Читать книгу Die Türme von Eden - Alessandra Reß - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL 3
ENTSCHEIDUNG
Die meisten Menschen, die nicht enttarnt werden wollten, legten sich eine neue Identität zu.
Dante kehrte zu seiner Alten zurück.
»Twi Dante Feyn«, las die Liminale auf der anderen Seite des Schreibtischs in Legbas Standardsprache vor.
Es war seltsam, so angesprochen zu werden. Wie lange war es her, dass Dante auf diesen Namen gehört hatte? Sechs Jahre, sieben?
Die Frau blickte weiter auf seine ID-Karte, obwohl sie ohne ein Lesegerät nicht viel davon ablesen konnte. Vermutlich wusste sie ohnehin bereits alles über ihn. Wer es bis hierhin schaffte, war gründlich durchleuchtet worden und ein offenes Buch für die Liminalen. Außer man besaß die richtigen Freunde auf Cyberia.
Endlich sah die Liminale auf. »Sie sind auf … Thot geboren?«, fragte sie. Das kurze Zögern machte deutlich, dass sie sich nicht sicher war, wie sie Dantes einstigen Heimatplaneten nennen sollte. Sie hatte sich für die nostalgische Variante entschieden.
»Ja«, entgegnete er wahrheitsgemäß.
Der Blick der Frau war schwer deutbar. Bei seinen Recherchen zu Eden war sie Dante schon häufiger aufgefallen. Beispielsweise war sie auf den Aufzeichnungen aus Adad und Demeter zu sehen gewesen, als man die beiden Neophyten abgeholt hatte. Vor dreizehn Monaten, als einer von ihnen angeblich zurückgekehrt war, hatte Dante die Frau das erste Mal in persona gesehen. Sie hatte sein Interesse geweckt, weil ihre schmale Figur und die lockige Kurzhaarfrisur im ersten Moment deplatziert wirkten in der harten, dunklen Uniform der Liminalen. Doch wenn man sie näher betrachtete, wurde deutlich, dass der Eindruck täuschte: Ihr Körper war schmal, aber auch muskulös, und es ging eine reservierte Kälte von ihr aus, die nur allzu gut zur Uniform passte.
Dante vermutete, dass sie in der Organisation einen hohen Rang einnahm, deshalb überraschte es ihn, ihr nun gegenüberzusitzen. Warum ließ sie sich zu Gesprächen mit jemandem herab, der bisher nicht einmal ein Novize war? War Dante vielleicht doch aufgeflogen?
Nein. Wahrscheinlicher war es, dass sich diese Frau selbst ein Bild von den Menschen machen wollte, die Teil ihrer obskuren Gemeinschaft werden sollten. Die anderen potenziellen Novizen hatte Dante noch nicht kennengelernt, doch er vermutete, dass es nicht allzu viele waren. Die Liminalen gingen schließen nicht einfach herum und fragten, wer sich ihnen anschließen wollte. Ohne die Möglichkeiten der Suchenden hätte Dante nicht gewusst, wie er überhaupt in Kontakt zur Organisation hätte treten sollen, und er fragte sich, wie das jemandem gelingen sollte, der weder Bürger von Cyberia war, noch in Nähe eines ihrer Tempel lebte. Normalerweise suchten sich die Liminalen ihre potenziellen Novizen selbst aus oder nutzten ihre Kontaktpersonen dafür. »Wenige meiner Brüder und Schwestern kommen von Thot«, bemerkte die Frau und riss Dante damit aus seinen Gedanken.
Kein Wunder, dachte er. Niemand verlässt mehr die Ruinen.
»Wann sind Sie von dort weggegangen?«
»Ich war zwanzig.«
»Vor vierzehn Jahren also.«
Es war eine Feststellung, doch Dante spürte die unausgesprochene Frage dahinter. ›War es Zufall oder wurdest du gewarnt?‹ Die Liminale besaß genug Pietät, die Frage nicht zu stellen und stattdessen zur nächsten überzugehen.
»Sind Sie noch einmal zurückgekehrt?«
Dante öffnete den Mund, zögerte aber einen Moment. Die Frage kam überraschend und verunsicherte ihn. In Gedanken ging er den Lebenslauf durch, den er mit Oswin und Misaki erstellt hatte. Laut diesem hatte er seine zerstörte Heimat nie wieder besucht. Trotzdem blieb er lieber bei der Wahrheit, solange es ihm möglich war.
»Ja«, antwortete er daher. »Fünf Jahre später bin ich noch einmal an meinen Heimatort zurückgekehrt.«
Beziehungsweise zu dem, was noch von ihm übrig war.
Wieder so ein schwer deutbarer Blick.
Vielleicht hätte er das doch verschweigen sollen. Aber den Liminalen musste klar sein, dass er bei seiner Rückkehr gründlich durchgecheckt worden war und man ihn nie nach Legba zurückgelassen hätte, wenn er auch nur das geringste Anzeichen einer Kontamination gezeigt hätte.
Nach einem erneuten langen Schweigen fuhr die Frau in ihrer Befragung fort: »Sie haben angegeben, sich uns anschließen zu wollen, weil Sie nach einem neuen Sinn suchen. Nach etwas, woran Sie glauben können.«
Dante nickte. Dieser Teil war Misakis Idee gewesen. Sie fand, das passe zu ihm.
»Und Sie sind sicher, ihn bei uns zu finden?«
»Wenn nicht auf Eden«, entgegnete Dante, »dann nirgendwo.«
»Laut unseren Informationen haben Sie den Ruinenplaneten nie verlassen, bis Sie kurz vor dessen Zerstörung nach Legba gereist sind. Seitdem liegt dort Ihr Lebensmittelpunkt. Berufsbedingt haben Sie einige Monate auf Adad verbracht, ansonsten sind uns nur Kurzaufenthalte auf den anderen Planeten und Sibera bekannt.« Die Liminale benutzte die Bezeichnung der Auswärtigen für Cyberia. Jerram hatte Dante immer wieder eingeschärft, diesen Begriff zu verwenden, solange er sich in der Nähe von Liminalen befand.
»Es gibt noch viele Orte in diesem Sternensystem, die Sie nicht besucht haben und an denen Sie nach Ihrem Sinn suchen könnten«, fuhr die Frau fort. »Warum wollen Sie gerade den Engeln dienen?«
Wieder zögerte Dante. Zwar war die Antwort auf diese Frage durch die vorangegangenen Verhöre längst zur Routine geworden, doch er hielt es für klüger, seine Antwort nicht danach klingen zu lassen.
»Die Schweigenden sind tot«, antwortete er schließlich und blickte auf die Tischplatte. »Es gibt niemanden mehr, der den Menschen einen Weg weisen, der über sie wachen würde. Die Menschen haben versucht, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Aber ich bin Zeuge ihres Versagens geworden.« Die Bitterkeit in seiner Stimme brauchte er nicht zu spielen. »Wo Menschen leben, existiert kein Sinn.«
Die Frau nickte. Sie wirkte zufrieden mit der Antwort.
»Sie haben nun zwei Möglichkeiten, Feyn«, erklärte sie. »Entweder Sie gehen durch die Tür hinaus, durch die Sie diesen Raum betreten haben. Dann bekommen Sie Ihre ID-Karte zurück, bleiben, wer Sie sind, und können gehen, wohin es Ihnen beliebt. Sie werden vergessen, jemals hier gewesen zu sein, wie auch wir Sie vergessen werden. Sie können Ihr Leben frei leben, fern von jeglicher Verantwortung gegenüber der Welt. Oder Sie gehen durch diese Tür.« Sie wies auf einen unscheinbaren Durchgang hinter sich. »In diesem Falle werden Sie sich ab sofort unserer Gemeinschaft unterordnen und ein Teil von ihr werden. Sie werden tun, was Ihnen aufgetragen wird. Sie werden gehen, wohin Ihnen befohlen wird. Sie werden nur noch auf den Namen hören, den wir Ihnen gestatten, und das Leben, das Sie bisher gelebt haben, hinter sich lassen. Sie werden kein Ich mehr sein, sondern ein Wir. Sie werden den Dienern der Welt dienen, und das wird Ihr einziges Lebensziel sein, bis zu Ihrem Tod oder, wenn Sie sich als würdig erweisen, Ihrer Transformation. Es liegt in Ihrer Hand, wie Sie sich entscheiden. Doch bedenken Sie, dass es Ihre endgültige Entscheidung sein wird. Ein Zurück akzeptieren wir nicht.«
Dante hatte nie nachvollziehen können, wieso sich Leute freiwillig den Liminalen anschlossen. Die vier bewohnbaren Planeten und der Mond Cyberia boten so viele Möglichkeiten – was bewog einen da, sich dieser Gemeinschaft aus uniformierten Lügnern und Anhängern einer untergegangenen Zeit anzuschließen? Konnte die kleine Aussicht auf angebliche Unsterblichkeit so groß sein, dass man bereit war, sich diesem Schwachsinn unterzuordnen? Nach dieser Ansprache konnte er sich das noch weniger vorstellen.
Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf. Die ID-Karte lag vor ihm, doch er ignorierte sie. Stattdessen umrundete er den Schreibtisch und öffnete die Tür hinter der Liminalen.
Die nächste Identität wartete.