Читать книгу Die Türme von Eden - Alessandra Reß - Страница 13
ОглавлениеKAPITEL 9
HEILUNG
»Ich hatte recht«, murmelte Dante schlaftrunken. »Es war ein Mensch.«
Talane blickte ihn verunsichert an. »Wer?«, fragte sie.
Dante rieb sich die Augen und wälzte sich herum. »Im Wald …«, antwortete er, setzte sich auf – und blinzelte verwirrt.
Alles war weiß. Weiß und sehr still. Er hörte kein Wasser und keinen Wind mehr rauschen, keine Vögel mehr singen. Kein Flimmern. Vom Regenwald, dem Abgrund oder dem anderen Novizen war nichts mehr zu sehen.
Allein war er jedoch nicht. Im Halbschlaf hatte er geglaubt, Talane neben seiner Liege stehen zu sehen. Dabei sah ihr die junge Frau, die tatsächlich dort stand, nicht einmal ähnlich. Sie war kleiner, hatte viel dunklere Haut und schwere, braunschwarze Haare. Nur ihre hellgrauen Augen erinnerten an die der Verräterin. Es war die Frau, die ihm schon im Schlafsaal vage bekannt vorgekommen war.
Sie war der einzige Farbtupfer in dem Zimmer. Es war winzig, quadratisch und von der Liege über das Laken und die kleine Kommode bis hin zur angelehnten Tür völlig in Weiß gehalten. Ein Fenster gab es nicht.
Selbst das einfache, schmucklose Kleid der Novizin war weiß – ebenso wie die Tunika, die Dante nun an sich selbst bemerkte. Er machte sich lieber nicht zu viele Gedanken darüber, wie sie an ihn gekommen war.
»Entschuldige«, murmelte die Novizin undeutlich. Mit gesenktem Blick schlich sie rückwärts zur Tür, als habe sie Angst, Dante den Rücken zuzukehren. Dieses Schüchterne, Unsichere, erinnerte ihn auch an Talane. An die alte Talane.
Dante schüttelte den Kopf. Er musste endlich aufhören, ständig an sie zu denken.
»Warte«, bat er, warf das dünne Laken zurück und stand auf. Ein leichter Schwindel erfasste ihn wieder, doch er verging so schnell, wie er gekommen war.
Die Novizin blieb unschlüssig an der Tür stehen. »Ich wollte dich nicht wecken«, sagte sie und warf ihm einen kurzen Blick zu, ehe sie wieder zu Boden sah. »Es war nur die einzige offene Tür und ich wollte … Du hast so still dagelegen, ich war mir nicht sicher, ob du noch lebst.« Sie lächelte verlegen.
»Kein Problem.« Dante fuhr sich durchs Haar. »Aber was heißt das, es war die einzige offene Tür? Wo sind wir überhaupt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich bin in einem Raum aufgewacht, der genauso aussah wie dieser. Aber ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Vorher war ich …« Sie zögerte. »Ich war woanders.«
Dante nickte. »Warst du auch im Wald?«
»Im Wald? Welchem Wald?«
»Dem Regenwald. Auf Thot.«
»Nein.« Die Novizin runzelte die Stirn. »Nein, ich denke nicht. In war an einem See. Auf Demeter.«
»Auf Demeter?« Dantes Gedanken rasten. »Bist du dir sicher?«
»Ja«, entgegnete sie ungewohnt entschlossen. »Ich kenne den See von früher. Von daheim.«
Dante nickte erneut und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es ergab auf eine verwirrende Art Sinn, wenn sie beide an Orte aus ihrer Vergangenheit geschickt worden waren.
»Ich war auf Thot«, erklärte er der jungen Frau. »Oder besser gesagt auf dem Ruinenplaneten. Einer der Novizen aus Cuchulain war auch dort. Ich dachte, wir hätten alle dort im Wald festgesteckt.«
»Nein«, entgegnete die Novizin. »Ich war sicher nicht auf dem Ruinenplaneten. Aber wie könnt ihr denn überhaupt dort gewesen sein? Ich dachte niemand könne auf dem Planeten atmen. Wegen des Tacids.«
Dante sah sie überrascht an. Er hätte nicht erwartet, dass ein Mädchen aus Demeter den Fachbegriff des Gifts kannte, das auf Thot verwendet worden war. Demeter galt nicht gerade als der fortschrittlichste oder gebildetste Fleck Aditis und selbst auf Cyberia oder Legba kannten viele nur die Bezeichnungen »Schweigendes Gift« oder »Schweigender Tod«.
»Die Engel haben über uns gewacht«, antwortete Dante ihr lahm.
Er dachte an das Serum, von dem Talane gesprochen hatte. Wiederum kam Dante der Gedanke, dass sie ihn mit ihrem Gerede von den Nebenwirkungen nur davon hatte abhalten wollen, den Wald zu betreten. Aber warum?
»Natürlich«, entgegnete die Novizin nach einem Moment des Schweigens. »Die Engel.«
Dante entging nicht ihr Unterton. Sie klang enttäuscht und fast ein wenig … bitter?
Neugierig musterte er sie. Schon zuvor hatten sich die meisten anderen Novizen nicht als die erwarteten Fanatiker entpuppt. Aber eine Novizin, die geradezu kritisch auf eine Aussage zum Wirken der Engel reagierte? Das war neu. Und der näheren Beobachtung wert.
Vielleicht war ihr ebenfalls aufgefallen, dass ihr Ton unangemessen war. Jedenfalls fiel ein Schatten auf ihr Gesicht und sie wandte sich ab, wobei Dante den Armreif bemerkte, den sie am linken Arm trug. Instinktiv blickte er zu seinem eigenen Handgelenk. Kein Reif.
»Ich sehe mich mal weiter um«, sagte sie.
»Warte!«, rief Dante erneut. »Du warst also an einem See?«, fragte er, vor allem, um sie davon abzuhalten, einfach zu gehen.
Sie nickte.
»Und du weißt auch nicht, wie du von dort wieder hergekommen bist?«
Ein Kopfschütteln.
Dante seufzte. »Dann haben sie jeden von uns irgendwo hin- und wieder zurücktransportiert? Wie viel Zeit muss dabei vergangen sein?«
Sie zuckte mit den Schultern.
Unschlüssig standen sich die beiden in der Kammer gegenüber, bis die Novizin sagte: »Also, ich gehe mal gucken, ob ich noch jemanden finde.«
»Ich komme mit.« Dante blickte sich im Raum um, doch es gab nichts, was er mitnehmen konnte.
Er folgte der Novizin in einen röhrenartigen Gang, ebenso weiß wie die Kammer. Von der Decke kam ein helles Leuchten, obwohl Dante keine Lampen entdecken konnte. Auf der rechten Seite fanden sich in regelmäßigen Abständen Türen, die identisch zu jener waren, die in seine Kammer geführt hatte.
»Die meisten sind abgeschlossen«, erklärte die junge Frau an seiner Seite und drehte vergeblich am Knauf der nächsten Tür.
Erst an der vierten Tür hatten sie Erfolg, doch die Kammer war leer, das Laken auf der Liege zurückgeschlagen.
»Mein Name ist übrigens Dante«, stellte Dante sich seiner Begleiterin vor, während sie weiter dem Gang folgten. Ihm fiel auf, dass sie sich in einem weitläufigen Kreis bewegten.
»Ich weiß«, antwortete die Novizin und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Ich heiße Keri, eigentlich Keridwen. Aber … das ist jetzt auch egal, oder? Sie geben uns andere Namen.«
Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage, aber Dante nickte dennoch. »Habe auch sowas gehört.«
»Ich frage mich aber, warum. Sie haben ganz normale Namen, dann können wir ebenso gut … Aber sie werden natürlich wissen, warum sie das tun.« Sie warf einen Seitenblick auf Dante.
Der musste lächeln. Offenbar war er nicht der Einzige, der Angst hatte, etwas Falsches zu sagen.
Einmal mehr rüttelte Keri vergeblich an einem Knauf. Sie gingen weiter und erreichten schließlich eine aus Metall gefertigte Tür.
Keri musterte sie misstrauisch, doch Dante zuckte nur mit den Schultern und drückte die Klinke hinunter. Er blinzelte erstaunt, als er sah, was dahinter lag.
Vor ihnen tat sich ein weiter Kuppelsaal auf, beinahe so groß wie der Krater im Wald. Wände und Boden waren weiß, die Decke jedoch aus Glas.
Draußen waren nur undurchsichtige Schleier zu erkennen, die Dante an eine Nebelbank oder das Herz einer gigantischen Wolke erinnerten. Die Sonne ließ sich allenfalls erahnen. Wasser floss die Kuppel hinab, den Ursprung konnte Dante aber nicht ausmachen.
Trotz der Nebelmasse überfiel Dante bei dem Anblick ein Gefühl der Sehnsucht, der Freiheit. Ein beruhigender Eindruck der eigenen Bedeutungslosigkeit stellte sich unter dieser gewaltigen Kuppel ein, hinter der sich eine verheißungsvolle Weite verbarg. Dante spürte das Versprechen, vom Wind davongetragen werden zu können, wenn nur jemand die Decke öffnen würde. Es war ein seltsam friedlicher Gedanke.
Aber warum sollte ich davongetragen werden wollen?
Als Dante diese Frage durch den Kopf schoss, änderte sich das Gefühl. Der Wunsch, loszulassen, verschwand so schnell, wie er gekommen war, machte stattdessen Misstrauen und Verwirrung Platz.
Dante sah sich um und wurde der anderen Novizen in dem weiten Raum gewahr. Nicht weit von ihm stand ein junger Mann mit kurzen grünen Haaren. Verzückt starrte er in den Himmel, offenbar völlig gefangengenommen von dem Anblick, der sich ihm bot. Keri dagegen beäugte die Kuppel äußerst skeptisch.
Außer den beiden warteten drei weitere Novizen im Saal, darunter der Cuchulainer, den Dante aus dem Krater gezogen hatte. Er war der Einzige außer ihm, dessen Aufmerksamkeit nicht der Kuppel galt. Stattdessen schaute er geradewegs zu Dante und kam auf ihn zu.
Mit verschränkten Armen blieb er vor ihm stehen und musterte Dante.
»Danke«, sagte er mit kratziger Stimme. Er räusperte sich. »Danke und … entschuldige.«
Dante runzelte die Stirn. »Wofür entschuldigst du dich?«
Aus den Augenwinkeln bemerkte er Keris neugierigen Blick.
»Ich habe versagt«, sagte der Cuchulainer mit fester Stimme. »Ich habe die Prüfung nicht bestanden und was noch schlimmer ist«, er zögerte kurz, »ich habe das Mädchen nicht gerettet. Das hat mich … mitgenommen. Ich habe nur Mist geredet, ich hatte mich nicht unter Kontrolle und war eine Belastung. Es tut mir leid.«
»Das macht nichts«, entgegnete Dante und musterte nun seinerseits den Novizen. Er wirkte müde, aber längst nicht mehr so verstört wie im Wald. »Aber von welchem Mädchen sprichst du? Ich habe niemanden dort gesehen außer dir und … Am Krater war niemand sonst.« Dante hatte keine Lust, Talane zu erwähnen. Ihm fielen wieder die ersten Schreie ein, die er vernommen hatte. Sie hatten anders geklungen. Nicht so tief wie die des Cuchulainers. Waren es die des Mädchens gewesen? Hätte Dante ihr helfen können, wenn er nur nicht länger auf Talane gehört hätte? Hatte Talane ihn schon wieder dazu gebracht, jemanden im Stich zu lassen?
»Ich kenne ihren Namen nicht«, antwortete der Novize. »Ich habe sie schon einmal gesehen, an dem Tag, an dem … sie starb.« Er schwieg kurz und warf Keri und Dante einen trotzigen Blick zu. »Ich weiß, das klingt bescheuert. Aber es ist die Wahrheit. Sie war tot, aber nun stand sie wieder im Dschungel und ist erneut gestorben.«
»Sie bringen die Toten gerne wieder«, flüsterte Keri so leise, dass Dante sie kaum verstand.
In diesem Moment öffnete sich eine der vier Messingtüren, die in den Saal hineinführten. Eine Frau mit auffälligen kreisrunden Narben im Gesicht kam mit zögerlichen Schritten herein. Kaum erblickte sie die Kuppel, starrte sie ebenso fasziniert nach oben wie die anderen.
Dante runzelte die Stirn. Wie gefangen müssen wir uns fühlen, wenn uns dieser Anblick so beeindruckt?, schoss es ihm durch den Kopf.
»Novizen«, erklang plötzlich eine weibliche Stimme, hallte durch den ganzen Saal und schien von überall zugleich zu kommen. Keri zuckte zusammen und Dante suchte nach einem Lautsprecher, konnte aber keinerlei Technik in dem Raum aus Glas und weißer Wand entdecken.
»Willkommen auf Eden.«
Der Cuchulainer sah Dante entgeistert an.
›Eden?‹, formten seine Lippen.
Dante zuckte mit den Schultern. Hinter ihm lachte Keri leise. Er drehte sich um und sie lächelte ihn schief an. »Die Türme«, sagte sie. »Die Türme über den Wolken.«
Da fiel Dante auf, dass sie Recht hatte. Die Wolkentürme. Dieser Ort entsprach tatsächlich einigen Beschreibungen über Eden, wenn man mal vom angeblich glitzernden Himmel absah.
»Eden«, sagte der Cuchulainer voller Ehrfurcht. »Wir sind tatsächlich auf Eden.« Das erste Mal, seit Dante ihn sah, strahlte er übers ganze Gesicht.
Dante selbst konnte diese Begeisterung nicht teilen. Wenn es stimmte, wenn sie tatsächlich Eden erreicht hatten, dann war er seinem Ziel ein ordentliches Stück nähergekommen.
Dennoch spürte er gegen seinen Willen Enttäuschung. Er mochte den Geschichten über den Planeten der Engel, den Malereien von Elfenbeintürmchen und einer glitzernden Welt, keinen Glauben geschenkt haben. Aber etwas war in ihm gewesen, das sich von dem Mythos mehr erhofft hatte als dieses sterile, trutzige Gebäude zwischen Nebelschleiern.
»Betretet die Kreise«, meldete sich erneut die Stimme über die Lautsprecher.
Dante und die anderen beiden sahen sich ratlos um.
»Dort!« Keri wies zur Mitte des Raums, wo bereits einige der anderen Novizen Aufstellung in einem Halbkreis genommen hatten.
Dante entdeckte die runden, leicht erhabenen Felder, die im Kreis angeordnet waren, erst, nachdem die drei näher herangetreten waren. Nach und nach nahm jeder der sieben Novizen seinen Platz in einem der Felder ein. Nicht alle wurden besetzt.
»In der letzten Nacht hat sich jeder von euch seiner Prüfung gestellt«, ertönte wieder die Stimme. »Ihr habt den Engeln eure Makel offenbart, jene Erinnerungen, jene Taten, die eurem Dasein als Dienersdiener im Weg standen. Die Kinder der Schweigenden haben euch heute Nacht die Möglichkeit gegeben, diese Makel auszugleichen. Sie wiedergutzumachen. Eine Chance, die nicht alle Novizen ergriffen haben. Ihre Herzen und ihr Verstand waren bereit, den Engeln zu dienen, doch ihre Seelen blieben verhaftet im Menschlichen. Sie waren nicht bereit, sich für andere aufzugeben. Sich von der Bedeutungslosigkeit des menschlichen Daseins zu lösen, um der Welt durch ihre Taten zu ihrer neuen Bestimmung zu verhelfen. Ihr aber habt bewiesen, dass ihr mehr seht als euch selbst. Jeder von euch war heute Nacht bereit, seine eigenen Belange für jemand anderen zu opfern. Euer Altruismus hat euch das Tor geöffnet zu den höchsten Weihen, die ein im Leben verankerter Sterblicher empfangen kann. Er hat euch das Tor zur Heilung geöffnet, mit der ihr endgültig ein Teil von Eden werdet.« Die Stimme ließ den Umstehenden einen Moment, das Gesagte zu verdauen, ehe sie ergänzte: »Willkommen in der Gemeinschaft der Liminalen, wo niemand jemand und niemand jemand anderes denn ein Diener der Kinder der Schweigenden ist. Willkommen im Reich der Engel.«
In der Stille, die folgte, hörte Dante den Atem der anderen Novizen, die erstarrt in ihren Kreisen standen, manche mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen, andere die Augen vor Verzückung oder Staunen geweitet.
Dante schwirrte der Kopf. Er bewegte den Mund, während er versuchte, die Worte zu rekapitulieren und ihren Sinn zu verstehen. Das Gerede um den Altruismus war nichts Neues und dass die Engel Nachkommen der Schweigenden waren, ebenfalls ein weit verbreiteter Glaube. Aber was hatten die ersten Aussagen zu bedeuten? ›Ihr habt den Engeln eure Makel offenbart, jene Erinnerungen, jene Taten, die eurem Dasein als Dienersdiener im Weg standen.‹ Natürlich, nun war er sich endgültig sicher, dass die Liminalen Talane im vollen Bewusstsein ihrer Bedeutung für ihn geschickt hatten. Aber …
Eine Vibration riss ihn aus seinen Gedanken.
Die runden Plattformen wurden langsam in den Boden eingelassen und die Umgebung flimmerte.
Alarmiert sah Dante nach rechts, wo Keri stehen sollte, aber sein Blickfeld bestand nur mehr aus kleinen, schillernden Quadraten, sodass er die Novizin nicht mehr erkennen konnte. Die Realität hatte sich scheinbar in Pixel aufgelöst.
Das Einzige, was Dante klar sehen konnte, war das Weiß der Wände. Aber etwas war seltsam. Obwohl ihm seine Augen zeigten, dass die Plattform nach unten fuhr, hatte er vielmehr den Eindruck, nach oben gezogen zu werden.
Schwindel erfasste ihn und er musste die Augen schließen. Das Gefühl, nach oben zu gleiten, wurde stärker und die Bewegung schneller. In Dantes Ohr klingelte es und er hob die Hand, um sich abzustützen, fasste jedoch ins Leere. Überrascht riss er die Augen auf, doch da nahm die Geschwindigkeit wieder ab, wurde zu einem sanften Dahingleiten, ja, fast zu einem Schweben.
Staunend blickte Dante sich um. Wände und Flimmern waren verschwunden, selbst die Plattform befand sich nicht mehr unter ihm. Um ihn waren Wolken, ein Meer von Wolken, die Dantes Körper mit neugieriger Wärme umspielten.
Seine Füße verloren sich in den weißgrauen Schlieren, aber er nahm es nur mit beiläufigem Interesse zur Kenntnis. Seine Gedanken fühlten sich so leicht an wie alles um ihn herum und er hinterfragte nicht mehr, weshalb er durch die Wolken getragen wurde, die immer heller leuchteten.
Schließlich verebbte die Bewegung und Dante fand sich in einer strukturlosen, weißgrauen Umgebung wieder, die einerseits den Eindruck von Weite vermittelte, andererseits aber fest und undurchdringlich wirkte.
Dante bot sich in alle Richtungen nur das gleiche Nichts, und am Rande seines Bewusstseins regte sich Unruhe. Bevor sie aber weiter vordringen konnte, erschien ein Punkt in der Ferne, noch heller als die Umgebung. Es war ein vager Schemen, halb verdeckt von wabernden Nebeln, doch er wurde rasch größer. Dante beobachtete, wie sich eine menschliche Form aus den Wolken schälte, groß, schlank und anmutig. Der Körper machte den Anschein, von innen heraus zu leuchten, und als der Mensch, nein, dieses Wesen, vor Dante zum Stehen kam, bemerkte er die alabasterweiße Haut, die tatsächlich wie aus Stein gehauen wirkte. Der Eindruck verstärkte sich umso mehr durch den nur leicht taillierten, androgynen Körperbau, den völligen Mangel an Haaren und die farblosen Augen, die milde lächelnd auf Dante hinabblickten.
Alles an diesem Wesen wirkte seltsam maskenhaft, unecht. Dennoch war sich Dante sicher, nie in seinem Leben etwas so Schönes gesehen zu haben.
»Sei gegrüßt, Dante«, sprach das Wesen mit heller, gutmütiger Stimme.
Dante wollte etwas erwidern, doch seine Lippen zitterten, und so brachte er kein Wort hervor.
»Du musst keine Angst vor mir haben.« Das Lächeln des Wesens wurde noch sanfter. »Du musst vor nichts mehr Angst haben. Angst braucht nur zu haben, wer allein in der Masse ist. Aber du bist nicht allein und es gibt keine Masse mehr. Nur mehr viele, irgendwann alle und vielleicht einen. Du bist jetzt ein Teil von Eden.«
»Wer…«, brachte Dante hervor, verbesserte sich jedoch sogleich: »Was bist du?«
Das Lächeln wurde breiter, Grübchen bildeten sich und das Wesen trat einen Schritt zurück. »Ein Engel natürlich.«
Ungläubig betrachtete Dante sein Gegenüber, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein.« Sein Kopfschütteln wurde stärker, seine Stimme panisch. »Nein«, rief er immer wieder, immer heftiger und schloss die Augen. »Nein, nein, nein!«
Tief in seinem Inneren schlummerten weitere Worte. Worte des Unglaubens, der Verwirrung, vielleicht auch des Zorns und der Frustration. Doch sie waren zu leise, um sie aussprechen zu können. Er konnte nur verneinen.
»Dante«, drang die Stimme des Wesens an sein Ohr, weiterhin sanft, weiterhin gutmütig.
Ein Hauch glitt über Dantes Kopf und ihm stockte der Atem. Das Wesen stricht ihm über die Stirn und er hörte auf zu schreien, erstarrte stattdessen.
»Beruhige dich«, sagte das Wesen und in seiner Ruhe schwang ein Befehl mit, ruhig und bestimmt. Sehr bestimmt.
Dante beruhigte sich.
»Hör auf zu zweifeln«, sprach das Wesen mit leichtem Tadel. »Es gibt keinen Grund mehr dazu. Du bist hier. Du siehst. Du verstehst. Du wirst geheilt.«
Hände, die sich kalt anfühlten und zugleich Wärme ausstrahlten, umfassten Dantes Kopf zu beiden Seiten. Er öffnete die Lider und fand sich Auge in Auge mit dem lächelnden Wesen wieder.
»Du bist hier«, wiederholte es und seine Stimme klang nun wie aus weiter Ferne.
Das Gefühl der Leichtigkeit kehrte zurück. Dantes Widerstand schwand so schnell, wie er gekommen war, und er schwebte durch die Luft, den Blick auf das Wesen gerichtet.
»Du siehst«, sagte es und da erkannte Dante die filigranen, silbernen Flügel, die metallisch funkelnd aus dem Rücken des Wesens brachen und sich hinter ihm ausbreiteten wie ein Schleier, der sich im Wind aufbauschte.
»Du verstehst.«
Sie flogen höher und höher und bald meinte Dante, zwischen den Wolken Gebilde zu erkennen. Schmale Wände in Weiß und Perlmutt, hier und da ein metallisches Glänzen, die Ahnung von Wasser. Dann brachen sie durch die Wolkendecke und Dante sah hinab und erblickte die Türme über den Wolken. Filigran wie die Flügel, weiß wie die Haut des Engels thronten sie im Himmel, zerbrechlich und wunderschön. Und darüber, über Dante und dem Engel, glitzerte die Welt in tausend Schattierungen von Weiß.
»Du wirst geheilt.«