnehin niemand für die Geschichten interessierte. Da waren die Kleider, die ihre Freundin Penninah ihr genäht hatte, die Fotoalben voller Erinnerungen an früher und vor allem der Armreif mit den Blumenornamenten. Es war Valerians letztes Geschenk an sie gewesen.

Valerian … Auf Keris Schreibtisch lag ein Blatt Papier. Sie hatte ihm noch schreiben wollen, aber dafür blieb keine Zeit mehr. Vielleicht würde es auch bald keinen Grund mehr dazu geben.

Im Grunde war es gut, dass diese Dinge hierblieben. Sie würden sie nur ablenken und an ihrer Entscheidung zweifeln lassen.

Eines aber musste Keri mitnehmen. Aus ihrem Schrank holte sie ein reich besticktes Leinenkleid. Seit fünf Jahren hatte sie es nicht mehr getragen. Der Stoff war viel zu kühl für diese Jahreszeit und wahrscheinlich würde Keri bald selbst ihre Kleidung ablegen müssen – sie hatte noch nie gesehen, dass die Liminalen etwas anderes als ihre Uniformen getragen hätten, von den Umhängen einmal abgesehen. Aber das Kleid schien ihr für den Moment angemessen.

Sie hatte es gerade angezogen, als es an der Tür klopfte.

»Ja?«, fragte sie zaghaft und erwartete, ihre Mutter zu sehen. Doch zu ihrer Überraschung betrat Max das Zimmer.

Eine Weile musterten sie einander wie zwei Fremde, die einander zum ersten Mal sahen. Und tatsächlich war ihr Bruder in den letzten Jahren für sie zu einem Fremden geworden. Wenn sie einander in der Stadt begegneten, hatte er meist nicht einmal einen abfälligen Blick für sie übrig, und auch in der Familie machte er keinen Hehl aus seiner Abneigung. Es fiel ihr schwer, ihn anzusehen. Sie kratzte sich am Arm.

»Es ist gut, dass du das machst«, sagte er schließlich.

Keri blinzelte überrascht.

»Das ist deine Chance, es wiedergutzumachen«, fügte er hinzu. Er schien mit sich zu ringen, noch etwas sagen zu wollen. Das Unausgesprochene hing in der Luft und Keri wünschte sich, Max würde es aussprechen. Doch er beließ es bei einem letzten Blick und einem Stirnrunzeln. Vielleicht erinnerte er sich an den Tag, an dem er das Kleid zuletzt an ihr gesehen hatte?

Nachdem er gegangen war, starrte Keri eine Weile reglos auf die geschlossene Tür. Die wenigen Worte ihres Bruders hatten sie gefreut und zugleich wehgetan. Ihre ganze Familie schien sicher zu sein, dass sie das Richtige tat. Dass es Kaniwe war, ihr Schicksal. Ihre Chance, die Schuld von sich zu nehmen, die sie vor fünf Jahren auf sich geladen hatte. Vielleicht würden ihre Eltern sie eine Weile vermissen. Aber im Grunde waren sie froh über den Weg, den Keri gewählt hatte. Jetzt konnten sie sie wieder als ihre Tochter bezeichnen.

Keri faltete die Kleidung, die sie ausgezogen hatte, ordentlich zusammen. Ob ihre kleine Nichte sie einmal bekommen würde? Nun würde Max das vielleicht zulassen. Vielleicht wäre er sogar stolz, wenn er seine Tochter in Keris Kleidern sah.

Vielleicht tat Keri tatsächlich das Richtige.

Sie ging wieder nach unten, warf ihrer Familie ein Lächeln zu, das sie erwiderten. Alle. Zu sagen gab es nichts mehr, oder vielleicht auch zu viel, um es auszusprechen.

Keri wandte sich um und ging in die Kälte.

Die Türme von Eden

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