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KAPITEL 2

GEMEINSCHAFT

Von der Mitte des Raumes aus blickte Dante durch das Glas der Kuppel nach draußen. Er wusste, dass sich die Nebel darüber nicht lichten würden. Und dennoch hoffte er darauf, dass dieser Ort seine Geheimnisse endlich preisgab.

Er tat ihm diesen Gefallen nicht.

Dante verlor das Zeitgefühl, während er dort stand und in den grauen Himmel blickte, der neben dem gigantischen, sterilen Gebäude alles war, was er von seiner neuen Heimat kannte. Irgendwo darüber, oberhalb der Nebel, wartete mehr. Ein Versprechen, eine Vision, die jedem Novizen am Tag seiner Aufnahme in die Reihen der Diener zuteilwurde, und von der Dante nicht wusste, wie viel Wahrheit sie verbarg.

Seit diesem Tag vor knapp acht Wochen hatte er jedenfalls keinen Engel und keines der Wunder über den Wolken mehr gesehen.

Seine Tage verbrachte er damit, in den weitläufigen Hallen mit den anderen Novizen zu trainieren. Den Morgen über lernten sie, sich waffenlos zu verteidigen, nur ab und zu unterbrochen von Lehrstunden über die Engel, die jedoch wenig mehr als Lobpreisungen enthielten. Das Mittagessen nahmen die Novizen in einer Kantine zu sich, wo sie auch die anderen Liminalen zu Gesicht bekamen. Nach dem Waffentraining am Nachmittag fielen sie meist nur noch mit schmerzenden Gliedern ins Bett. Kurz danach läutete ohnehin meist schon eine Glocke die Nacht ein. Die Tage hier waren kurz und die Liminalen schienen sich nur vage am Standardrhythmus von Legba zu orientieren.

Anfangs hatte Dante versucht, die wenige freie Zeit dazu zu nutzen, mehr über Eden herauszufinden. Doch die paar Male, die er es geschafft hatte, sich von den anderen zu lösen, konnte er nichts entdecken außer einem Labyrinth weißer, schmuckloser Gänge, die Schlafkammern und Trainingshallen, Gemeinschaftszimmer, Lehrräume und abgeriegelte Waffensammlungen miteinander verbanden. Dante wunderte das. Immer wenn er sich das Hauptquartier der Liminalen ausgemalt hatte, war es eine strenge, aber auch stattliche Umgebung gewesen. Gesäumt von Engelsstatuen und Gemälden der Wunder von Eden. Aber nichts dergleichen. Die Heimat der Liminalen war leer.

Wenn ihre Trainer nicht bei ihnen waren, kamen selbst die Anweisungen häufig scheinbar aus dem Nichts, ohne dass Lautsprecher oder andere Quellen sichtbar gewesen wären. Die anderen Novizen hatten sich inzwischen daran gewöhnt und taten das Phänomen mit einem Schulterzucken ab. Dass die Liminalen über ausgefeilte Technik verfügten, war schließlich kein Geheimnis. Allein schon das Neophyt-Serum war der Beleg für die außergewöhnlichen Forschungen, die die Liminalen vollzogen – auf welche Art auch immer.

Doch Dante kam aus Cyberia. Er war es gewohnt, ständig auf technische Neuheiten zu treffen, die die Forscher und Ingenieure in den Werkstätten des Mondes entwickelten und in der Metropolis austesteten. Manche dieser Erfindungen schienen wie aus einer anderen Welt – die STFs, mit denen man in wenigen Stunden ganz Cyberia umrunden konnte, die Translatoren, die einem selbst den unverständlichsten adadschen Dialekt übersetzten, oder die Cyborgs, an denen kaum mehr etwas an die Menschen erinnerte, die sich unter all der Technik verbargen.

Doch so unglaublich all das auch im ersten Moment wirken mochte: die Technologie dahinter war Dante bei näherer Betrachtung stets nachvollziehbar gewesen. Er hatte zwar nicht verstehen können, wie es Leuten gelang, so etwas zu entwickeln. Aber er hatte verstehen können, dass es ihnen gelang.

Die Technologie der Liminalen jedoch war Dante ein Rätsel. Die Stimmen klangen natürlich, nicht in irgendeiner Form verstärkt oder verändert, und ähnlich war es mit den Lampen, die mal mehr, mal weniger helles Sonnenlicht vorgaukelten. Beides erinnerte Dante vage an die Technik, mit der er auf Thot aufgewachsen und die mit dem Planeten untergegangen war. Aber auch sie war auf sichtbare Medien angewiesen gewesen.

Dantes Gedanken glitten zu dem Chip in seinem Körper. Ob er seinen Aufenthaltsort und damit den Standort des Hauptquartiers der Liminalen preisgab? Falls an diesem Ort ausschließlich die Technik von Eden funktionierte, bezweifelte Dante das.

»Was siehst du dort?«

Dante fuhr herum. Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich Conlai ihm genähert hatte.

Seine Herkunft sah man dem Cuchulainer inzwischen nicht mehr an: Der Undercut war nachgewachsen und seinen Zopf hatten die Liminalen unmittelbar nach dem Initiationsritus, der Heilung, abgeschnitten. Zudem war es ihnen irgendwie gelungen, Conlais Stammestätowierungen zu entfernen. Die feinen Narben, die an ihre Stelle getreten waren, fielen höchstens in den hell beleuchteten Gängen und Trainingsräumen auf.

Wie alle Novizen trug der Cuchulainer nun die schwarze Uniform der Liminalen. Xavier, einer der beiden Kampftrainer der Novizen, hatte ihnen nach der Heilung erklärt, ihre Inkorporation erfolge erst, »wenn sie sich verdient gemacht haben«, was auch immer das hieß. Die Uniform durften sie aber auch jetzt schon tragen.

»Entschuldige«, sagte Conlai nun. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er musterte Dante von Kopf bis Fuß, wie er es oft tat. Anfangs war es Dante unangenehm gewesen. Inzwischen hatte er sich jedoch daran gewöhnt. Es war nur eine von vielen Eigenarten des Novizen.

»Macht nichts.« Dante sah ein weiteres Mal nach oben, zur Kuppel. »Und … Nebel. Einfach nur Nebel«

Da Conlai ihn verwirrt ansah, ergänzte Dante: »Du hast mich gefragt, was ich dort sehe. Ich sehe nichts außer diesem ewigen Nebel.«

Conlai nickte und warf Dante einen Blick zu, den der nur schwer deuten konnte. Seit er Conlai aus dem Krater gezogen hatte, wirkte der junge Mann sehr verschlossen. Nicht auf dieselbe Art wie Keri, die nur sehr langsam auftaute und darauf wartete, bis alle still waren, ehe sie sich traute, selbst etwas zu sagen. Nein, Conlai wirkte nicht schüchtern, eher … verbissen. Selbst bei den Trainingseinheiten, wenn die anderen vor Schmerz aufstöhnten und das Ende der Stunden herbeisehnten, verzog Conlai höchstens das Gesicht, wenn ihm eine Übung nicht sofort gelang. Er wiederholte sie dann so lange, bis sie perfekt war. Dabei war er ohnehin schon der mit Abstand beste Kämpfer von ihnen!

»Und was siehst du?«, fragte Dante, als von dem Cuchulainer wie so oft nichts mehr kam.

Die Antwort ließ auf sich warten. »Hoffnung«, sagte er schließlich.

Dante musste sich zusammenreißen, um darauf keine zynische Antwort zu geben.

»Dort, wo ich früher gelebt habe, gibt es einen heiligen Ort«, fuhr Conlai fort und blickte nun seinerseits zur Kuppel. »Er liegt in einem Tal, zu dem die Sonne ihren Weg nie findet. Es heißt, einst habe ein Schweigender, der Herr des Todes, dort gelebt. Die Menschen gehen an diesen Ort, wenn sie nicht weiterwissen.«

»Warum?«

»Er gibt ihnen Hoffnung. Hoffnung, dass sie nicht allein sind. Dass es irgendeinen Sinn gibt. Hinter ihrem Dasein, hinter ihren Problemen. Wenn sie zurückkehren, tragen sie Zuversicht in sich. Dieser Saal erinnert mich daran.«

Dante runzelte die Stirn. »Die Leute suchen Hoffnung an einem Ort, an dem der Tod gelebt haben soll? Auch noch ein … toter Tod?«

Er meinte, einen Anflug von Missbilligung in dem Blick zu sehen, den Conlai ihm zuwarf. Natürlich, gerade die Cuchulainer verehrten die Schweigenden noch immer. Ihrer Auffassung nach waren die alten Götter nicht gestorben, sondern nur in einen anderen Bewusstseinszustand übergegangen, von dem aus sie weiter die Geschicke der Menschen lenkten.

»Der Tod ist Teil des Lebens«, entgegnete Conlai. »Und er zeigt uns, dass es Bereiche gibt, über die wir keine Kontrolle haben.«

Dante verbiss sich die Frage, was daran beruhigend sein sollte. Stattdessen sagte er: »Die Liminalen sind da aber anderer Ansicht.«

Conlais Blick flackerte und seine Stimme wurde leiser: »Die Engel und die zum Engeldasein Auserkorenen sind anders«, sagte er. »Sie sind keine Menschen. Sie tragen den göttlichen Geist in sich.«

»Das gilt aber sicher nicht für alle Liminalen.« Kaum hatte Dante es ausgesprochen, verfluchte er sich schon dafür. Jerram hatte Zweifel gehabt, ausgerechnet ihn bei den Liminalen einzuschleusen. Er hatte gesagt, er sei zu impulsiv und betrachte die Organisation nicht mit der nötigen Neutralität. Damals hatte sich Dante über den Kommentar geärgert und war nur umso überzeugter davon gewesen, diesen Weg gehen zu müssen. Inzwischen musste er Jerram insgeheim Recht geben – es fiel Dante schwer, sich mit seiner Meinung über die Liminalen zurückzuhalten. Der Engel mit den Metallflügeln, der ihm bei seiner Heilung erschienen war, beschäftigte ihn zwar mehr, als er sich eingestehen wollte. Aber es gab viele Möglichkeiten, wie die Liminalen die Vision hätten hervorrufen können. Solange Dante nicht in vollem Bewusstsein einem Engel gegenübertrat, würde er seine Meinung über die Organisation nicht ändern.

Doch zu seiner Überraschung nickte Conlai. »Sicher nicht«, antwortete er ungewöhnlich finster. »Die Liminalen sind Diener der Übermenschen. Sie haben ihre Schwächen erkannt, aber das eliminiert diese nicht.«

»Aber Xavier sagte uns, als Liminale erhielten wir nach unserem Tod die Chance, zu Engeln zu werden.«

»Einige können das«, bestätigte Conlai langsam. »Aber sicher nicht alle. Ich bin nicht hier, um ein Engel zu werden.«

»Ich auch nicht«, beeilte sich Dante zu sagen. »Aber …«

»Du kannst einer werden«, unterbrach Conlai ihn. »Du hast bei meiner Rettung bewiesen, dass du den Geist der Schweigenden in dir trägst. Ich dagegen habe versagt. Aus mir wird kein Engel und ich wäre ihrer auch nicht würdig.« Sein Gesicht wurde verschlossen. »Ich will den Engeln dienen, weil sie besser sind als die Menschen. Weil sie besser sind als ich.«

»Natürlich bist du ihrer … würdig«, widersprach Dante. »Sonst wärst du nicht hier.«

»Ich bin hier, weil du mich gerettet hast. Ich dagegen habe niemanden gerettet und bei meiner Prüfung versagt.«

»Du hast versucht, das Mädchen zu retten«, sagte Dante. »Und das, obwohl du dich damit selbst in Gefahr gebracht hast. Das ist es, was für die Engel zählt.«

»Ich habe zu lange gezögert«, entgegnete Conlai tonlos. »Deshalb ist sie in den Abgrund gestürzt. Schon wieder habe ich gezögert. Sie haben mir eine Chance gegeben, es wiedergutzumachen, aber ich habe sie nicht ergriffen.«

»Eine Minute später und ich wäre auch zu spät gewesen!«

»Du warst aber keine Minute zu spät. Du warst wie die Neophyten. Sie werden nicht zu Engeln, weil sie andere zu retten versuchen, sondern weil es ihnen gelingt und sie dafür ihr Leben geben.«

»Ich habe aber nicht mein Leben gegeben«, entgegnete Dante gereizt. Er schätzte die Gesellschaft des verschlossenen Cuchulainers inzwischen, was ihn selbst überraschte und auch beunruhigte – er war nicht hergekommen, um Freundschaften zu schließen. Schon gar nicht mit einem wie Conlai, der jede Gelegenheit nutzte, um die Schweigenden und die Engel zu preisen. Dennoch mochte er den Novizen. Auf dessen Drang danach, Dante zu überhöhen, weil er ihn aus dem Krater gezogen hatte, hätte er aber gut verzichten können. »Im Gegensatz zu dir habe ich mich nicht einmal in Gefahr gebracht«, fuhr Dante fort. »Du warst derjenige, der fast gestorben wäre, um jemanden zu retten.«

»Natürlich warst du in Gefahr. Der Boden ist einfach unter uns weggebrochen!«

Daran brauchte Dante nicht erinnert zu werden. Nachts suchten ihn oft die Bilder heim, wie die Welt um sie herum in einem Flimmern zusammenbrach. Überhaupt, dieses Flimmern … Es tauchte immer dann auf, wenn Dante die Kontrolle verlor. Wenn sich seine Welt als eine andere herausstellte. Erst Talane, dann der Abgrund und schließlich der Engel. All das fühlte sich so falsch an, dass sich Dante fragte, ob überhaupt irgendetwas davon geschehen war. Normalerweise hätte er es ebenso wie die Begegnung mit dem Engel als künstlich hervorgerufene Vision abgetan. Dagegen sprach aber, dass Conlai dieselben Erinnerungen teilte. Und Substanzen oder Simulationen, die gemeinsame Traumerfahrungen ermöglichten? Von so etwas hatte Dante noch nie gehört.

Gerne hätte er mit jemandem über seine Verunsicherung gesprochen, aber im Moment war an eine Kontaktaufnahme nach Cyberia nicht zu denken. Conlai war auch nicht die richtige Person für so ein Gespräch. Schon gar nicht in einem Saal, der so voller liminaler Technik steckte, dass Dante nicht ausschließen konnte, überwacht zu werden.

»Wir haben nur überlebt, weil die Engel oder ihre Diener uns gerettet haben«, fuhr Conlai inzwischen fort.

»Sie hätten auch dich gerettet«, entgegnete Dante. »Sie haben nur abgewartet, um zu sehen, wie ich reagiere.«

Conlai schüttelte den Kopf. »Ihnen ist nur allzu bewusst, dass ich auf halbem Weg gescheitert bin. Sie haben mein Schicksal in deine Hände gelegt und du hast mich damit nicht nur gerettet, sondern auch entschieden, dass ich Teil der Liminalen werde. Kaniwe wird es dort genannt, wo ich herkomme – du würdest dazu wahrscheinlich Schicksal sagen. Aber die Liminalen erinnern mich daran, nur ein Diener zu sein und niemals mehr sein zu können. Deshalb haben sie mir meinen Namen gelassen. Conlai!« Er schnaubte. »Dort, wo ich früher gelebt habe, hatte jeder Stamm mindestens einen Conlai. Er erinnert mich daran, wer ich bin und woher ich komme. Ich hatte gehofft, beides vergessen zu können. Aber soweit habe ich es nicht geschafft. Das ist meine Strafe und das ist in Ordnung. Ich bin kein Neophyt und werde nie einer sein. Ich bin nur ein Mensch und handle wie einer.«

»Hör auf, so zu reden! Ich habe meinen Namen ebenfalls behalten und Keri auch.« Beinahe zumindest, fügte Dante im Stillen hinzu. Niemand nannte Keridwen mehr bei ihrem vollen Namen.

»Aber für euch ist es keine Strafe. Ihr wollt nicht vergessen, wer ihr wart, oder?«

Dante antwortete darauf nichts. Ihm war unbehaglich zumute gewesen, als er erfahren hatte, dass er seinen eigentlich abgelegten Namen unter den Liminalen behalten sollte. Es machte die ganze Angelegenheit persönlicher und erinnerte ihn nur umso mehr an Thot.

Conlai sah ihn stirnrunzelnd an. »Oder doch?«, fragte er.

Eine Antwort blieb Dante erspart, denn in diesem Moment öffnete sich eine der Metalltüren. Reeta trat ein, neben Xavier die zweite Trainerin der Liminalen. Dante hatte sie bereits beim ersten Treffen als eine Frau aus Legba erkannt, die sich den Liminalen vor gut zwei Jahren angeschlossen hatte. Die Suchenden pflegten eine Datenbank über die Leute, die mutmaßlich Teil der Liminalen wurden, und Reeta fiel auf mit ihrem blassrosa Teint und den langen blonden Haaren. Helle Haare waren in ganz Aditi selten.

Es konnte nicht allzu lange her sein, dass sie selbst eine Novizin gewesen war.

Mit gekräuselten Lippen kam sie auf die beiden zu. »Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte sie unwirsch. »Das Training hat angefangen, alle warten auf euch!«

»Verzeiht«, sagte Conlai. »Wir …«

Reeta brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Es ist mir egal. Bewegung jetzt! Und lass diese formelle Ansprache. Wir sind nicht mehr auf Cuchulain. Es ist den Engeln allein vorbehalten, so angesprochen zu werden.«

Mit einem letzten verächtlichen Blick auf die beiden drehte sie sich um und verließ den Saal. Dante und Conlai beeilten sich, ihr zu folgen.

Elmon wich zur Seite aus, doch Dante war schneller; der Stab traf den Hünen in der Kniekehle und zwang ihn mit einem Keuchen zu Boden. Sein Stab fiel ihm aus der Hand und kullerte einige Meter durch die weitläufige Trainingshalle, in der sich neben den Novizen auch andere Liminale im Umgang mit den Waffen übten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Dante.

Er hielt dem anderen Novizen die Hand hin, aber der ignorierte sie, während er sich aufrappelte.

»Hat dir dein kleiner Krieger ein paar neue Tricks beigebracht, ja? Kamt ihr deshalb zu spät?«

Dante runzelte die Stirn. »Was ist dein Problem?«

»Was mein Problem ist?«

Elmons Hand schnellte ohne Vorwarnung nach vorne. Er packte Dante am Arm und zog ihn dicht zu sich heran. Der versteifte sich unwillkürlich, ließ es aber geschehen.

»Mein Problem ist, dass wir wegen euch warten mussten«, sagte Elmon mit einer Stimme, in der mühsam unterdrückte Wut mitschwang. »Mein Problem ist, dass ihr ständig euer eigenes Ding macht. Glaubst du, ich merke nicht, dass du dauernd verschwindest?«

»Es tut mir leid, dass ihr warten musstet«, entgegnete Dante ruhig.

»Darum geht es gar nicht! Ihr hättet nicht einfach gehen dürfen!«

»Warum nicht?«, fragte Dante ehrlich verwundert. »Es war Mittagspause.«

Elmon schüttelte den Kopf. »Du willst es nicht verstehen, oder?« Er ließ Dante los und wies zu den anderen Novizen, die neben ihnen in einer Reihe trainierten. Die meisten hatten von der Auseinandersetzung offenbar nichts mitbekommen. Dante fiel allerdings auf, dass Conlai die beiden beobachtete, während er Keris halbherzige Angriffe mühelos abwehrte. Auch Arlena, neben Keri die einzige Frau unter den Novizen und gerade ohne Trainingspartner, schaute zu ihnen herüber.

»Das ist unsere Gruppe«, sagte Elmon grimmig. »Sie sind wir und wir sind sie. Wir sind eins und wir sind alle Liminale, verstehst du? Es gibt keinen Grund für euch, alleine herumzulaufen. Ihr habt keine eigenen Bedürfnisse. Eure Bedürfnisse sind die der Liminalen. Das Bedürfnis der Liminalen ist es, den Engeln zu dienen. Das und nichts anderes!«

»Niemand hat gesagt, dass wir deshalb immer zusammenbleiben müssen«, entgegnete Dante. »Die anderen Liminalen laufen auch nicht alle im Pulk herum!«

»Wir haben unsere Aufgaben bereits erkannt«, sagte Reeta, die gelassen die Reihe der Übenden abschritt. »Aber ihr befindet euch noch in der Phase der Orientierung. Ihr müsst verstehen – und euch im Kampf schulen.«

»Warum?«, fragte Keri und ließ ihren Stab sinken. Glücklicherweise waren Conlais Reflexe gut genug, seinen gerade routiniert zum Gegenangriff ausgeholten Stab von dessen Bahn abzulenken.

Reeta drehte sich langsam zu der Novizin um. Inzwischen hatten auch die anderen ihr Training eingestellt und beobachteten neugierig das Geschehen.

»Was warum?«, fragte Reeta mit leicht vibrierender Stimme.

»Warum trainieren wir den ganzen Tag?«, fragte Keri. »Warum hauen wir mit Stöckchen aufeinander ein, schießen Pfeile oder Kugeln ab und schlagen uns miteinander?«

Dante war überrascht – und den Blicken der anderen nach zu urteilen, ging es ihnen nicht anders. Selbst Reeta wirkte einen Moment lang verwundert. Im Gegensatz zur Anfangszeit gab Keri inzwischen zwar manchmal ein paar Sätze von sich, doch diese Nachfrage passte ebenso wenig zu ihr wie der rebellische Ton, der in ihr mitschwang. Sie wirkte zwar nervös, redete aber weiter.

»Wie dienen wir damit den Engeln? Und wie sollen wir davon verstehen? Ich kann ja nachvollziehen, weshalb wir uns verteidigen können sollen. Aber warum werden wir täglich acht Stunden darin trainiert? Wir sind Kleriker! Keine Soldaten!«

Der ehemals grünhaarige Benja und sein Trainingspartner Albanactus wechselten nervöse Blicke, während Elmon und Arlena Keri betrachteten, als sähen sie sie zum ersten Mal.

»Sie hat recht«, meldete sich nun Conlai zu Wort. »Ich dachte, ich könnte das alles hier zurücklassen.« Er warf seinen Stab in die Höhe, wo er sich einmal um sich selbst drehte, ehe Conlai ihn wieder auffing. Es war keine Angeberei – es war nur die Demonstration eines Mannes, für den Stich- und Hiebwaffen zur selbstverständlichen Armverlängerung geworden waren.

Reeta nickte. »Genau das ist euer Problem!«, sagte sie. »Ihr seid nicht hergekommen, um zurückzulassen oder um Kleriker zu sein. Wenn das euer Wunsch war, hättet ihr Hohepriester für Götter des Aberglaubens werden oder euch in die Prärien unbewohnter Monde zurückziehen sollen. Hier aber seid ihr hergekommen, um zu dienen. Das ist es, was ihr verstehen müsst. Erst, wenn euch das gelungen ist, werdet ihr vollwertige Mitglieder unserer Gemeinschaft sein. Einer Gemeinschaft, die sich der Auseinandersetzung mit zahlreichen feindlichen Parteien stellen muss, um ihr Ziel zu erreichen. Manche von euch sind bereits auf einem guten Weg.« An dieser Stelle warf sie Elmon einen Blick zu. »Andere haben noch viel vor sich.« Sie maß Keri und Conlai.

»Arbeitet an euch«, sagte sie dann und begann wieder die Reihe abzulaufen. »Arbeitet an euch und an euren Fähigkeiten. Dann werdet ihr vorbereitet sein und dann werdet ihr verstehen. Aber für heute reicht es. Ihr könnt euch zurückziehen.«

Schweigend verließen die Novizen die Trainingshalle. Doch sobald sie den Raum verlassen hatten und auf den leeren Gang zur Waffenkammer und den Umkleideräumen traten, drehte sich Arlena zu Keri um und schubste sie gegen die Wand.

»He!«, rief Benja. Er machte einen halbherzigen Versuch, Arlena zurückzuziehen.

Die schüttelte ihn problemlos ab und stützte sich mit einem Arm an der Wand ab, während sie Keri anherrschte: »Was sollte das denn?«

Keri fasste sich schnell und fragte ungewöhnlich herausfordernd: »Bist du etwa hergekommen, um kämpfen zu lernen?«

»Ich bin hergekommen, um den Engeln zu dienen. Wenn das heißt, dass ich mich ihren Feinden entgegenstellen muss, bin ich gerne vorbereitet.«

»Vorbereitet wofür?«, hielt Keri heftig dagegen. »Anderen zu schaden? Ich bin nicht hergekommen, um Mördern zu dienen!«

Elmon sog scharf die Luft ein, Conlais Arm zuckte und Benja sah unruhig zwischen Keri und Arlena hin und her.

»Du bist so naiv!« Arlena ließ Keri frei, warf ihr jedoch einen angewiderten Blick zu. »Was ist mit dir, bist du in einem Palast aufgewachsen, wo man dir morgens die Kleidchen gebracht und dich schön umsorgt hat, damit du von der Welt draußen nichts mitbekommst? Wir sind im Krieg, Mädchen!«

Keri machte »Pff« und fragte: »Seit wann?«

»Seit Jahren! Gab es bei euch keine Zeitungen oder Fernsehen? Hast du nichts mitbekommen von den Angriffen auf die Liminalen? Von den Tempeln, die auf Adad in Brand gesteckt wurden? Von den Attentaten, die auf Liminale in der legbaischen Hauptstadt verübt wurden? Du kommst aus Demeter, oder? Ihr hattet vor ein paar Jahren diesen Neophyten, der als Engel zurückkam. Erinnerst du dich an die Siberaner, die verhindern wollten, dass er nach Eden gebracht wird, weil sie Angst vor dem Zuwachs an Engeln hatten?«

Keri nickte und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ich erinnere mich, Arlena. Aber das waren Einzeltäter. Ich sag ja gar nicht, dass wir nicht lernen sollten, uns zu verteidigen. Aber das kann doch nicht alles sein! Und zumindest die Siberaner wollten niemandem schaden. Sie haben nur …«

»Ach, sei still.« Mit einer Handbewegung fegte Arlena die Widerworte beiseite. »Natürlich wollten sie das, und die Attentäter und Brandstifter erst recht! Außerdem, wer sagt dir, dass das Einzeltäter waren? Dafür ist interplanetarisch viel zu viel geschehen! Ich sag dir, da steckt eine Organisation hinter. Wahrscheinlich diese Suchenden. Sie sagen, sie wollen die Wahrheit herausfinden, aber wann haben sie je etwas anderes getan, als die Taten der Liminalen und der Engel in den Dreck zu ziehen? Ich weiß nicht wieso, aber diese Leute haben etwas gegen die Einigkeit, die die Engel unter die Planeten bringen. Lieber säen sie Zwietracht – wie zwischen Cuchulain und dem Ruinenplaneten. Da haben sie auch erst einen auf objektiver Berichterstatter gemacht. Und am Ende? Haben sie einen ganzen Planeten vergiftet!«

Dante musste sich zusammenreißen, um der Novizin nicht ins Wort zu fallen. Ihre haarsträubenden Ansichten über die Suchenden waren eine Sache, aber dass sie ihnen nun auch noch die Zerstörung Thots in die Schuhe schob … Er verdrängte den Gedanken an Talane, die etwas ganz Ähnliches gesagt hatte, und erinnerte sich selbst daran, dass zumindest die Suchenden aus seiner Abteilung damit nicht das Geringste zu tun gehabt hatten. Zumal viele Cyberianer selbst bis heute die Rolle des Mondes im Krieg zwischen Cuchulain und Thot kritisierten.

»Hört auf, euch zu streiten«, sagte Benja mit belegter Stimme.

Conlai trat an Benjas Seite. »Im Moment bist du es, die Zwietracht sät, Arlena«, sagte er. »Lass Keri in Ruhe. Und du«, er wandte sich an Elmon, »lass Dante in Ruhe. Wir können unser bisheriges Leben eben nicht alle von einem Moment auf den anderen vergessen. Die Liminalen wissen das, deshalb sind wir schließlich Novizen. Und deshalb ist es nicht an euch, nicht an uns, einander dafür zu verdammen. Wir werden lernen, mit all dem umzugehen.« Er sah zu Keri. »Wir werden lernen, zu verstehen.«

»Ich hoffe es«, sagte Keri leise.

Arlena schüttelte den Kopf. Conlais Worte hatten sie offenbar etwas besänftigt, trotzdem warf sie der anderen Novizin noch einen zornigen Blick zu, ehe sie sich ruckartig umdrehte und zur Waffenkammer stolzierte.

Elmon und Albanactus folgten ihr und nach kurzem Zögern schloss sich ihnen auch Benja an. Dante, Conlai und Keri blieben zurück.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Conlai Keri.

Sie nickte. Nach kurzem Zögern sagte sie: »Aber ich weiß nicht, wie wir verstehen sollen, ohne zu wissen.«

»Vielleicht ist Wissen zu menschlich«, sagte Conlai.

»Was soll das denn heißen?« Dante konnte sich einen skeptischen Unterton nicht verkneifen.

»Ich habe mein bisheriges Leben damit verbracht, Wissen anzusammeln«, entgegnete Conlai ruhig. »Wissen über Cuchulain und Aditi. Wissen über Krieg und Ehre. Über die Geschichte der Kriegsjungen und über die alten Götter. Und verstanden habe ich trotzdem nichts. Ich habe nicht verstanden, weshalb wir einander bekämpfen. Ich habe nicht verstanden, weshalb wir auf die Hilfe Ungläubiger zurückgreifen, um das halbe Sternensystem zu vergiften. Ich habe nicht verstanden, warum wir dazu ausgebildet werden, Kinder zu töten.« Conlais Gesicht verfinsterte ich. »Ich möchte das Wissen der Menschen nicht mehr. Ich möchte das verstehen, was besser ist als sie.«

Die Türme von Eden

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