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TEIL II

XIBALBA

KAPITEL 1

STIMMEN

Daheim hatte er sie ständig besucht. Erst waren es seine Schmerzen gewesen, die Keri begleiteten, sie Nacht für Nacht schwitzend aufschrecken ließen. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis sie wieder durchschlafen konnte. Doch auch dann konnte sie sich beim Aufwachen an sein Gesicht erinnern. An den fragenden Blick. Seine Anklage. Seine Enttäuschung.

Seit der Heilung, Keris endgültiger Aufnahme in den Kreis der Liminalen, waren seine Besuche selten geworden. Doch in dieser Nacht war er wieder aufgetaucht und hatte sie aus ihrem Traum geschreckt.

Nun lag sie still da, den Blick an die Decke ihrer unbeleuchteten Kammer gerichtet. Sie hatte das Gefühl, dass es mitten in der Nacht war, doch genau konnte sie es nicht sagen. Im inneren Bereich, wo die Schlafräume lagen, gab es keine Fenster, kein natürliches Licht. Erst eine Glocke würde irgendwann den Morgen verkünden.

Seufzend stand Keri auf und tastete sich zur Tür. Sie musste blinzeln, als sie auf den stets hell erleuchteten Gang trat und zum Badezimmer schlich.

Vergeblich versuchte sie, den Gedanken an den nächtlichen Besucher zu verdrängen. Es brachte nichts. Zweimal hatte er sie in ihren Träumen besucht und mit ihr gesprochen, seit sie hier war. Hatte ihr gesagt, wie glücklich und stolz er sei, dass sie hergekommen war. Wie sehr er sie vermisst hatte und dass nun alles gut würde.

Nach seinem ersten Besuch hatte sie ihm geglaubt. Einige Stunden lang zumindest. Dann hatte sie sich in Erinnerung gerufen, wo sie sich befand und aufgehört, ihren Träumen zu trauen.

Nach dem Toilettengang ging sie zurück zur Kammer, zögerte jedoch, sie zu betreten. Sie könnte sich nun wieder hinlegen und versuchen, bis zum Morgen durchzuschlafen. Aber wann hatte der Schlaf ihr je Antworten gebracht?

Mehrere Minuten stand sie vor ihrer Kammer, unschlüssig, was sie tun sollte. Sie trug nichts außer einem weißen Kittel, der Standardkleidung der Liminalen für die Schlafenszeit. Aber sie wusste, wenn sie nun die Kammer betrat, würde sie der Mut verlassen. Sie würde schlafen gehen und am Morgen begänne das Training, wie immer.

Zögerlich wandte Keri sich nach rechts. Ging den kreisförmigen Gang entlang, vorbei an den Kammern ihrer Mitstreiter. Sie erreichte die Metalltür, die aus dem Mittelgebäude hinausführte, in dem die Novizen und der Kuppelsaal untergebracht waren.

Die Tür glitt nicht automatisch auf wie tagsüber, doch als Keri die Klinke hinunterdrückte, gab sie nach. Keri konnte hindurchgehen.

Sie stand nun in einem zweiten Gang, den sie schon von ihren Ausflügen bei Tag kannte. Hier gab es keine Räume. Der Gang war rundherum aus Glas und der Ausblick in die Dunkelheit bestätigte Keris Vermutung: Es herrschte tiefste Nacht, selbst die allgegenwärtigen Nebelschleier waren in der Schwärze nur schemenhaft erkennbar.

Überdachte Brücken führten in die drei Nebenkomplexe, in denen die Speise-, Gebets- und Trainingsräume untergebracht waren, in denen Keri die letzten Wochen verbracht hatte.

Auch in dieser Nacht bewegte sie sich automatisch in Richtung des Saals, in dem die Novizen ihre Mahlzeiten einnahmen. Anstatt aber den Raum zu betreten, ging sie vorbei und bog bei der nächsten Wegkreuzung nach rechts ab. Überall boten die Gänge den gleichen Anblick: Alle waren sie im gleichen Weiß gehalten und keinerlei Bilder oder Verzierungen durchbrachen die schlichte Eintönigkeit. Gelegentlich waren die Gänge durch Metalltüren abgetrennt, die sich jedoch lautlos öffneten, sobald Keri sich ihnen näherte.

Sie hatte kein Ziel vor Augen. Bei Tag war sie die meisten dieser Wege bereits in ihren Pausen gegangen, und keiner hatte ihr eine Antwort oder auch nur einen Hinweis auf ihre Fragen geliefert. Gänge endeten in neuen Gängen, allein die Fenster an den Außenwänden boten etwas Abwechslung. Doch auch sie zeigten nur Nebelfelder über Nebelfelder.

Keri rieb ihre Hände und die nackten Füße aneinander.

Was tue ich hier bloß?

Je länger Keri durch die Gänge mäandrierte, barfuß und in ihrem Kittel fröstelnd, desto häufiger stellte sie sich diese Frage. Im Schlaf mochte sie keine Antworten finden, aber wie sollte das ständige Weiß sie weiterbringen? Wenn die Liminalen sie hier entdeckten, würde sie nur Probleme bekommen.

Dennoch kehrte sie nicht um. Wenn sie aus der Ferne Schritte hörte, bog sie in neue Gänge, durchquerte Trainings- und Versammlungsräume, die sie bisher nur vom Vorbeilaufen kannte. Als sie aus einem der Trainingssäle hinaustrat, stieß sie fast mit einer Dreiergruppe Liminaler zusammen.

Keri schreckte zurück. Sofort nahm die Kälte überhand und ihr stockte der Atem. Niemand hatte den Novizen verboten, durch die Gänge zu gehen, aber ihr Alltag war so streng reglementiert – Keri konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihren Bereich nachts verlassen durften.

Die drei Frauen sahen Keri jedoch nur überrascht an, als sie sie passierten. Vertieft in ihr Gespräch gingen sie kommentarlos weiter, auch wenn eine von ihnen Keri neugierig musterte. Ihr Blick blieb erst am Kittel, dann am Armreif hängen, den Keri wie immer trug. Er schien geradezu mit ihr verwachsen zu sein, sie konnte ihn keinen Zentimeter bewegen.

Auch als die Gruppe vorbei war, blieb Keri noch einen Moment, wo sie war. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und musste sich dazu zwingen, Glieder und Atem wieder zu entspannen. Die Erkenntnis, dass sie offenbar niemand davon abhalten würde, durch die Gänge zu laufen, half ihr, sich zu beruhigen.

Gleichzeitig wurde ihr jedoch bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Alles hier sah gleich aus und sie war so häufig anderen Liminalen ausgewichen, dass sie längst die Orientierung verloren hatte.

Sie bog um eine Ecke und sah links von sich eine Fensterfront. Erleichterung durchfuhr sie. Wenn sie der Front folgte, musste sie früher oder später wieder bei einer der Brücken zum Mittelteil ankommen.

Der Gang lag hier wie ausgestorben. Ungestört ging Keri hindurch, den Blick zu Boden gerichtet. Alles hier war so kahl und kühl. Die Engelstempel auf Demeter, zu denen sie auf der Suche nach Antworten gepilgert war, hatten wenigstens versucht, die Kälte zu vertreiben.

›Hier.‹

Keri schrak hoch. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie nicht mehr allein war. Hektisch sah sie sich um.

Der Gang war leer.

Keri runzelte die Stirn. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Den Kopf über sich selbst schüttelnd, ging sie weiter.

›Keridwen.‹

Sie blieb wieder stehen. Dieses Mal hatte sie sich das sicher nicht eingebildet – jemand hatte ihren Namen genannt, ihren alten Namen, obwohl weiterhin keine Schritte, kein Atem und kein Scharren von anderen Menschen kündeten.

Misstrauisch beäugte Keri die Decke. Schon häufiger hatten die Novizen in den Gängen Anweisungen über nicht sichtbare Lautsprecher erhalten.

Die Stimme gerade hatte allerdings anders geklungen. Flüsternd und seltsam zusammengesetzt. Keri konnte nicht einmal sagen, ob sie zu einem Mann oder einer Frau oder auch nur zu ein- und demselben Menschen gehörte. Außerdem schien sie von nah und fern zugleich gekommen zu sein.

›Folge uns.‹

Keri fuhr herum. Niemand zu sehen.

›Folge uns‹, kam es erneut.

Kamen die Stimmen von draußen? Zögerlich stellte sich Keri ans Fenster und blickte hinaus. Alles, was sie sah, war ihr eigenes Spiegelbild, das ihr mit weit aufgerissenen Augen entgegensah.

»Wer ist da?«, flüsterte Keri. Nach einem Räuspern fragte sie lauter: »Wer spricht da?« Es gelang ihr nicht ganz, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen.

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann ertönte die Stimme erneut: ›Aus den Nebeln. Folge uns.‹

Die Hände an der Fensterscheibe, stellte sich Keri näher ans Glas. Ein frischer Zug gelangte an ihre Lippen und vage meinte sie, Bewegungen in der Dunkelheit zu erkennen. Sie wünschte, das Licht ausmachen zu können.

›In die Nebel.‹

»Seid ihr draußen?«, hauchte Keri gegen die Fensterscheibe und fragte sich gleichzeitig, ob sie eigentlich noch ganz dicht war. Nicht genug damit, dass sie körperlose Stimmen hörte – nun sprach sie sogar mit ihnen.

Wieder herrschte Stille. Dann: ›Wir sind hier. Folge uns.‹

Dieses Mal war sich Keri sicher, dass es mehrere Stimmen waren, die zu ihr sprachen. Und dass sie von draußen kamen. Unwillkürlich trat Keri einen Schritt vom Fenster zurück. Sie umschlang ihre Arme.

»Wohin?«, fragte sie.

Vergeblich wartete sie auf eine Antwort. Eine geschlagene Minute stand sie da, während sich die Kälte in ihren Gliedern langsam weiter vorarbeitete. Dann löste sich Keri vom Anblick des Fensters. Sie wandte sich wieder ihrem Weg zu, bewegte sich nun schneller und hielt sich an der Wandseite.

Je länger das Schweigen anhielt, desto mehr wich ihre Unruhe dem Ärger. Sie fühlte sich beobachtet. Wahrscheinlich hatten sich irgendwelche Nachtwächter einen Scherz mit ihr erlaubt und sie war darauf reingefallen.

›Hinab.‹

Das Wort klang leiser als die Botschaften zuvor. Einen Moment lang blieb es in der Luft hängen, aber Keri versuchte es zu ignorieren. Sie sah nicht mehr zum Fenster.

Endlich erreichte sie eine der Brücken. Nun rannte sie zu ihrem Zimmer. Als sie sich zurück auf die Liege gerettet hatte, lag sie noch lange wach, schrak bei jedem leisen Knacken zusammen und traute sich kaum, die Augen zu schließen.

Als die Müdigkeit sie endlich übermannte, fragte sie sich vage, ob sie überhaupt auf gewesen war. Vielleicht würde die Luft gleich flimmern und sie fände sich an einem See wieder, dessen Wasser viel zu klar war.

Die Türme von Eden

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