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KAPITEL 8

KONTROLLE

Die Musik pulsierte in der Luft, dröhnend, vibrierend, und der Raum schmeckte nach ihren Farben, die sich beständig änderten und mesmerisierende Spiralen an die Decke malten. Misaki beobachtete die Muster, bis sie nicht mehr wusste, wer sich drehte – sie selbst, die Spiralen oder beide.

Die Menschen um Misaki herum bewegten sich im chaotischen Rhythmus der Musik, zuckende Silhouetten im Schatten der Neonfarben. Normalerweise bereitete es Misaki keine Probleme, sich darin einzufügen. Sie liebte diesen Moment des Loslassens, das gedankenlose Bad in der Menge zwischen den erhitzten Körpern, die selbstvergessen um fremde Menschen wirbelten.

Heute aber gelang es der Musik nicht, sie in ihren Bann zu ziehen. Misaki roch den Schweiß der Tanzenden, sog die stickige Luft ein, die kaum Erfrischung brachte in dem Meer aus Farben und Leibern, das ihr zunehmend Kopfschmerzen verursachte.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Menschenmasse zu. Ein gelber Lichtstrahl zuckte über einige Gesichter hinweg, kurz nur, aber lange genug, dass Misaki Noemi erkennen konnte. Ihre Blicke trafen sich und Misaki wies Richtung Ausgang. Dann kämpfte sie sich durch die stinkenden, zuckenden Körper aus dem Saal, bis sie den ruhigeren Gang mit der Garderobe erreichte.

Sie hatte gerade ihren Trenchcoat in Empfang genommen und war vor die Tür getreten, als Noemi neben ihr auftauchte, im Schlepptau den legbaischen Touristen, der ihr seit Tagen kaum von der Seite wich.

»Was ist los?«, brüllte Noemi. Dann fiel ihr offenbar auf, dass sie nicht mehr gegen die Musik anschreien musste, und sie fragte in normaler Lautstärke: »Ist alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut«, versicherte Misaki. »Es ist nur …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich heute nicht auf die Musik konzentrieren.«

»Verstehe.« Noemi wirkte allerdings nicht überzeugt.

»Die Arbeit war heute anstrengend«, fügte Misaki hinzu. »Ich glaube, ich brauche einfach etwas Schlaf.«

Noemi nickte. »Ist es in Ordnung, wenn ich hierbleibe?«

»Klar«, sagte Misaki. »Ich wünsche euch noch viel Spaß.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Warte«, sagte der Tourist. »Sollten wir sie nicht heimbringen?«, fragte er Noemi.

Sie schaute ihn befremdet an. »Warum?«

»Es ist schon spät«, meinte der Mann aus Legba. »Ist es nicht gefährlich, wenn …« Er verstummte angesichts Noemis Blick.

»Hier ist es nie später als zu einer anderen Uhrzeit«, erinnerte die ihren Begleiter brüsk. »Und wir sind auf Cyberia. Nicht in einem deiner Moloche!«

Ihr Begleiter grinste verlegen. »Schon klar.« Er gab ihr einen Kuss.

»Was zum …« Noemi wich zurück.

»Was ist los?« Der Mann aus Legba schaute völlig verdattert drein. »Habe ich was falsch gemacht?«

»Du kannst mich hier nicht einfach küssen«, zischte Noemi leise. »Nicht in der Öffentlichkeit!«

Der Tourist sah sich um – außer den dreien war nur eine Gruppe Frauen zu sehen, die eben von den beiden Türstehern in den Club gelassen wurde. Niemand achtete auf sie.

»Oh ja, die werden sich alle furchtbar daran stören!«, meinte Noemis Begleiter ironisch.

»Die sind mir doch egal!«, gab Noemi mit einem Händefuchteln zurück. „Aber wir sind mitten in der Kernstadt, weißt du, wie viele Kameras uns aufnehmen?«

»Na und?«, fragte ihr Begleiter. »Was ist dabei? Wir tun doch nichts Verbotenes.«

»Es ist peinlich!«

»Aha, ich bin dir also peinlich?«

»Das hast du jetzt gesagt …«

»Ich ähm, gehe dann mal«, sagte Misaki. Sie ließ den Club und das streitende Pärchen hinter sich und musste unwillkürlich grinsen. Es war festgelegte Nacht, doch auf Cyberia hieß das nicht viel: Eine Dunkelperiode dauerte hier schließlich über dreihundert Stunden und die Orientierung am Tag-Nacht-Konzept des Leitplaneten Legba war bestenfalls ein vager Richtwert. Auch um diese Zeit begegneten Misaki Menschen auf dem Weg zur Arbeit, während andere ihre Mittagspausen in den vielen Restaurants und Cafés verbrachten. Erst bei ihren Reisen auf die Planeten hatte Misaki festgestellt, dass es Orte gab, an denen nachts niemand anzutreffen war und weder Geschäfte noch Cafés geöffnet hatten. Ein weiterer Grund, weshalb sie es schätze, Cyberia nicht allzu häufig verlassen zu müssen.

Ganz im Gegensatz zu Renovas. Obwohl er immer wieder betonte, wie sehr er Cyberia liebte, und obwohl er sich in seine Arbeit kniete wie kaum ein anderer Suchender – mit Ausnahme Jerrams vielleicht – nutzte er jede Gelegenheit, um den Mond zu verlassen. Vielleicht war das ebenfalls ein Grund für ihn gewesen, sich in die Reihen der Liminalen einzuschleusen.

Misaki konnte über dieses Fernweh nur den Kopf schütteln. Sicher, das Leben auf Cyberia ging mit Beschränkungen einher – schließlich gab es außerhalb der Stadt kaum einen Ort auf dem Mond, an dem man sich ohne Schutzanzug aufhalten konnte, und nach Wiesen, Wäldern oder natürlichen Gewässern suchte man hier vergeblich. Dafür brauchte aber niemand zu frieren oder gar zu hungern. Keiner der Planeten kümmerte sich so um seine Kinder wie der kleine Mond Cyberia.

Misaki seufzte. Eigentlich hatte sie den Club besucht, um Abstand von dieser Angelegenheit zu bekommen. In den letzten drei Tagen hatte sie ständig vor dem kleinen Bildschirm gesessen, in der Hoffnung, der rote Punkt würde wieder auftauchen. Einmal hatte er ihr den Gefallen getan – nur um kurze Zeit darauf wieder zu verschwinden, irgendwo auf der Strecke zwischen Legba und Cuchulain.

Zögernd verharrte Misaki an einer Straßenecke, an der sich mehrere Fußgängerbrücken kreuzten. Sie sollte wirklich heimgehen, sie brauchte Schlaf. Andererseits …

Misaki wandte sich nach links, fort von der Richtung, die sie zu der Wohnung führen würde, die sie mit ihren Eltern bewohnte. Sie wusste, sie würde nicht schlafen können, bevor sie nicht noch einmal einen Blick auf den Bildschirm geworfen hatte.

»So solltest du häufiger zur Arbeit kommen.«

Misaki warf Oswin, der im Flur locker am Kühlschrank lehnte, einen giftigen Blick zu. »Das ist jetzt der dritte idiotische Kommentar zu dem Thema!«, fauchte sie und schlang ihren Mantel enger um sich. Sie trug die Klamotten aus dem Club – ein kurzes, orangefarbenes Kleid und schwarze High Heels. Zugegebenermaßen nicht das Outfit, in dem sie normalerweise ihre Abteilung aufsuchte, aber es war nicht so, als verstieße sie damit gegen irgendeinen Dresscode, außer ihren eigenen.

»Was denn, ich wollte dir nur ein Kompliment machen!«

Misaki ignorierte Oswins Kommentar und fragte kühl: »Was tust du um die Zeit hier?«

»Jerram hat deine Position vor dem Bildschirm eingenommen. Ich will sichergehen, dass er wenigstens weich fällt, wenn er vor Müdigkeit umkippt.«

Er holte eine Dose aus dem Kühlschrank. »Aber sag mir lieber, was du hier willst«, sagte er dabei. »Ich dachte, du wärst mit Noemi unterwegs.«

»Das war ich auch. Ich war gerade auf dem Heimweg und wollte nur … nach dem Rechten sehen.«

Oswin warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Nach dem roten Punkt, meinst du.«

Misaki gab eine Mischung aus Kopfnicken und Schulterzucken von sich.

Oswin erwiderte nichts darauf, doch seinem Gesicht war deutlich anzusehen, was er davon hielt. Mit dem Getränk in der Hand wandte er sich nach rechts, wo der Gang am Kontrollraum endete. Misaki folgte ihm.

»Hat Noemi immer noch diesen Typen aus Adad?«, fragte Oswin.

»Nein, aber einen Touristen aus Legba.«

Oswin pfiff durch die Zähne und öffnete die Tür zum Kontrollraum. »Sie tut ja einiges für die Völkerverständigung.«

Jerram schreckte von seinem Bürostuhl in dem ansonsten leeren Raum hoch. »Wer?«, fragte er zerstreut, dann sah er, wer hereingekommen war. »Misaki«, sagte er verwundert und strich sich die schwarzen Strähnen aus der Stirn. Sein Blick blieb kurz an ihrem Aufzug hängen, er sagte aber nichts dazu. »Was tust du hier?«, wollte er stattdessen wissen.

Oswin kam ihrer Antwort zuvor: »Was schon. Ihr beiden könnt bald eine Selbsthilfegruppe für Punktanstarrer gründen!« Er schüttelte den Kopf. »Ernsthaft mal, Leute. Ihr könnt mir glauben, ich mache mir auch Sorgen um Renovas. Aber es hilft ihm nicht, wenn ihr mit Telleraugen vor dem Bildschirm herumsitzt und darauf wartet, dass sein Signal wieder erscheint.«

»Du bist aber auch viel länger als üblich hier«, stellte Misaki fest und setzte sich auf einen Stuhl neben Jerram. Ein Blick auf den Bildschirm genügte, um festzustellen, dass es weiterhin keine Spur von Renovas’ Signal gab. Sie hatte damit gerechnet, spürte aber dennoch einen Stich der Enttäuschung.

»Ja, weil ich Renovas versprochen habe, auf euch aufzupassen«, entgegnete Oswin ungerührt. »Und da Jerram seit drei Tagen nicht geschlafen hat, muss ich wohl hier ein Auge auf ihn haben.«

»So ein Unsinn«, sagte Jerram. »Ich habe zwischendurch geschlafen. Im Gegensatz zu dir muss ich mich aber um einiges kümmern und kann nicht den ganzen Tag damit verbringen, zwischen Kühlschrank und Imbissbude zu pendeln!«

Oswin setzte einen beleidigten Gesichtsausdruck auf. »Die ist für dich gedacht«, sagte er und hielt Jerram die Dose hin. »Extra starker Mate-Eistee, mit einem Gruß unserer auf Adad stationierten Kollegen. Obwohl ich ja finde, dass du eher ein Bett brauchst!«

Jerram nahm das Getränk in Empfang, schenkte seinem Freund aber einen finsteren Blick.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte Misaki, obwohl sie das angesichts des nichtssagenden Bildschirms nicht erwartete.

»Schon«, sagte Jerram langsam.

Misaki drehte sich blitzartig zu ihm um. »Au!« Sie rieb sich den Nacken und erntete ein ungnädiges Lachen von Oswin.

»Nicht viel«, beschwichtigte Jerram sie. »Aber Yusei und Nhan sind inzwischen zu den Koordinaten geflogen, an denen sich das Signal verloren hat.«

»Und?«

»Und nichts«, erwiderte Jerram finster. »Dort ist nichts. Keine Raumstation. Kein Planet. Kein anderer Himmelskörper. Nichts, was groß genug wäre, dass sich dort eine Gruppe Menschen aufhalten könnte.«

»Und der Transporter?«, fragte Misaki. »Was ist mit dem Raumschiff, mit dem Renovas dorthin gereist sein muss?«

Jerram schüttelte den Kopf. »Keine Spur.« Er seufzte. »Wir müssen davon ausgehen, dass die Liminalen einen Weg gefunden haben, die Technik des Chips unwirksam zu machen. Wahrscheinlich sind sie längst nach Eden geflogen – und wir haben ohne das Signal und ohne ein Zeichen von Renovas keinen Anhaltspunkt, wo wir nach ihm suchen sollen.«

»Aber … wenn sie die Technik unwirksam gemacht haben«, Misaki merkte selbst, dass ihre Stimme zu hoch klang, »heißt das dann, dass sie Renovas …?« Sie traute sich nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.

»Das muss gar nichts heißen«, sagte Oswin entschieden. »Wir haben es mit den Liminalen zu tun. Renovas hat uns vorher selbst gewarnt, dass wir nicht wissen, über welche Art von Technik sie verfügen. Sie haben das Neophyt-Serum entwickelt – ein Signal unschädlich zu machen, wird dagegen ein Kinderspiel für sie sein. Das muss aber nicht heißen, dass sie den Chip lokalisiert und Renovas enttarnt haben.«

Jerram nickte. »Im Raum gibt es gerade nicht viel, was wir ausrichten können, auch wenn Yusei, Nhan und ihre Leute weiter die Augen offenhalten. Aber einen Anhaltspunkt haben wir: Legba. Irgendetwas hat die Liminalen dorthin zurückgeführt.«

»Aber wir haben ihre Spur in siebzig Kilometern Höhe verloren«, sagte Misaki trübsinnig. »Wer weiß, wohin sie danach geflogen sind!«

»In Anbetracht dessen, dass sie sich bereits mehr oder weniger im Landeanflug befunden haben müssen, ist die Auswahl gar nicht so groß«, entgegnete Jerram. »Wir haben mit Dae und Tabeo zwei ausgezeichnete Späher auf Legba stationiert. Sie werden das Gebiet, das infrage kommt, für uns auskundschaften.«

»Aber ist es nicht trotzdem ein sehr weitläufiges Gebiet?«, fragte Misaki. »Ich habe mich heute Morgen darüber informiert – gemäßigtes Klima, hauptsächlich Festland, entsprechend dicht besiedelt mit bis zu 195 Einwohnern pro Quadratkilometer. Stellenweise sind dort aber auch riesige, teils unerschlossene Waldgebiete. Es kann Wochen und Monate dauern, bis wir da auch nur auf Hinweise zu den Liminalen stoßen!«

»Möglicherweise«, bestätigte Jerram. »Aber dort befindet sich keine der offiziellen Stationen der Liminalen, von den üblichen Engelstempeln einmal abgesehen. Damit ist der unbekannte Zielort des Transporters ein vielversprechender Anhaltspunkt. Davon abgesehen«, er seufzte erneut, »ist er praktisch unser einziger. Seien wir ehrlich, wir sind nicht gerade die erfolgreichste Abteilung. Ich habe meine Vorgängerin oft kritisiert, weil sie scheinbar nur kopflos Suchende durchs Sternensystem geschickt hat, um einen versteckten Planeten zu finden. Aber ich habe in den letzten acht Jahren auch nicht viel mehr getan. Wir haben uns durch zahllose Texte gequält, Tempel observiert, versucht, die Hinterbliebenen von Neophyten und Verschwundenen zu befragen – aber wir haben nur erreicht, dass uns die Menschen außerhalb Cyberias inzwischen mehr misstrauen als den Liminalen. Renovas’ Engagement ist unsere erste Chance, etwas Konkretes herauszufinden, und der Zielort auf Legba unser erster Anhaltspunkt. Es mag nicht viel sein, aber es ist immerhin etwas. Wir werden sehen, was Dae und Tabeo daraus machen können.«

Oswin nickte. »Das werden wir. Aber vorher geht ihr beiden schlafen.«

Die Türme von Eden

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