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4. Kapitel
ОглавлениеDeutschland liegt restlos am Boden. Seit Kriegsende ist es permanent weiter bergab gegangen, einzig der Hunger und die Hoffnungslosigkeit gedeihen prächtig. Täglich werden vom Krieg verschonte Maschinen, ganze Industrieanlagen, demontiert und außer Landes zu den Alliierten geschafft. Die deutsche Bevölkerung verharrt in Agonie, man steuert auf ein wirtschaftliches und menschliches Fiasko zu. Das begreifen allmählich auch die Siegermächte, zumindest ein Teil von ihnen. In dieser prekären Situation unterbreitet ein bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannter bayerischer Professor den neuen Machthabern einen Plan. Der Plan wird geprüft, akzeptiert und am zwanzigsten Juni in die Tat umgesetzt. An diesem Sonntag im Jahre 1948 wird dem Land überraschend eine neue Währung verordnet, die Deutsche Mark. Allerdings hat diese Nachtund-Nebel-Aktion einen bedauerlichen Haken. Die Sowjets versagen der Währungsreform ihre Zustimmung, was zur Folge hat, daß in der russischen Besatzungszone die alte Reichsmark vorläufig ihre Gültigkeit behält. Der erste Schritt zu einer Teilung Deutschlands ist damit vollzogen.
Heinrich kann diese Geldvernichtung egal sein, er hat kein Vermögen auf der Bank, sondern nur Schulden. Die Umstellung aller Forderungen und Verbindlichkeiten im Verhältnis eins zu zehn reduziert zwar auf dem Papier seine Verbindlichkeiten erheblich, aber andererseits schrumpfen auch seine laufenden Einnahmen entsprechend. Allein diejenigen Bürger, die über erkleckliche Guthaben in Reichsmark verfügten, machen verdrießliche Gesichter. Zwar konnten sie mit ihrem alten Geld wenig kaufen, jedoch die Zahl mit den vielen Nullen auf dem Konto gab ihnen ein Gefühl der scheinbaren Wohlhabenheit.
Die Schlangen vor den Banken am darauf folgenden Montag sind lang, sehr lang. Vom Neugeborenen bis zum Greis erhält jeder ein einmaliges Kopfgeld in Höhe von vierzig Mark. Sobald Frau Schmid mit einer Vollmacht versehen für ihren Schwiegervater, ihre Tochter und für sich selbst am frühen Vormittag die neuen Banknoten in Empfang genommen hat, dreht und wendet sie die Geldscheine neugierig hin und her. Hedwig schnuppert an den frisch gedruckten Scheinen, sie riechen intensiv nach Farbe. Den Geruch empfindet sie als recht angenehm. Sie läuft durch die Innenstadt von Mannheim und zurück zum Hafen. Die Geschäftsinhaber sind gerade dabei ihre Läden aufzuschließen. Sie drücken die eisernen Rolläden mit Stangen unter viel Getöse nach oben. Hinter den spiegelnden frisch geputzten Schaufensterscheiben erblickt man ein üppiges Warensortiment, das in dieser Reichhaltigkeit seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen worden war. Hedwig bleibt immer wieder fasziniert stehen und betrachtet sich die verführerischen Auslagen. ´Was Hans wohl dazu sagen würde, wenn er all dies noch sehen könnte?´, denkt sie, während ihr schmerzlich bewußt wird, wie lange sie bereits Witwe ist - drei Jahre! In rund zehn Monaten endet ihre Ausbildung zum Matrosen der Rheinschiffahrt. Hedwig hätte eine Tätigkeit als Matrose unter normalen Umständen nie angestrebt. Sie ist nicht unbedingt glücklich mit ihrem Los, im Großen und Ganzen aber halbwegs zufrieden. ´Ich hab´ dann wenigstens einen ordentlichen Berufsabschluß´, frohlockt sie innerlich. Als Ehefrau war Hedwig ein solcher Gedanke niemals in den Sinn gekommen. Sie denkt auch darüber nach, ob sie in einigen Jahren zusätzlich die Schiffsführerprüfung anstreben soll. Schnell kommt sie zu einem eindeutigen Ergebnis: nein. ´Ich hätt´ niemals die Nerven und auch nicht die notwendige Kraft an der Haspel, um einen Kahn in jeder brenzligen Situation sicher durch die Fluten zu steuern ´, schätzt sie ihre Fähigkeiten nüchtern ein.
In den folgenden Tagen bricht der alles beherrschende Schwarzmarkt innerhalb der Westzonen zusammen. Nur noch wenige Grundnahrungsmittel müssen weiterhin mit Hilfe der Lebensmittelkarten vom Staat subventioniert werden. Aber von einer sofortigen deutlichen Erholung der wirtschaftlichen Lage kann trotzdem keine Rede sein. Vor der Währungsreform gab es genügend Banknoten, jedoch nichts zu kaufen. Jetzt gibt es fast alles zu kaufen, aber kaum einer verfügt über das hierfür notwendige Geld. Noch bewegt sich der Aufschwung vorwiegend in psychologischen Bahnen.
Ilse hat sich an die neue Umgebung gewöhnt, ihre schulischen Leistungen erfreuen Lehrer und Mutter gleichermaßen. Hedwig fallen die vielen Monate ohne ihre Tochter ausgesprochen schwer. Bereits Wochen vorher fiebert sie dem Wiedersehen entgegen. Seit der Gewißheit über das Schicksal ihres Mannes konzentriert sich Hedwigs Liebe ganz auf Ilse. Trotz allem ist ihr jedoch klar, daß die Tochter in wenigen Jahren eigene Wege beschreiten wird und nicht ihr Eigentum ist. Unter diesem Blickwinkel betrachtet kann es keinesfalls schaden, das Abschiednehmen schon mal zu üben.
Ilse liebt ihre Mutter heiß und innig, so wie fast jedes Kind seine Mutter liebt. Bis vor kurzem brachte sie ihr auch ein blindes Vertrauen entgegen. Was die Mutter behauptete, das glaubte Ilse unbesehen. Dieses absolute Vertrauen in die Allwissenheit der Mutter bekam an jenem Tag einen argen Knacks, als Ilse erfuhr, daß der Vater nie mehr zurückkehren werde, da er in Gefangenschaft gestorben sei. Zu der Trauer um den verlorenen Vater gesellte sich eine große Verunsicherung, denn unzählige Male hatte die Mutter auf Ilses Frage nach der Heimkehr des Vaters geantwortet: ´Er werde bald kommen´. Schlagartig war Ilse bewußt geworden, daß sich ihre Mutter auch irren konnte, eine erschütternde Erkenntnis. Aber in Ilses Leben gibt es noch eine zweite Person, an der sie fast gleichermaßen hängt – Henriette. Diese allzeit gütige Frau mit den freundlich blickenden Augen ist ihre Herzens-Großmutter. Ihre leibliche Großmutter, deren Namen sie trägt, kennt Ilse bloß von einigen Besuchen. Zuletzt hatte sie ihre geliebte Nenn-Oma Henriette während der Weihnachtsferien gesehen. Mutter und Großvater waren ebenfalls über Weihnachten zu Hause gewesen. Am ersten Weihnachtstag war ein Gänsebraten aufgetischt worden, ein unbeschreiblicher Luxus, wie es Ilse schien. Allzu lange war es her, daß sie ähnliche Köstlichkeiten gegessen hatte. Andererseits hatte sie wieder an ihre geschlachteten Kaninchen denken müssen, was dem Genuß einen spürbaren Dämpfer versetzt hatte.
Unterdessen stehen die Osterferien vor der Tür. Morgen hat Ilse ihren vorläufig letzten Schultag und übermorgen wird sie die beste aller Großmütter in die Arme schließen können, ihre Vorfreude ist unbeschreiblich. Zum ersten Mal in ihrem Leben reist Ilse alleine mit der Eisenbahn. Sie ist mächtig stolz und aufgeregt zugleich. Als sich die Waggons dem heimatlichen Bahnsteig ratternd und schaukelnd nähern, lehnt sie sich ungeduldig aus dem Fenster ihres Abteils. Erst undeutlich, dann immer deutlicher erkennt sie zwischen den Rauchschwaden, welche drei Wagenlängen weiter vorne von der Dampflokomotive in rhythmischen Schüben ausgestoßen werden, den Menschen, der sie ebenfalls sehnsüchtig erwartet. „Großmama, Großmama“, ruft sie und fuchtelt dabei heftig mit den Armen. Kaum ist der Zug zum Stillstand gekommen, reißt sie die Waggontür auf, schnappt sich ihren Koffer und stürzt der Großtante entgegen. Stürmisch begrüßt Ilse ihre Nenn-Oma, umarmt sie dermaßen fest, daß dieser beinahe die Luft wegbleibt. Seit dem Winter ist Ilse nochmals gewachsen und nur noch unmerklich kleiner als ihre Großtante. Henriette wehrt Ilse herzlich lachend ab. „Meine Güte bist du stark geworden, du erdrückst mich ja fast. Bitte nimm auf mich alte Frau ein bißchen mehr Rücksicht.“ „Nein“, protestiert ihre Großnichte vehement, „du bist überhaupt nicht alt!“ „Komm´ mal erst in mein Alter, dann wirst du schon merken, wovon ich sprech´, meine Knochen sind verbraucht, das lassen sie mich täglich spüren.“ „Großmama, du wirst bestimmt hundert Jahre alt.“ „Um Gottes willen, bloß das nicht“, erwidert Henriette, nimmt Ilse bei der Hand und geht mit ihr in Richtung Bahnhofsausgang. Seit der fürchterlichen Gewißheit über den Tod von Hans konzentriert sich auch Henriettes Zuneigung voll und ganz auf das Mädchen an ihrer Seite. Die Ähnlichkeiten in einzelnen Gesichtspartien, die sie zwischen Ilse und Hans zu erkennen glaubt, verstärken diese Liebe noch zusätzlich.
An den folgenden Tagen wird Ilse von ihrer Großtante nach Strich und Faden verwöhnt. Seit Wochen hat Henriette gespart, um ihrer Großnichte all jene Gerichte bieten zu können, die Ilse so sehr schmecken. Es gibt Fisch, zarte Rinderleber, Pfannkuchen, Grießbrei mit Zimt und sogar Schokoladenpudding. Ilse hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn das ewig so weiter ginge, aber dummerweise sind es immer die Ferienzeiten, egal ob zu Hause oder auf dem großväterlichen Kahn, die jedesmal in Windeseile vorübergehen. Schon in zwei Tagen wird das unbeschwerte Leben bereits wieder vorbei sein, dann heißt es erneut Abschied nehmen von der geliebten Großtante. Schnell verscheucht Ilse beim Aufwachen den trüben Gedanken, lieber denkt sie an heute.
Der Tag verheißt trockenes Wetter und für die Jahreszeit relativ milde Temperaturen. Beim Frühstück beschließt Ilse, den Bach am Dorfrand aufzusuchen, der sie seit frühester Kindheit magisch anzieht. Etliche Sommer lang hatte sie das Wasserrinnsal, zusammen mit anderen Kindern aus dem Dorf, durch die Verwendung von Steinen, Ästen und Grasbüscheln aufgestaut, um anschließend darin baden zu können. Das Planschen in dem wohltuend kühlen Naß war ein herrliches Vergnügen gewesen. Aber unbewußt zieht es Ilse zu diesem Gewässer auch, weil sie hofft, in seinem Gemurmel die Stimme ihres Vaters zu vernehmen. Genauso wie sie Fritz manchmal gehört hatte.
Ilse sitzt auf einem umgefallenen, moosbewachsenen, morschen Baumstamm und lauscht dem Rauschen des Baches. Das Schmelzwasser hat das Rinnsal gehörig anschwellen lassen, als dunkler Strom tost es beängstigend schnell vorüber. Der Bachlauf, der im Sommer Ruhe und Gemächlichkeit ausstrahlt, wirkt jetzt gefährlich und ruhelos. Irgendwie überträgt sich diese Unruhe auf dessen Betrachterin. Ilse bleibt nicht lange sitzen, irgendetwas treibt sie wieder nach Hause.
Ihre Großtante ist nicht in der Küche, obwohl man Henriette um diese Uhrzeit üblicherweise dort antrifft. Ilse ruft mehrmals nach ihr - keine Antwort. ´Merkwürdig´, denkt sie, ´wo steckt Großmama bloß.´ Sie sucht in allen Räumen des Hauses, steigt sogar hinauf auf den Dachboden und geht auch in den Keller. Großmama bleibt unauffindbar. Ilse ist irritiert. ´Ach´, versucht sie sich zu beruhigen, ´sie is´ wahrscheinlich bloß bei einer Nachbarin. Ich werd´ in den Garten gehen und einen Strauß Osterglocken pflücken. Wenn Oma nachher die Blumen auf dem Küchentisch vorfindet, freut sie sich.´ Ilse läuft hinaus. Gerade ist sie um die hintere Ecke des Hauses gebogen, da sieht sie zwischen den kahlen Gemüsebeeten eine Gestalt am Boden liegen. Ilse zuckt zusammen. „Großmama!“, schreit sie und hastet zu dem leblosen Körper. Sie rüttelt erst sachte, dann intensiver am Arm ihrer Großtante. Henriette rührt sich nicht. Ilse zittert am ganzen Leib. Sie weiß nicht was sie tun soll. „Hilfe, Hilfe“, brüllt sie immer wieder völlig kopflos. Nachbarn hören ihre verzweifelten Rufe, einer nach dem anderen kommt angelaufen. Alle Wiederbelebungsversuche bleiben erfolglos, Henriette ist tot. Der eiligst herbeigerufene Arzt diagnostiziert einen Herzschlag. „Deine Großtante hat sicher nicht leiden müssen, vermutlich hat sie ihren Tod nicht einmal bemerkt.“ Mit diesen Worten meint der Mediziner das Kind beruhigen zu können, das weinend und völlig verstört im Wohnzimmer sitzt.
Fünf Tage darauf findet die Beerdigung statt. Ilse wird bis dahin vom Schulunterricht befreit und wohnt vorübergehend bei einer Nachbarin. An diesem fast wolkenlosen Tag sind viele Dorfbewohner sowie die nächsten Angehörigen am Grab Henriettes versammelt. Dicht neben dem offenen Grab steht der Pfarrer. Er spricht in salbungsvollen Worten von einem erfüllten Leben der Verstorbenen, rühmt sie als gottesfürchtige Frau und betont ihre stets auf das Wohl der Familie gerichtete Sorge. Am Schluß seiner Rede mahnt er die Trauernden, daß man als guter Christ den unerforschlichen Ratschluß des Herrn in Demut annehmen muß. Hedwig hört ihm nicht zu, ihre Gedanken sind bei Henriette. Für sie war die Verstorbene auch die Verkörperung einer untergegangenen Epoche, denn dem abgedankten Kaiser hatte Henriette stets die Treue gehalten. Als er während des letzten Krieges im holländischen Exil starb, entzündete sie in der Kirche extra eine Kerze für sein Seelenheil. Sie gab ihm keine Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Ihrer Meinung nach hatte sich der Kaiser von ehrgeizigen Hofschranzen aufstacheln lassen. Das war für Hedwig eine völlig neue Sichtweise gewesen. Ihr eigener Vater hatte an dem Kaiser nie ein gutes Haar gelassen, ihn zeitlebens als einen großspurigen Esel bezeichnet. Die Bilder Henriettes, ihres Vaters und auch das von Hans, stehen Hedwig klar vor Augen, wie sie gehen, lachen, sprechen. ´Die Bilder werden mit der Zeit sicher undeutlicher´, überlegt sie, ´aber verlöschen werden die Bilder in meiner Erinnerung nie.´ Hedwigs Blick fällt auf ihre Tochter, welche mit ernstem verschlossenem Gesicht schräg vor ihr steht. Ilse spürt den Blick der Mutter, dreht sich aber nicht um. Sie schenkt der Rede des Pfarrers ebenfalls keine Beachtung. Seit sie ihre Großtante tot aufgefunden hat, fragt sich Ilse ständig, ob der tosende Bach sie vielleicht warnen wollte. Würde Heinrich diese Überlegung seiner Enkelin kennen, hätte er für solche esoterischen Reflexionen wenig Verständnis. Nach der Ansprache des Pfarrers tritt er, als engster Verwandter der Toten, als Erster der Trauernden an das offene Grab, um eine Handvoll Erde auf den soeben versenkten Eichensarg seiner Schwester zu werfen. Heinrich ist keineswegs religiös, trotzdem symbolisiert für ihn die Erde in seiner Hand den Kern allen Daseins. ´Aus diesem Stoff sind wir alle gemacht, und nach unserem Erdenleben zerfallen wir erneut in ihn. Die Seele ist bloß eine geschickte Erfindung der Priester, um die Gläubigen für die Obrigkeit leichter kontrollierbar zu machen.´ Mit diesen illusionslosen Gedanken im Kopf wendet er sich vom Grab schnell wieder ab.
Keine zwei Tage später ergreift der Alltag wieder Besitz von der nun noch kleiner gewordenen Schifferfamilie. Der Prozeß eines ewig gleichförmigen Ablaufs von Geburt, Leben und Tod setzt sich unbeirrt fort. Die Erwachsenen kehren zurück auf das Schiff und Ilse geht wieder in ihre Schule. Das Haus im Dorf bleibt vorläufig verwaist.
Im Todesjahr von Henriette wird die Bundesrepublik Deutschland, am 21. September 1949, mit dem Segen und unter der strengen Aufsicht der westlichen Alliierten gegründet. In den zuvor abgehaltenen Wahlen haben etliche derjenigen Politiker ihre verlorenen Pfründe zurückerobert, die vor siebzehn Jahren aus den begehrten Stühlen der Macht unsanft verdrängt worden waren. Hingegen gibt es bei der Beamtenschaft und den Richtern eine gewisse Kontinuität, denn all diejenigen, die sich während der Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus nicht übermäßig exponiert hatten oder den Siegern glaubhaft machen konnten, daß sie sich nur oberflächlich und im Grunde widerstrebend angepaßt hätten, dürfen weiter in Amt und Würden bleiben. Für diese gründliche Gesinnungsprüfung waren bald nach der Kapitulation im ganzen Land zahlreiche Spruchkammern eingerichtet worden, deren honorige Mitglieder, anhand von schriftlichen Unterlagen, Zeugenaussagen und persönlichen Beteuerungen der Betroffenen, nun darüber befinden, wer als ´Unbelastet´ oder höchstens als ´Mitläufer´ einzustufen ist. In einigen Fällen helfen die zu sehr Befleckten mit ein wenig Geld nach, lassen so ihre Westen etwas weißer erscheinen. Dort wo das nachweisbar ist, werden die Bestechenden von ordentlichen Gerichten hart bestraft. Dagegen bleiben die bestochenen Spruchkammermitglieder merkwürdigerweise alle unbehelligt.
Das Jahrhundert ist zur Hälfte vorbei, da öffnet der Papst die Pforte des Petersdoms, das Heilige Jahr beginnt. Wer in diesem Jahr als katholischer Sünder eine Pilgerreise nach Rom antritt, der erlangt nach den Vorstellungen des Vatikans die Verzeihung seiner Verfehlungen durch Gott. Weder Heinrich noch Hedwig oder Sieglinde verspüren die geringste Notwendigkeit, eine solche Büßerreise anzutreten. Einzig Großmutter Ilse würde zu gern nach Italien pilgern, doch dafür fehlt ihr das nötige Geld.
Der älteste Sohn von Herrn Carsten ist im Februar des Heiligen Jahres vierzehn geworden. Im Sommer bringt er seine acht Pflichtschuljahre hinter sich und wird mit einem mäßigen Abgangszeugnis aus der Hauptschule entlassen. Er hat stets ungern die Schulbank gedrückt, Theorie war nie seine Stärke gewesen. Sven Carsten wäre so ziemlich jede Arbeit recht, solange es bloß keine Bürotätigkeit ist. Aber Lehrstellen sind rar, egal in welcher Branche. Überhaupt hat die Arbeitslosigkeit seit der Währungsreform dramatisch zugenommen. Die Ursachen sind allgemein bekannt: Zum einen waren in den vergangenen Jahren Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Mitteldeutschland, Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland nach Westdeutschland geströmt, die nicht nur eine Unterkunft brauchten. Zum anderen werden weiterhin komplette Industrieanlagen von den Siegermächten konfisziert, demontiert und abtransportiert. Herr Carsten fragt seinen Chef, ob er nicht einen tüchtigen Schiffsjungen gebrauchen könnte. Heinrich findet Sven recht sympathisch. Der Junge ist groß, kräftig und lacht nie. Wenn ihm jemand einen derben Witz erzählt, zeigt sein frühreifes Gesicht höchstens die Andeutung eines Schmunzelns. Überdies ist Sven ausgesprochen wortkarg, gerade das gefällt Heinrich. Ihm kommt eine Idee. Vielleicht könnte man aus dem Jungen einen brauchbaren Schiffer machen, der eines Tages um die Hand seiner Enkelin anhält, dann würde sein Kahn doch noch in Familienhand bleiben. Diesen Gedanken behält er aber für sich. Hedwig vergleicht insgeheim Sven mit Fritz, dem allzeit der Schalk im Nacken gesessen hatte. Der Vergleich fällt entschieden zuungunsten von Sven aus. Sie kann mit dessen verschlossener Art nichts anfangen. Doch Hedwig erhebt keinen Einwand, als Heinrich nach einigen Tagen Bedenkzeit beschließt, Sven als Schmelzer mit an Bord zu nehmen. Die Entscheidung fällt ihm um so leichter, weil sich in der zweiten Jahreshälfte die Konjunktur spürbar erholt, der Korea-Krieg ist entbrannt. Die neu entstandenen Weltmächte tragen ihr Kräftemessen erstmals gewaltsam aus. Die Nachfrage nach Stahl und Rohstoffen steigt sprunghaft an, davon profitiert, mit einiger Verzögerung, auch die westdeutsche Wirtschaft.
Hedwig hat es sich seit geraumer Zeit zur Gewohnheit gemacht, einmal in der Woche, meistens am Sonntag, die Ausgabe einer Zeitung durchzublättern. Das Blatt besorgt sie sich jeweils an einem Kiosk in irgendeinem Hafen. Es ist mal wieder Sonntag und die Zeitung liegt ausgebreitet vor Hedwig auf dem Tisch des Wohnzimmers der Roef. Da die ´Minerva´ an diesem Wochenende in einem Hafen festgemacht hat, ruht sich Heinrich auf der Couch neben ihr gerade ein bißchen aus. Einen harten Arbeitstag ohne längere Pausen durchzustehen, fällt ihm seit einiger Zeit sichtlich schwer. Insofern betrachtet der Partikulier einen Sonntag am Kai mittlerweile nicht mehr nur als einen Tag mit fehlenden Einnahmen, sondern auch als willkommene Gelegenheit, etwas kürzer treten zu können. Heinrich verspürt zwar wenig Lust die Zeitung selber zu lesen, aber er empfindet es nicht als störend, wenn die Schwiegertochter das eine oder andere daraus vorliest. „Hör mal“, sagt sie in die Stille hinein, „hier steht, man habe in Berlin eine überparteiliche Bürgerbewegung gegründet. In deren Programm wird die Überzeugung vertreten, Deutschland sei keineswegs arm an vernünftigen Menschen, aber die Vernünftigen wollen sich üblicherweise nicht zusammenschließen, folglich seien die Anständigen und Klugen stets der organisierten Wichtigtuerei, Humorlosigkeit und Bürokratie ausgeliefert.“ Heinrich lacht. „Merkt denn keiner, was das für ein Widerspruch ist?“ Sein sardonisches Lachen und der lakonische Kommentar dazu irritieren Hedwig. „Wieso?“, fragt sie verdutzt. Heinrich läßt sich Zeit mit der Antwort. Er kaut nachdenklich an seinem erkalteten Zigarrenstumpen, bevor er den Mund aufmacht. „Wenn sich unter dem Dach eines solchen Vereins tatsächlich Leute zusammenfinden sollten, dann wär´n sie ja im Sinne des eigenen Programms Wichtigtuer, da es selber feststellt, daß sich allein solche Menschen organisieren.“ Hedwig ist verblüfft, so viel Scharfsinn hätte sie ihrem Schwiegervater gar nicht zugetraut.
Das Zeitungslesen bleibt nicht der einzige Luxus, den sich Hedwig nun regelmäßig gönnt. Immer mehr Kinos öffnen ihre Pforten. Über deren Leinwände flimmern zahlreiche Heimatfilme, die den entbehrungsreichen Alltag für ein bis zwei Stunden vergessen lassen. Aber es werden ebenso jede Menge US-Filme gezeigt. Sie haben nach dem Willen der Besatzer hauptsächlich den Zweck, die Deutschen vom überlegenen Lebensstil der westlichen Kultur, sprich der amerikanischen, zu überzeugen. Doch gibt es unter den Hollywood-Filmen auch einige wenige, welche sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Einer dieser Filme beeindruckt Hedwig besonders. Sie sieht ihn an einem nebligen Novemberabend in einem Wiesbadener Kino. Auf den ersten Blick scheint es einer dieser zahllosen Westernfilme zu sein, die die Eroberung des amerikanischen Kontinents durch den weißen Mann glorifizieren, er nennt sich: ´The broken arrow´. In dem Film werden aber nicht tapfere Cowboys und arglose Farmer von hinterhältigen wilden Indianern drangsaliert oder massakriert, sondern in aller Schonungslosigkeit wird die Ignoranz der Weißen vorgeführt. Der Film endet tragisch, wie alle hervorragenden Filme. ´Vielleicht ist es kein Zufall, daß im Angesicht der zahllosen Verbrechen an Unschuldigen und Wehrlosen während der Diktatur des Nationalsozialismus, einige selbstkritische Amerikaner auch auf ihre eigene Geschichte blicken und die Indianer nicht länger als Untermenschen hinstellen wollen, deren fast vollständige Ausrottung eine kulturelle Segenstat war,´ sinniert Hedwig, während sie sich, noch benommen von den eindringlichen Leinwandbildern, mit dem Strom der übrigen Zuschauer ins Freie treiben läßt. Einem gut aussehenden Herrn in ihrem Alter, der sie gleich neben dem Ausgang höflich, eher unaufdringlich, anspricht und sie zu einem Getränk einladen möchte, gibt sie freundlich, aber bestimmt einen Korb. Der Unbekannte wirkt durchaus sympathisch, doch hat Hedwig, obwohl ungebunden, auf unerklärliche Weise erhebliche Skrupel mit einem fremden Mann auszugehen. Es ist spät geworden, sie macht sich schnellen Schrittes auf den Weg zum Schiff.
Am Ende des Jahres sind Ilse und die anderen Mädchen des Kinderschifferheimes in heller Aufregung, man hat ihnen verkündet, daß es einen Umzug geben wird. Das wohin verbreitet sich als Gerücht einige Zeit danach rasend schnell im ganzen Haus: Sankt Joseph, das Schifferkinderheim für Knaben in Mannheim. Die Mädchen stecken ihre Köpfe zusammen und tuscheln heftig, kaum daß im Schlafsaal die wachhabende Nonne das Licht gelöscht hat und hinausgegangen ist. Sie werden sittenstreng erzogen und wurden bisher, auch in der Schule, strikt von den Knaben ferngehalten. Die Mädchen sind neugierig, aufgeregt und alle möglichen Vorstellungen schwirren durch den dunklen Saal. Das Gerede wird lebhafter und bald bemerkt die Nonne die wachsende Unruhe. Sie schreitet energisch ein und sorgt schnell für Ruhe im Schlafsaal. Einige Tage später ist es dann amtlich, nächste Woche wird die Luisen-Stephanien-Stiftung in das ehemalige Bumiller Haus, dem Schifferkinderheim für Knaben umziehen.
Ilse steht mit ihren Habseligkeiten vor einer stattlichen Villa. Daß das Haus im strengen neoklassizistischen Stil erbaut wurde, ist ihr unbekannt und absolut egal, sie ist auf das Innere gespannt. Gibt es dort kleinere Schlafsäle? Sind die Waschräume etwas moderner? Auf die Jungen ist sie, im Gegensatz zu ihren gleichaltrigen Kameradinnen, nicht erpicht. Ilse wird in ihren Hoffnungen arg enttäuscht, so beeindruckend die Stuckdecken der Räume, die geschnitzten Türen und die mosaikartigen Holzfußböden sind, so wenig ergibt sich in den Dingen, worauf es ihr ankommt eine Verbesserung. Im Gegenteil, man wohnt hier noch beengter als in ihrem alten Zuhause, dem Fröbelseminar.