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7. Kapitel

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Der Strom friert in diesem Jahr an einigen Stellen ungewöhnlich früh zu, da ein eiskalter Ostwind seit Wochen durch das Rheintal fegt. An Weihnachten ist die Familie fast vollzählig versammelt. Hedwigs Eltern und ihre Schwester Sieglinde mit den beiden Kindern sind in das kleine Dorf am Fluß gekommen. Nur Heinrich und Sieglindes Ehemann Walter fehlen in der Runde. Heinrich darf den polnischen Kriegsgefangenen nicht ohne Aufsicht lassen und Hedwigs Schwager, dessen Fronturlaub längst genehmigt war, ist wie hunderttausend andere Soldaten in Stalingrad eingekesselt. Aufgrund dieses betrüblichen Umstandes herrscht eine arg gedrückte Stimmung im Hause Schmid. Von offizieller Seite werden nach wie vor Siegesparolen verbreitet, aber die Spatzen pfeifen es längst von den Dächern, der 6. Armee fehlt die nötige Munition und ihre Lebensmittelvorräte gehen zur Neige. Es wird getuschelt, die Soldaten müßten sogar Ratten fressen. „Wann hast du zuletzt von deinem Mann ein Lebenszeichen erhalten?“, will Hedwig von ihrer Schwester wissen. „Vor über drei Wochen schrieb er in einem Brief, daß es in Rußland unvorstellbar kalt sei. Er und seine Kameraden hätten viel zu dürftige Winterbekleidung. Ich hab´ ihm eine Strickjacke und ein Paar wollene Handschuhe geschickt, aber vermutlich hat ihn das Paket nich´ mehr erreicht. Ein Fronturlauber aus der Nachbarschaft, der beim Nachschub eingesetzt is´, hat mir unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß nur noch das Allernotwendigste und davon viel zu wenig in den Kessel eingeflogen werden kann. Mama betet jeden Tag zu Gott, er möge ihren Schwiegersohn heil und gesund nach Haus´ kommen lassen. Besonders die Kinder vermissen ihren Papa sehr.“ Kurt, der Vater von Hedwig und Sieglinde, steigt gerade die Treppe herunter. Er hat die letzten Sätze seiner Tochter mitbekommen. Sogleich fängt er zu schimpfen an: „Dieser Hitler und sein verdammter Krieg! Anfangs glaubte ich, daß er Politik für uns kleinen Leute macht, aber der Mann is´ ja noch schlimmer als die geleckten preußischen Junker!“ Kurt hat dermaßen laut gesprochen, daß seine Frau in der Küche durch die geschlossene Tür jedes Wort verstanden hat. Sie steckt ihren Kopf zur Küchentür heraus und ermahnt ihren Mann: „Kurt, wie oft hab´ ich dir schon gesagt, daß du lieber den Mund halten sollst. Du red´st dich noch um Kopf und Kragen.“ Erklärend fügt sie an ihre Töchter gewandt hinzu: „Ihr müßt wissen, daß unser Ortsgruppenleiter euren Vater bereits mehrmals eindringlich verwarnt hat, nich´ solche Reden zu führen und bis jetzt nur deshalb drüber hinweg sah, weil er mit Kurt in einer Klasse war.“ „Ich laß mir von niemandem den Mund verbieten“, wettert Kurt, „erst recht nich´ von so ´nem Speichellecker, den wir schon in der Schule wegen seiner zahlreichen Sommersprossen gehänselt haben.“ „Du solltest mehr auf Mama hören“, meint Hedwig vorsichtig. „Mit diesen Parteileuten ist nicht zu spaßen. Du wärst nicht der Erste, den sie einsperren, weil er den Führer angeblich beleidigt hat.“ Sieglinde pflichtet ihrer Schwester bei und lenkt das weitere Gespräch auf das bevorstehende Fest.

Am folgenden Abend, dem Weihnachtsabend, haben sich die Erwachsenen fein herausgeputzt. Die Kinder sind festlich gekleidet. Henriette hat sich eine Bernsteinkette umgehängt, ihr kostbarstes Schmuckstück, ein Erbstück ihrer Mutter und Kurt hat sich seine vergoldete Taschenuhr an die Anzugsweste geheftet. Sie ist sein ganzer Stolz. Er hat die Uhr vor drei Jahren von der Reederei überreicht bekommen. Auf der Innenseite des Sprungdeckels ist folgender Satz eingraviert: ´Für vierzig Jahre treue Dienste.´ Gegen achtzehn Uhr wird von Henriette der Festtagsschmaus im Eßzimmer aufgetragen, unter tatkräftiger Mithilfe von Hedwig. Es ist eine herrlich duftende goldbraun gebackene Gans, eine besondere Delikatesse in diesen Kriegsjahren, in denen selbst die Grundnahrungsmittel streng rationiert sind, jedenfalls für die Masse der Bevölkerung. Hans hat den Vogel bei einem Bauern unter der Hand erworben, für einen ordentlichen Batzen Geld. Dennoch ist der exorbitant hohe Kaufpreis zu verschmerzen. Im Gegensatz zu Lebensmitteln gibt es die Reichsmark reichlich, wobei die Übereinstimmung der ersten Silbe wohl purer Zufall ist. Der Nachwuchs widmet sich genüßlich dem Abnagen der Knochen. An der regen Unterhaltung der Erwachsenen haben sie kaum Anteil. Die herrschende Erziehung vertritt die Ansicht, daß Kinder bei Tisch gefälligst zu schweigen haben, außer sie werden etwas gefragt. Diese können ihre Ungeduld kaum zügeln, sie wissen, im Anschluß an das Essen wartet die christliche Bescherung auf sie. Das vorzeitige Betreten des Wohnzimmers hat man ihnen strengstens untersagt, ihnen gedroht, das Christkind würde alle Geschenke sofort wieder mitnehmen, falls sie versuchen sollten, auch nur einen Blick zu riskieren. Die Drohung machte Eindruck auf sie, alle Drei hielten sich vom Schlüsselloch fern.

Endlich stehen Ilse und ihre zwei Jahre ältere Cousine Hildegard, die ihren kleinen Bruder Alfred an der Hand hält, mit erwartungsvollen Mienen vor der verriegelten Wohnzimmertür. Hans öffnet sie und die drei erblicken einen riesigen bis an die Decke reichenden Christbaum, der im Glanz seiner Kerzen erstrahlt. Der Baum ist mit silbernem Lametta behängt, das im Schein der Lichter magisch glitzert. Unter dem Baum ist eine grob geschnitzte Krippe aufgestellt. Auf dem Wohnzimmertisch, der unter einer handbestickten Weihnachtsdecke kaum zu erkennen ist, liegen etliche in Packpapier gewickelte Geschenke. An jedem Päckchen hängt ein schmales Schildchen, darauf mit schwarzer Tinte fein säuberlich geschrieben verschiedene Namen vermerkt sind. Ilse entdeckt den Ihrigen auf Vieren dieser Schildchen. Zuerst will sie natürlich das größte Geschenk auspacken. Zum Vorschein kommt eine stattliche Puppe mit einer süßen Stupsnase und blauen Augen. Ilse ist vor Freude sprachlos. Sie besitzt zwar schon ihr Püppchen Käthe, aber diese hier ist unendlich viel schöner. Ilse hatte eine solche Puppe vor längerer Zeit in einer Kaufhausauslage bewundert und sie sich gewünscht. Jedoch keineswegs erwartet, die Puppe auch geschenkt zu bekommen, weil ihre Mutter damals meinte, die Puppe sei viel zu teuer. Aber dem Christkind war sie offensichtlich nicht zu teuer gewesen. Freudestrahlend trägt sie ihr blond gelocktes Geschenk im Arm herum. Erst nach mehrmaliger Aufforderung durch die Mutter entschließt sie sich, die übrigen Päckchen ebenfalls zu öffnen. Henriette hatte ihr eine Mütze, einen Schal und ein paar Handschuhe gestrickt. „Das Christkind meint, daß du die Sachen gut gebrauchen kannst, Ilschen, wenn du frühmorgens bei Eiseskälte zur Schule gehen mußt“, gibt sie fürsorglich Aufklärung. Das nächste Geschenk ist ein dickes Märchenbuch mit vielen schwarzweißen Zeichnungen und einigen bunten Bildern auf Hochglanzpapier. Weil Ilse beim Lesen noch mühsam jeden Buchstaben entziffern muß, darf sie sich ein Märchen in dem Buch aussuchen, das ihr die Großmutti verspricht vorzulesen. Ihre Wahl fällt nach längerem Blättern auf ´Die Sterntaler´, da Ilse das dazugehörige Bild gefällt. Man sieht darauf ein Mädchen mit nackten Füßen auf einer Waldlichtung stehen, wie es verstreut herumliegende Sternchen vom Boden aufhebt und in ihrer Schürze sammelt. Die Großmutti lobt überschwenglich ihre Wahl und meint, das sei gerade für Weihnachten eine passende Geschichte. Zuletzt öffnet Ilse ein unscheinbares Schächtelchen, welches ihr Großvater Heinrich auf den Gabentisch legen ließ. Eingebettet in Watte entdeckt sie darin ein silbernes Paar Ohrstecker. Die Mutter erklärt, daß sie sich zum Tragen der schmückenden Kostbarkeit Löcher in die Ohrläppchen stechen lassen müsse. Davor hat Ilse mächtig Angst. Hedwig versucht ihre Tochter zu beruhigen, es würde beim Stechen nur unmerklich piksen und nicht weiter wehtun. Sie wisse das, weil sie ähnliche Ohrstecker geschenkt bekam, als sie ungefähr ebenso alt war, wie es Ilse heute ist. „Sind das die Gleichen, die du jetzt trägst?“, möchte ihre Tochter wissen. Hedwig lacht und erwidert: „Nein, die hab´ ich zur Hochzeit von Papa bekommen.“ Aber auch Ilse steht nicht mit leeren Händen da. Sie hatte während der letzten Woche vor den Ferien in der Schule zwei Weihnachtssterne aus Stroh gebastelt. Diese überreicht sie nun stolz ihren Eltern. „Hast du die Sterne ganz allein´ gemacht?“, fragt ihr Vater bewundernd. „Ja, die Lehrerin hat mir kein bißchen dabei geholfen“, flunkert die Kleine. Henriette geht ebenfalls nicht leer aus, ihr hat Ilse ein Bild gemalt, auf dem ein langes Schiff zu erkennen ist. An Deck stehen nebeneinander flächig aufgereiht verschiedene menschliche Wesen und ein Tier. „Is´ das Großvaters Boot?“, fragt Henriette. „Das is´ die ´Minerva´ “, bestätigt sie. „Auf dem Schiff stehen Mama, Papa, Großvater und das da is´ Kobold“, erläutert Ilse und deutet mit dem Finger auf die vierbeinige Kreatur, die man jedoch eher für ein wohlgenährtes Schweinchen halten könnte. „Und das is´ bestimmt ein Engel“, meint Henriette, wobei sie auf eine Figur zeigt, die hoch über dem Boot schwebt. „Nein, das is´ Fritz. Er schaut aus dem Himmel herunter.“ Nach und nach haben alle Familienmitglieder ihre Geschenke ausgepackt. Ilse bewundert das Holzpferd ihres Cousins, welches der Großpapa seinem Enkel gezimmert hat. Im leicht geöffneten Maul des bemalten Kopfes steckt eine rot eingefärbte Trense aus Leder. Die Mähne ist aus echtem Roßhaar gefertigt. Der Pferdekopf mit Hals sitzt auf einer langen dünnen Stange, an dessen entgegengesetztem Ende zwei Holzräder befestigt sind. Alfred hält die Trense seines Pferdchens gepackt und galoppiert kreuz und quer durch das weihnachtliche Wohnzimmer. Ausnahmsweise vergeht den Kindern die Zeit wie im Fluge. Unter der Anleitung von Hedwigs Mutter werden einige Weihnachtslieder angestimmt. Hans bemüht sich, es so aussehen zu lassen, als ob er mitsingt, aber in Wirklichkeit bewegt er nur stumm seine Lippen. In der Hauptschule hatte ihm der Lehrer bescheinigt, daß er völlig unmusikalisch sei und durch seine dissonante Tonlage den Gesang der Klasse empfindlich störe. Seit jenen Tagen hatte Hans aufgehört zu singen. Nach der musikalischen Einlage wird es höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen, in einer halben Stunde beginnt die Christmette. Die Familie zieht sich warm an und stapft hinaus in die sternenklare Nacht. Ilse darf ihre neue Mütze, den Schal und die Handschuhe anziehen. In der Kirche ist es bitterkalt. Ilse ist froh ein Mädchen zu sein, denn die männlichen Kirchgänger müssen beim Betreten des Kirchenschiffes ihre Mützen abnehmen. Der Pfarrer predigt über Güte, Vergebung, Liebe und Frieden. Anschließend verwandelt er am Altar Wein und Brot in das Blut und den Leib Christi. Ilse versteht keines seiner Worte, die er während der Wandlung spricht. Sie zupft ihren Vater am Ärmel, und als der sich zu ihr herunterbeugt, fragt sie leise: „Wieso redet der Pfarrer so komisch?“ Hans muß sich ein Lachen verbeißen, als er flüsternd antwortet: „Der Pfarrer zelebriert die Messe auf Latein. Dies war die Sprache der Römer. Das Römische Reich gibt´s aber nicht mehr.“ „Warum redet der Pfarrer dann lateinisch?“, fragt sie flüsternd zurück. „Weil der Papst es so will. Du mußt jetzt aber still sein Ilschen, während der Heiligen Messe darf man sich nich´ unterhalten.“ Wie zur Bestätigung dreht sich in diesem Moment eine alte Frau um, die eine Reihe vor ihnen sitzt. Sie zischt ein halblautes ´Ruhe!´ und schaut dabei das Kind und ihren Vater grimmig an.

Das neue Jahr beginnt mit einer Hiobsbotschaft. Der lebende Rest der 6. Armee kapituliert in den schneebedeckten Ruinen von Stalingrad und die Soldaten müssen einen Tausende von Kilometern langen Fußmarsch Richtung Sibirien antreten, während ihr bisheriger Befehlshaber, ein frisch gekürter Generalfeldmarschall, bequem im Flugzeug nach Moskau transportiert wird. Ob Sieglindes Mann unter den Überlebenden weilt, weiß niemand.

Auf dem Lande und in den Dörfern des Reiches ist die äußere Idylle noch einigermaßen intakt, das Kriegsgeschehen weit weg. Aber in den Großstädten hört man den schaurig modulierten Ton der Sirenen immer öfters, da sich die Bombenangriffe der Feinde von Monat zu Monat bedrohlich steigern. Reichsmarschall Göring hatte am Beginn des Krieges noch vollmundig getönt, er wolle Meier heißen, falls es einem einzigen feindlichen Flugzeug gelingen sollte, in den deutschen Luftraum einzudringen. Worauf ein Volksgenosse ihn, nach einem Bomberangriff auf Berlin, in einem Brief, mit ´Sehr geehrter Herr Meier´, titulierte. Was für den Mann zur Folge hatte, daß die Gestapo ihn kurzerhand abholte. Kein Staat bewies jemals Humor, wenn es um die Autorität seiner Repräsentanten ging.

Die Dorfschulen erhalten immer mehr Zuwachs. Städter, die Verwandte auf dem Lande haben, schicken ihre Kinder dorthin. Die Kinder sollen nicht der tödlichen Brand- und Sprengbombenflut ausgesetzt sein. Obendrein beginnt man mit staatlichen Verschickungsprogrammen für städtische Kinder, euphemistisch als ländliche Erholungsaufenthalte gepriesen.

Ende April erreicht Hedwig ein Telegramm mit einer bedrohlichen Nachricht, abgeschickt von ihrer Mutter. Darin steht in vier dürren Worten geschrieben, daß Vater verhaftet worden sei. Hedwig ahnt den Grund. Sie möchte so bald als möglich zu ihrer Mutter fahren. Henriette unterstützt sie in ihrem Vorhaben und verspricht, derweil gut auf Ilse aufzupassen. Gleich am nächsten Tag setzt sich Hedwig mit leichtem Gepäck in den Zug, drei Stunden später schließt sie ihre Mutter in die Arme. Diese empfängt sie mit rotgeweinten Augen. Zweimal am Tag findet man Ilse in der Kirche kniend den Rosenkranz betend. Hedwig hält wenig von dieser übertriebenen Art von Frömmigkeit, aber sie versucht nicht, die Mutter von ihrem Tun abzubringen, denn offensichtlich spendet ihr die Religion den nötigen Trost und bewahrt sie vor dem totalen nervlichen Zusammenbruch. Hingegen sucht Hedwig lieber die weltlichen Mächte auf. Zuerst bemüht sie sich um einen Termin beim Ortsgruppenleiter. Dieser ist nach mehrmaliger Vorsprache endlich bereit, Frau Schmid zu empfangen. Kaum hat sie sein Amtszimmer betreten, kommt er verlegen lächelnd hinter seinem Schreibtisch hervor. Hedwig sieht dem Parteimann deutlich an, daß ihm das Zusammentreffen mit ihr äußerst unangenehm ist. Er bittet sie, auf einem im Eck stehenden Sofa Platz zu nehmen und läßt sich selber ächzend in einen gegenüberliegenden Sessel fallen. Hedwig hat den Mann erheblich schlanker in Erinnerung. „Herr Ortsgruppenleiter, Sie können sich vermutlich denken, warum ich Sie unbedingt sprechen möcht´ “, beginnt Hedwig, ehe sie noch richtig sitzt. „Sie kommen sicherlich wegen ihres Herrn Vaters.“ Und wieder huscht ein verkrampftes Lächeln über sein Gesicht. „Die Gestapo hat ihn verhaftet. Meine Mutter weint Tag und Nacht.“ „Sie können mir glauben, daß ich ihrer verehrten Frau Mutter solchen Kummer allzu gern erspart hätte, aber dies hat leider nich´ in meiner Macht gelegen“, antwortet er zuvorkommend. Da fällt Hedwig ein, was ihr einmal der Vater vor vielen Jahren bei einem Weinfest spitzbübisch zugeflüstert hatte. Damals war der Ortsgruppenleiter noch ein einfacher Schuhmachermeister gewesen und hatte ihnen bei dem besagten Weinfest schräg gegenübergesessen. ´Das war der hartnäckigste Verehrer deiner Mutter´, hatte er gesagt, ´aber ich hab´ ihn ausgestochen´. „Meine Mutter wär´ ihnen über alle Maßen dankbar, wenn Sie sich für die Freilassung meines Vaters einsetzten“, versucht Hedwig den braun Gekleideten zu ködern. Dieser stößt einen kurzatmigen Seufzer aus, bevor er antwortet: „Mindestens ein Dutzend Mal hab´ ich ihren Herrn Vater in aller Freundschaft gewarnt und ihn dringend ermahnt, seine Zunge doch etwas mehr im Zaum zu halten. Sie können mir wirklich glauben, ich hab´ sogar mehrere Anzeigen gegen ihn ignoriert. Ein Parteigenosse hat mir deswegen schon vorgeworfen, ich würd´ ihren Herrn Vater verbotenerweise decken. Ich versichere ihnen ausdrücklich, daß ich die Verhaftung nich´ veranlaßt hab´.“ Hedwig versucht, ihm zu schmeicheln. „Aber Sie sind doch ein bedeutender Mann in der Partei. Sie haben sicherlich gute Kontakte zur Gestapo und könnten auf seine Freilassung hinwirken.“ „Wenn das so einfach wär´! Wie ich ihnen bereits sagte, hab´ ich mich lange Zeit schützend vor ihren Herrn Vater gestellt, aber auf die einmal getroffenen Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei hab´ ich keinerlei Einfluß. Es tut mir außerordentlich leid, ich kann Ihnen nich´ weiter helfen.“ Hedwig wird klar, daß dieser Parteibonze keinerlei Lust verspürt, sich bei seinen Vorgesetzten für ihren Vater die Finger zu verbrennen. Jedes weitere Gespräch mit ihm ist reine Zeitverschwendung. Hedwig steht auf und verabschiedet sich frostig. Man merkt es dem Ortsgruppenleiter an, daß er heilfroh ist, sie schnell wieder los zu sein.

Aber Hedwig gibt nicht auf. Am nächsten Morgen löst sie eine Fahrkarte in die benachbarte Kreisstadt, dort angekommen, erkundigt sie sich beim Bahnhofsvorsteher nach der Adresse der örtlichen Gestapo-Dienststelle. Der Mann mit der roten Schirmmütze gibt höflich aber distanziert Auskunft. Wahrscheinlich würde er zu gerne wissen, was diese hübsche junge Frau ausgerechnet in das gefürchtete Gebäude der Geheimen Staatspolizei treibt. Doch als altgedienter Bahnbeamter wundert er sich schon lange nicht mehr über die manchmal recht merkwürdigen Auskunftsbegehren der Reisenden. Hedwig eilt unverzüglich, dem beschriebenen Weg folgend, in die unweit vom Zentrum gelegene Turmstraße. Bald steht sie vor einem aus groben Sandsteinquadern erbauten zweistöckigen Haus mit vergitterten Fenstern. Nur eine unscheinbare Eisengußtafel neben dem Torbogen verrät die Verwendung des Hauses. Ihr wird flau im Magen. Sie weiß allerdings nicht, ob diese akute Schwäche von dem Umstand herrührt, noch kein Frühstück zu sich genommen zu haben oder darauf beruht, daß mit den Beamten in diesem Gebäude nicht gut Kirschenessen ist. Zögerlichen Schrittes betritt sie den dunklen Torweg. Rechter Hand führen mehrere Stufen zu einer klobigen Eichentür hinauf. Oben angekommen will sie gerade die massige Türklinke herunterdrücken, als von innen geöffnet wird. Heraus treten zwei Männer mittleren Alters in zivilen Ledermänteln. Sie grüßen Hedwig und ziehen dabei wohlerzogen ihre Hüte. „Können Sie mir bitte sagen, wo ich den Dienststellenleiter find´?“ „Tut mir wirklich leid Fräulein, aber so einfach geht das nicht“, antwortet der Kleinere der beiden. „Erst müssen Sie sich im Wachzimmer ordnungsgemäß anmelden, dort ihr Anliegen vorbringen, und dann wird man ihnen gewiß weiterhelfen.“ Hedwig ist sich nicht sicher, ob die Anrede ´Fräulein´ ein Kompliment sein sollte oder eher Geringschätzung ausdrückte, denn den Herren dürfte sicherlich nicht der Ehering an ihrem Finger entgangen sein. Sie quittiert die Belehrung mit einem angedeuteten Kopfnicken, betritt die Eingangshalle und öffnet entschlossen die verglaste Tür zum Wachzimmer im Hochparterre. Zwei Schritte von der Tür entfernt trennt eine dunkelgrau gestrichene hüfthohe hölzerne Balustrade den vorderen Bereich der Länge nach vom übrigen Teil des Raumes ab. Am Ende der Absperrung bemerkt Hedwig eine Schwingtür, die es den Berechtigten ermöglicht, auf die andere Seite zu wechseln. Hinter der Balustrade sitzen zwei in blaue Polizeiuniformen gekleidete Beamte an sich gegenüberliegenden Schreibtischen. „Sie wünschen?“, fragt einer militärisch knapp, als Hedwig an die Schranke tritt. „Entschuldigen Sie bitte mein unangemeldetes Erscheinen, mein Vater wurde vor einigen Tagen von Beamten ihrer Dienststelle verhaftet. Wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. Ich bin gekommen, um den Grund für seine Festnahme zu erfahren und würd´ gern mit dem verantwortlichen Leiter ihrer Dienststelle sprechen.“ „Das ist völlig unmöglich“, erwidert barsch einer der Polizisten. „Wir können aber ihre Personalien aufnehmen. Danach müssen Sie draußen in der Halle Platz nehmen. Man wird Sie dann aufrufen.“ Hedwig sieht ein, daß Widerworte hier zwecklos wären, und fügt sich klaglos den Weisungen der Ordnungshüter.

Frau Schmid sitzt nun schon über zwei Stunden auf einer unbequemen Holzbank. Es ist gespenstisch ruhig im Haus. Ab und an kommt jemand zu einer Tür heraus und verschwindet im nächsten Moment durch eine andere. Keiner nimmt die geringste Notiz von der Frau auf der Bank. Sie hört gedämpft das Rauschen einer Klospülung, gleich darauf verspürt sie selber einen starken Harndrang. Hedwig steht auf und betritt nochmals den Wachraum. „Könnten Sie mir freundlicherweise sagen, wo ich die Toilette find´?“ „Am Ende der Halle, die letzte Tür links.“ Der Polizist, der ihr geantwortet hat, hebt nicht einmal den Kopf, hämmert derweil mit zwei Fingern, ohne sich zu unterbrechen, auf der Tastatur einer klobigen Schreibmaschine Buchstabe für Buchstabe auf ein Blatt Papier. Hedwig dankt und beeilt sich aus dem Zimmer zu kommen. Sie steuert die Toilette an. Nachdem sie ihrer Blase die dringend notwendige Erleichterung verschafft hat, kehrt sie sofort wieder auf ihre harte Sitzgelegenheit zurück. Hedwig beobachtet eine fette Fruchtfliege, wie sie an der Decke um eine matt scheinende Lampe kreist. Die Halle ist fensterlos, ohne die brennende Glühbirne wäre sie noch düsterer. Eine Gruppe von Männern in SS-Uniformen stapft in ihren blitzblank gewichsten Stiefeln das Treppenhaus herunter, an Hedwig vorbei zur Eingangstür hinaus. Sie hört ihre angeregte Unterhaltung über eine offensichtlich feuchtfröhlich verlaufene Skatrunde am gestrigen Abend. Zermürbt vom langen untätigen Warten blickt Hedwig genervt auf ihre Armbanduhr. Es ist kurz vor halb zwölf Mittag. Gegen sechs Uhr am Morgen war sie aufgebrochen. Da öffnet sich unvermittelt die Tür zum Wachraum und heraus kommt einer der beiden Polizisten, die ihre Personalien überprüft hatten. „Frau Schmid folgen Sie mir.“ Stumm erhebt sich Hedwig und steigt hinter dem Beamten die breite Treppe hinauf. Im ersten Stock deutet der Wachtmeister auf eine Tür. „Dort drüben ist das Zimmer von Kriminalinspektor Heidenreich, er erwartet Sie.“ Der Polizist dreht sich auf dem Absatz um und marschiert zügigen Schrittes wieder hinunter ins Erdgeschoß. Hedwig geht auf die grau gestrichene Tür zu und klopft. Eine heisere Baßstimme ruft ein herrisches „Herein“. Als sie die Tür öffnet, blickt Hedwig in das glatt rasierte Gesicht eines Mannes von geschätzten fünfzig Jahren. Der Inspektor sitzt hinter einem schnörkellosen Schreibtisch, der in der Mitte des kleinen und kärglich möblierten quadratischen Raumes plaziert ist. Vor dem Schreibtisch steht ein einfacher Stuhl ohne Armlehnen. Auf diesen deutet der Inspektor kurz mit dem Finger und sagt gleichzeitig: „Setzen Sie sich. Sie kommen in der Angelegenheit Kurt Schneider, ihres inhaftierten Vaters?“, und beginnt so das Gespräch in einem fragenden Verhörton. „Mein Vater wurde letzte Woche spät abends festgenommen. Ich möcht´ mich erkundigen, was ihm konkret vorgeworfen wird. Man hat meiner Mutter dazu keine Angaben gemacht.“ Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck schlägt der Inspektor eine vor ihm liegende dünne Akte auf und überfliegt deren Inhalt. Energisch klappt er den Aktendeckel danach wieder zu. Der Polizist fixiert Hedwig sekundenlang mit seinen kalt blickenden Augen, währenddessen er mit den Fingern laut auf die Schreibtischplatte trommelt. Hedwig hält seinem Blick eisern stand, senkt nicht die Augen. Zwar ist ihr der Inspektor höchst unsympathisch, aber sie läßt sich von seinem Gebaren nicht einschüchtern. Der Staatsdiener fährt im gereizten Tonfall fort: „Man hat ihren Vater in Untersuchungshaft genommen, weil er den Führer und die Partei mehrmals unter Zeugen aufs schwerste beschimpft hat. Ihnen sollte bekannt sein, daß das Gesetz zum Schutz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei, die Herabwürdigung von Staatsorganen unter Strafe stellt. Gerade in diesen harten Zeiten, in denen unserer Volksgemeinschaft von einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung ein erbitterter Abwehrkampf aufgenötigt wurde, ist so ein Verhalten unentschuldbar. Herr Schneider ist mit seinem provozierenden Gerede dem gesamten deutschen Volk in den Rücken gefallen. Einen solchen Volksschädling können wir in unseren Reihen keinesfalls dulden!“ Die Stimme des Inspektors ist wütend angeschwollen und auf seiner breiten Stirn zeigt sich eine markant bläulich schimmernde Ader. „Wo wird mein Vater festgehalten? Meine Mutter und ich würden ihn gern besuchen, könnten Sie das bitte ermöglichen.“ Hedwig läßt sich von der Gereiztheit des Mannes nicht beeindrucken. Sie bringt die Frage sowie ihren Wunsch ruhig und sachlich aber bestimmt vor. Durch diese Art versetzt sie den Polizeibeamten aber noch mehr in Rage. „Ihr Vater hat die ihn verhörenden Beamten obendrein beleidigt. Mit solch staatsfeindlichen Subjekten machen wir kurzen Prozeß. Er wurde in ein Arbeitslager eingewiesen. Dort gibt man ihm nun die Gelegenheit sich zu bewähren“, brüllt er mit zornrotem Gesicht. Hedwig erschrickt, möchte aber unbedingt vermeiden, daß der unangenehme Mensch ihre aufkeimende Furcht bemerkt. „Könnten Sie mir wenigstens mitteilen, wo sich dieses Arbeitslager befindet, in das mein Vater gebracht wurde?“, will sie mit bemüht fester Stimme wissen. „Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu erteilen. Es bleibt ihnen jedoch unbenommen, sich jederzeit schriftlich an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin zu wenden und um diesbezügliche Mitteilung zu bitten“, gibt er schroff zur Antwort. Der Inspektor wirft einen raschen Blick auf seine Uhr und steht auf. „Ich muß Sie jetzt bitten zu gehen“, sagt er unwirsch. Hedwig wird erst in diesem Moment bewußt, wie hungrig sie mittlerweile ist, zusätzlich plagen sie heftige Kopfschmerzen, was bei ihr recht selten vorkommt. Mit einem knappen Gruß verläßt Frau Schmid das Büro, steigt hastig die Treppen hinab, läuft durch die menschenleere Halle und öffnet die eisenbeschlagene Eingangstür, dann steht sie wieder draußen auf der Straße. Hedwig atmet tief durch. Sie hofft, die frische Luft möge den pochenden Schmerz hinter ihren Schläfen lindern. Am Bahnhof angelangt, stellt sie fest, daß bis zur Abfahrt des Zuges noch über eine Stunde Zeit ist. Sie leistet sich den Luxus, in der Bahnhofsgaststätte zweiter Klasse eine Mahlzeit einzunehmen. Fieberhaft denkt sie darüber nach, wie sie ihrer Mutter die niederschmetternde Nachricht schonend beibringen kann und ob in ihrem oder dem ihres Mannes entfernten Verwandtenkreis irgendjemand Kontakte nach Berlin hat. Da fällt ihr ein, daß ein Onkel von Sieglindes verschollenem Mann Karriere gemacht hat und vor einigen Jahren nach Berlin versetzt worden war.

Am Tag darauf sitzt Hedwig erneut in einem Eil-Zug, der sie zu ihrer Schwester bringt. Sieglinde soll ihr helfen, den angeheirateten Onkel in Berlin zu erreichen. Gemeinsam machen sich Hedwig, Sieglinde und ihre Kinder auf den Weg zu dem verwitweten Schwiegervater von Sieglinde. Er wohnt einige Kilometer entfernt im Nachbarort. Der alte Mann freut sich sehr über den unverhofften Besuch. Hedwig hatte ihn bisher nur zweimal im Leben gesehen, das erste Mal auf Sieglindes Hochzeit und dann auf ihrer eigenen. Seit dem Tod seiner Frau lebt er ziemlich zurückgezogen. „Hast du etwas von Walter gehört?“, fragt er die Schwiegertochter, kaum daß sie zur Tür herein sind. Sieglinde schüttelt stumm den Kopf. „Ich bin nur froh, daß das Walters Mutter nich´ mehr erleben muß. Gott sei Dank hat das Schicksal ihr wenigstens diesen Kummer erspart“, meint er betrübt. Hedwig ist erschüttert, wie sehr der Mann gealtert ist, seit sie ihn zuletzt sah. Er schlurft in die Küche, um für seine Gäste Malzkaffee aufzubrühen. Für Normalsterbliche ist richtiger Bohnenkaffee schon seit längerem nicht mehr erhältlich. Im Wohnzimmer steigen die Besucher über Stapel alter Zeitungen. Auf den Möbeln signalisiert eine deutliche Staubschicht, daß dringend geputzt werden müßte. Die Schwestern fragen nicht lange um Erlaubnis, sondern beginnen die Wohnung umgehend zu reinigen. Walters Vater läßt sie nach schwachem Protest gewähren. Als Hedwig und Sieglinde fertig sind, bringen sie das Gespräch auf den Anlaß ihres Besuches. Sie erfahren von dem alten Herrn, daß er mit seinem wesentlich jüngeren Bruder kaum noch Kontakt hat. Weshalb das so ist, bleibt im Dunkeln, denn er will darüber nicht reden.

Hedwig kehrt am gleichen Tag nach Hause zurück und besteigt in der darauf folgenden Woche den Nachtzug nach Berlin. Sie reist alleine. Walters Vater hatte sich beharrlich geweigert, seinem Bruder in der Reichshauptstadt einen Besuch abzustatten, nur widerstrebend zugestimmt ein paar Zeilen an ihn zu schreiben, worin er Hedwigs Kommen ankündigen würde. Sieglinde wollte die Aufsicht über ihre Kinder weder der schwermütigen Mutter noch dem kränkelnden Schwiegervater anvertrauen und ist deshalb auch nicht mitgefahren. Hedwig, die etliche größere Städte wie Köln, Düsseldorf, Basel oder Rotterdam kennt, ist überwältigt, als sie morgens in Berlin eintrifft. Eine so riesige Stadt, mit solchen verschwenderisch breiten Prachtstraßen, hatte sie bis jetzt noch nicht gesehen. Das Erste, was sie allerdings von Berlin kennenlernt, ist ein beim Bahnhof befindlicher U-Bahn-Bunker. In diesen muß sie sich mit einigen hundert anderen Volksgenossen flüchten, da unmittelbar nach ihrer Ankunft aufheulende Sirenen feindliche Flieger ankündigen. Erst als Entwarnung gegeben wird, fährt sie mit der Elektrischen weiter nach Steglitz. In diesem Stadtteil, in einer ruhigen Seitenstraße, liegt die Wohnung des Onkels von Walter. Ein akkurat gepflegter Vorgarten trennt den Eingangsbereich vom Bürgersteig. Am Klingelschild sucht sie den Namen. Es ist Sonntag und Hedwig hofft, den Onkel in seiner Wohnung anzutreffen. Sie hat Glück, wenige Augenblicke nach dem Drücken des polierten, messingfarbenen Klingelknopfes, signalisiert ein Summen, daß jemand den Türöffner betätigt hat. Wenn die Angabe auf dem Klingelschild stimmt, müßte der Onkel im ersten Stock residieren. Hedwig steigt die elegant geschwungene Holztreppe hinauf. Es riecht nach frischem Bohnerwachs. Die Wände des Treppenhauses zieren dunkelblaue Kacheln, teilweise mit ornamentalen Blumenmustern versehen. Das Haus macht einen vornehmen Eindruck. Oben im ersten Stock gibt es linker und rechter Hand je eine Flügeltür. Neben der Linken steht der Name des Onkels. Statt einer Klingel ist auf Augenhöhe ein Klopfer an der Tür befestigt. Hedwig läßt die Bronzehand zweimal vernehmlich niedersausen. Kurz darauf hört sie Schritte, und eine Hälfte der Flügeltür wird zügig aufgesperrt. Sie steht einem zierlichen Mann mit Bürstenhaarschnitt gegenüber, er ist kaum größer als sie. Eine runde Nickelbrille gibt seinem Gesicht etwas Buchhalterisches. „Wie kann ich ihnen helfen?“, fragt er ausgesucht höflich. „Ich bin die Schwester der Frau ihres Neffen Walter.“ Sein Mund verzieht sich zu einem angedeuteten Lächeln. „Ah richtig, mein Bruder hat mir ja geschrieben, daß Sie demnächst vorhätten, mich zu beehren. Treten Sie ein. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung, dies ist leider ein Junggesellenhaushalt.“ Hedwig steht in einem langen sauberen Flur mit zahlreichen Türen. „Ich hoff´, daß ich ihnen nicht ungelegen komm´.“ „Nein, ganz und gar nicht, Sie stören mich keineswegs. Ich habe mir gerade einige Leberwurstbrote gestrichen. Sonntags esse ich immer kalt. Falls Sie ein solches karges Mahl nicht verschmähen und mit mir teilen wollen, würde ich mich sehr geehrt fühlen“, behauptet er charmant. Hedwig hat gegen eine solche Einladung keinerlei Einwände. Ihren bescheidenen Reiseproviant, bestehend aus drei Äpfeln, hatte sie bereits in dem Bunker verzehrt. Der Onkel geleitet Hedwig in ein geräumiges Wohnzimmer. Eine wuchtige Couchgarnitur, bezogen mit dottergelbem Samt, nimmt einen beträchtlichen Teil des Raumes ein. Drei hohe Fenster lassen viel Licht herein. An einer Wand hängt mittig über dem Sofa ein goldgerahmtes Ölbild des Führers. Kaum hat Hedwig in einem der zwei Sessel Platz genommen, holt der Onkel auch schon die versprochenen Brote, bietet ihr dazu ein Glas Milch an. Nachdem sie gemeinsam alles verzehrt haben und Hedwig dem Onkel etliche Fragen über die Familie beantwortet hat, nutzt sie die Erwähnung ihres Vaters, um das Gespräch auf den Grund ihres Besuches zu lenken. Sie erzählt von seiner Verhaftung. Aber die höchst unerfreulichen Ausführungen des Kriminalinspektors verschweigt sie lieber. Der Onkel verspricht, sich um den Fall zu kümmern. Sie vereinbaren, daß Hedwig ihn morgen Nachmittag um halb drei in seinem Büro aufsuchen soll. Zur Übernachtung empfiehlt er die Pension ´Sonnenschein´, welche nur ein paar Straßenzüge von seiner Wohnung entfernt liege. Deutlich merkt man dem Onkel an, daß er wenig private Ansprache hat. Lebhaft beginnt er, von seinem Werdegang zu erzählen, wie er in seiner Jugend, gegen den erklärten Widerstand des Vaters, erfolgreich die Oberrealschule absolviert hatte und in der kaiserlichen Armee, als Einjähriger beginnend, im Krieg bis zum Leutnant aufgestiegen war, trotz fehlender bürgerlicher Herkunft. Nachdem die Reichswehr, aufgrund der schändlichen Bedingungen des Versailler Vertrages, auf hunderttausend Mann abgerüstet werden mußte, sei es ihm zum Glück gelungen, in den preußischen Polizeidienst übernommen zu werden. Früh war er der NSDAP beigetreten und hatte sich später zur Kriminalpolizei versetzen lassen. Als dann die Kriminalpolizei mit der Sicherheitspolizei, die aus dem Sicherheitsdienst der Partei und der Geheimen Staatspolizei gebildet worden war, zum Reichssicherheitshauptamt verschmolzen wurde, hatte man ihn nach Berlin abkommandiert. Stolz erwähnt der Onkel, daß er es bis zum Sturmbannführer und Kriminalrat gebracht habe. Es ist siebzehn Uhr, als Hedwig zu ihrer Unterkunft aufbricht, zuvor hatte der Onkel noch Bohnenkaffee kredenzt. Nach einem zehnminütigen Fußmarsch erreicht Hedwig die preisgünstige Pension. Die Pensionswirtin, eine resolute Berlinerin, befragt sie neugierig nach dem Anlaß ihres Aufenthaltes in der Hauptstadt. Frau Schmid gibt an, einen Verwandtenbesuch zu machen, was nicht gelogen ist. Die Wirtin läßt nicht locker, sie will es genauer wissen und erkundigt sich nach dem Namen der Verwandtschaft. Hedwig erwähnt Beruf und Rang des Onkels. Das macht gewaltigen Eindruck auf die Frau, sie wird wesentlich zuvorkommender. Hedwig erhält ein mittelgroßes Zimmer, in dem ein breites Messingbett, ein Nachtkästchen und ein weißer Schleiflackschrank stehen. Sogar ein großzügiges Waschbecken mit Spiegel ist vorhanden. Die Wirtin betont mehrmals, daß dies ihr bestes Fremdenzimmer sei. Sie zeigt dem Gast die auf dem Gang liegende Toilette und weist sie höflich auf die penible Einhaltung der Verdunkelungsvorschrift hin. Das ist ungewohnt für Hedwig, denn die amtliche Verordnung des lichtdichten Verschließens der Fenster bei Nacht wird zuhause im Dorf ziemlich lax gehandhabt, da man hier noch keine tödlichen Erfahrungen mit Bomberattacken gemacht hat. Auf Wunsch von Hedwig, die sich als Frau abends nicht allein in eine Kneipe setzen möchte, serviert ihr die Wirtin in dem Aufenthaltsraum im Erdgeschoß, der zugleich als Frühstücksraum genutzt wird, ein Abendessen bestehend aus Graupensuppe und Pellkartoffeln mit ein wenig Butter dazu.

Hedwig geht zeitig schlafen. Anderntags, gleich nach dem Frühstück, bezahlt sie ihr Zimmer und fährt zum Bahnhof zurück. Dort deponiert sie ihren kleinen Handkoffer in der Gepäckaufbewahrungsstelle. Jetzt, da sie schon einmal in der bedeutendsten Stadt Mitteleuropas weilt, will sie sich wenigstens auch ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen. Sie durchquert das Brandenburger Tor, besichtigt den Berliner Dom und dem Rat des Onkels folgend, die Museumsinsel. Im Museum durchwandert sie zahllose Säle. Am Ende ist ihr von den vielen Gemälden und antiken Skulpturen ganz schwindelig. In einem Kaffeehaus erholt sie sich von der klassischen Kunst, ißt eine Kleinigkeit. Anschließend schlendert Hedwig ohne Ziel und Plan durch die Straßen. Ihre Nervosität steigt von Minute zu Minute. Was wird der Onkel ihr mitteilen? Kann er vielleicht sogar Vaters Entlassung aus dem Arbeitslager erwirken? Diese Fragen schwirren Hedwig unablässig durch den Kopf. Es wird vierzehn Uhr und sie macht sich auf den Weg in die Wilhelmstraße. Am Eingang der Dienststelle erkundigt sie sich bei den militärischen Wachen nach dem Büro des Kriminalrats. Nachdem Frau Schmid Termin als auch Verwandtschaftsgrad genannt hat, geleitet man sie unverzüglich in den zweiten Stock, in das Vorzimmer des Sturmbannführers. Seine Sekretärin scheint bereits auf den Besuch gewartet zu haben, erhebt sich hastig von ihrem Schreibtischstuhl und eilt Frau Schmid entgegen. Hedwig stellt sich artig vor. „Ich weiß Bescheid“, fällt ihr die sorgfältig manikürte Vorzimmerdame auf eine geschäftsmäßig routinierte Art ins Wort, „aber der Herr Kriminalrat bedauert außerordentlich, Sie leider nicht empfangen zu können. Er mußte heute Vormittag kurzfristig eine längere Dienstreise antreten. Der Herr Kriminalrat läßt ihnen Folgendes ausrichten: Ihm seien in ihrer Angelegenheit die Hände gebunden. Jedoch sollten Sie sich keine Sorgen machen und nach Hause fahren. Er bat mich, ihnen überdies zu bestellen, daß er sich sehr gefreut hat, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben und ersucht Sie, Grüße an seinen Bruder auszurichten.“ Furchtbar enttäuscht und niedergeschlagen begibt sich Hedwig zum Bahnhof. Mit dem nächsten Schnellzug verläßt sie die Stadt, die ihr jetzt nur noch bedrohlich und ungastlich erscheint.

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