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4. Kapitel
ОглавлениеKnapp ein Jahr danach beginnt der Führer, seinen Traum vom Großdeutschen Reich in die Tat umzusetzen. Österreich und einige Monate später das Sudetenland werden halb freiwillig, halb gezwungenermaßen in das Reich eingegliedert. Heinrich plagen derweil wesentlich subtilere Sorgen. Die in den letzten Jahren weitgehend stabilen Frachtraten auf dem Rhein sind seit einiger Zeit im Fallen begriffen. Aufgrund des anhaltenden Wirtschaftsaufschwunges waren eine Vielzahl neuer Kähne bei den Werften in Auftrag gegeben worden, nicht allein in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden und der Schweiz. Die internationale Konkurrenz ist spürbar schärfer geworden. Zusätzlich macht sich inzwischen ein gewisser Arbeitskräftemangel bemerkbar. Eine Situation, die für den Schiffseigner der ´Minerva´ in Kürze zu einem ernsthaften Problem werden könnte, denn in einem Monat beendet Fritz seine dreijährige Lehrzeit und ist dann Matrose. Bei einer Bootsgröße, wie sie die ´Minerva´ darstellt, fordert die Schifffahrtsordnung als Besatzung, falls eine motorgetriebene Ankerlier vorhanden ist, neben einem Schiffsführer, mindestens einen Matrosen und einen Schmelzer. Doch kann die Stelle des Schiffsjungen genauso gut durch einen zweiten Matrosen besetzt werden. Heinrich steht vor der vertrackten Wahl, entweder die Heuer von Fritz bald kräftig erhöhen zu müssen oder ihn als Matrosen nicht zu übernehmen und damit Gefahr zu laufen, in der momentanen Arbeitsmarktlage so rasch keinen neuen brauchbaren Lehrling zu finden. Der angehende Matrose ist aber ebenfalls unschlüssig, ob er auf der ´Minerva´ bleiben soll. Einerseits hat er die zahlreichen Backpfeifen und Beschimpfungen des Alten, besonders am Anfang seiner Lehrzeit, nicht vergessen, andererseits sind ihm in den letzten Jahren über die Behandlung anderer Schiffsjungen weitaus schlimmere Dinge zu Ohren gekommen. Mit Hans versteht er sich zwar recht gut, aber diese beidseitige Sympathie bedeutet ihm wesentlich weniger, als seine heimliche Schwärmerei für Hedwig, ihr gehört seine ganze Zuneigung, ja Liebe. Fritz hat selbstverständlich zu niemandem über seine Gefühle gesprochen. Trotzdem hat er sich, ohne es zu ahnen, durch zahlreiche schüchterne Gesten längst verraten. Hans nimmt Fritz als Konkurrenten nicht ernst, im Gegenteil, es amüsiert ihn höchstens, wenn er merkt, wie der Schmelzer sich um die Zuneigung seiner Frau bemüht. Er neckte Hedwig diesbezüglich schon ein paar Mal und lachte herzlich, als sie daraufhin errötete. Denn auch sie hatte durchaus mitbekommen, wie es um das Gefühlsleben von Fritz bestellt ist. Und sogar Heinrich, der auf solche Dinge normalerweise wenig achtet, ist die auffallende Zuvorkommenheit seines Schiffsjungen der Schwiegertochter gegenüber nicht entgangen.
Die Tage verrinnen. Der Zeitpunkt rückt unerbittlich näher, an dem sich Heinrich endlich entscheiden muß, ob er Fritz das Angebot macht, zukünftig auf dem Kahn als Matrose zu fahren. Da passiert es, ein Unglück! Wie unzählige Male zuvor liegt die `Minerva` seit dem Mittag am Kai des Mühlauhafens von Mannheim. Von weitem hört Hans Kobold bellen und gleich darauf sieht er seinen Vater mit dem Hund zügig den Kai heraufmarschieren. Heinrich kommt direkt vom Büro des Spediteurs. An der Art seines Schrittes erkennt Hans sofort, daß es beim Auftraggeber gut gelaufen sein mußte. „He Hans, komm her!“, befiehlt Heinrich seinem Sohn energisch, kaum daß er einen Fuß auf den Gangbord des Schiffes gesetzt hat. Der Gerufene steht am Heck und versucht mit Hilfe einer Zange einen stark verrosteten Schäkel von der Kette des Achterankers zu lösen. Aber Heinrich bleibt nicht stehen, bis sein Sohn zu ihm kommt, was er auf alle Fälle täte, wenn er schlecht gelaunt wäre. Er geht auf seinen Matrosen zu. „Hans, hol´ sofort Fritz und beginnt mit dem Aufdecken der Luken. In einer Stunde kommen die Schauerleute zum Löschen der Fracht.“ „Vater, da mußt du ausnahmsweise mit anpacken. Ich hab´ Fritz erlaubt, mit Hedwig in die Stadt zu gehen. Er soll ihr beim Tragen der Einkäufe helfen. Du weißt ja, wie gern er das macht.“ Beim letzten Satz zwinkert er seinem Vater verschwörerisch zu. Wenn Heinrich nicht ausgesprochen guter Dinge wäre, müßte sich Hans jetzt vermutlich auf ein Donnerwetter gefaßt machen, aber so greift er die Andeutung seines Sohnes nur mit gespieltem Ärger auf. „Da werd´ ich demnächst wohl zwei Fahrräder kaufen müssen, damit sich die Herrschaften beim Einkaufen nicht überanstrengen.“ Hans lacht. „In Ordnung, dann machen wir uns eben an die Arbeit“, erwidert Heinrich großzügig und schreitet forsch zu den Laderäumen voran, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. Hans und Fritz sind bei dieser Tätigkeit ein eingespieltes Gespann. Heinrich fehlt dagegen jegliche Übung, denn seit er seinen Vater vor über zwanzig Jahren in der Führung des Schiffes abgelöst hatte, mußte er nur noch selten Lukendeckel schleppen. Kaum haben Partikulier und Matrose den ersten Laderaum abgedeckt, als ein heftiger Regen einsetzt. Die körperlich sowieso anstrengende Arbeit wird dadurch noch unangenehmer. Heinrichs Laune kühlt merklich ab. Er unterbricht die Schinderei, will sich aus seiner Roef Ölzeug zum Schutz gegen die Nässe holen. Kobold folgt ihm auf dem Fuße. Die kurze Abwesenheit seines Vaters möchte Hans nutzen, die ein wenig schief aufgeschichteten Eichenbretter gerade zu rücken. Durch den Platzregen ist die Schiffsbeplankung ziemlich glitschig geworden. Als sich Hans zum flachen Herftdach hinaufschwingt, auf dem die Lukenbretter abgelegt sind, rutscht er mit einem Fuß seitlich weg. Unwillkürlich greift er, um nicht abzustürzen, mit der rechten Hand nach dem zuoberst gestapelten Lukenbrett, das der unsauberen Schichtung wegen hervorsteht. Der Bretterstapel gerät ins Wanken und kippt zur Seite. Hans spürt einen gräßlich stechenden Schmerz in der linken Hand, mit der er sich am Rande des eisernen Herftdaches abgestützt hatte. Die Finger, außer dem Daumen, sind zwischen der Kante des zweit untersten Lukendeckels und dem Dach wie in einem zugedrehten Schraubstock eingeklemmt. Zunächst beachtet Hans seine verletzten Finger kaum, denn es droht bereits weit schlimmeres Ungemach. Jeden Moment kann der bedenklich schief stehende Bretterstapel auf seinen linken Arm krachen und ihn zerschmettern. Er brüllt aus einer Mischung von Angst, Schmerz und Wut auf. Die Matrosen der in der Nähe liegenden Kähne werden durch den Schrei alarmiert, auch mehrere Arbeiter an Land horchen auf. Nachdem sie festgestellt haben, von wo der Aufschrei kam, eilen sie umgehend herbei. Hans´ Vater, dem ebenfalls das Gebrüll nicht entgangen ist, nimmt die Treppe hinauf an Deck in drei Sätzen und reißt die Roeftür auf. Er erfaßt in Sekunden die gefährliche Lage und rennt so schnell er kann den Gangbord entlang, um seinem Sohn zu helfen. Nach einigen Schritten stolpert er aber und knallt der Länge nach auf die Decksplanken. Besinnungslos bleibt der Partikulier liegen. Die ersten Matrosen und Arbeiter gelangen an Bord. Sie sahen gerade noch, wie der Schiffer stürzte. Einer von ihnen läuft zu ihm, die Anderen beeilen sich, den Eingeklemmten zu erreichen. Mit vereinten Kräften stemmen sie sich gegen den Stapel aus Brettern. Weitere Helfer eilen hinzu, gemeinsam befreien sie Hans und ziehen ihn behutsam aus dem Gefahrenbereich. Heinrich kommt wieder zu Bewußtsein. Noch völlig benommen von seinem Sturz und gestützt auf den Arm eines Matrosen, humpelt er zu Hans hinüber. Jemand hat Wolldecken geholt, man ist gerade dabei eine unter den Kopf von Hans zu schieben. Mit den übrigen Decken schützen sie seinen Körper vor der Nässe. Die Finger sehen gar nicht gut aus. „Ich glaub´, da kann nur ein Arzt helfen“, urteilt einer der anwesenden Schiffer. „Ruf´ schnell einen Krankenwagen, Herbert“, weist ein schmächtiger Arbeiter einen Jüngeren an, der direkt neben ihm steht. Der Angesprochene spurtet, ohne ein Wort zu erwidern, ans Ufer zurück. Kaum eine Minute später ist er in einem in der Nähe gelegenen Gebäude verschwunden, um nach einem Krankenwagen zu telefonieren. Der Partikulier bückt sich zu seinem Sohn herunter. Der Schädel brummt ihm, als ob sich darin ein Hornissenschwarm eingenistet hätte. Obendrein schmerzt sein rechtes Knie. Allerdings ist das Heinrich in dieser Situation völlig egal. Er hat die unversehrte Hand seines Sohnes ergriffen. „Kopf hoch, mein Junge, das wird schon wieder. Der Doktor flickt dich zusammen.“ Der so Angesprochene versucht sich ein Lächeln abzuringen, es wirkt jedoch äußerst gequält. Hans ist leichenblaß im Gesicht. Unaufhörlich fließt Blut aus den zerquetschten Fingern und sickert in die darunter liegende Decke. „Wir müssen sie schleunigst verbinden“, meint einer der Umstehenden. „Ich hab´ Verbandszeug in meiner Roef“, erklärt Heinrich, richtet sich auf und hastet, so schnell es sein lädiertes Knie erlaubt, nach Achtern und holt einen grauen Kasten herbei. Einer der umstehenden Matrosen hat einen alten Fahrradschlauch aufgetrieben. Man bindet damit den linken Oberarm ab, um den bedenklichen Blutverlust zu reduzieren. Gleichzeitig umwickelt Heinrich die verletzten Finger vorsichtig mit Verbandsmull. Hans beißt sich vor Schmerz auf die Unterlippe. Nach einer halben Stunde ist endlich ein Krankenwagen zur Stelle. Der Matrose wird auf eine Trage gehievt und vom Schiff gebracht. Heinrich bleibt zurück. Einer nennt ihm den Namen des Krankenhauses, in das sein Sohn gebracht werden soll. Langsam zerstreuen sich die Anwesenden. Zwei der Schiffer erbieten sich, das Abräumen der übrigen Lukendeckel zu besorgen. Dankbar akzeptiert Heinrich das freundliche Angebot. Ihn plagen heftige Kopfschmerzen, ihm ist schlecht. Einer der beiden Helfer überredet Heinrich sich hinzulegen.
Hedwig hat inzwischen alle ihre Besorgungen erledigt. Sie ist heilfroh, daß Fritz einen großen Teil der schweren Einkaufsnetze trägt, denn streckenweise muß sie Ilse auf den Arm nehmen, die als Zweijährige solche Entfernungen nicht komplett auf eigenen Beinchen bewältigen kann. Auf dem Rückweg zum Hafen entspinnt sich zwischen der Schifferfrau und dem Schmelzer ein längeres Gespräch: „Na Fritz, freust du dich? In zwei Wochen wirst du ein respektabler Matrose sein. Damals als ich auf das Schiff kam, warst du noch ein richtiges Bübchen. Inzwischen bist du mir glatt über´n Kopf gewachsen.“ Fritz lächelt verlegen, besonders seit ein paar Monaten fällt es ihm ausgesprochen schwer unbefangen mit Hedwig zu reden. Er antwortet nicht sogleich, sondern überlegt was er darauf sagen soll. Vielerlei schießt ihm durch den Kopf. Er versucht das Gedankenwirrwarr zu ordnen und ist gleichzeitig bemüht, seine Unsicherheit zu verbergen. Mit gespielter männlicher Lässigkeit erwidert er schließlich: „Och, das is´ mir nich´ so wichtig.“ Gleichzeitig denkt er jedoch: ´Ich find´ es großartig, bald Matrose zu sein. Als Schmelzer is´ man ja immer nur der Arsch vom Dienst.´ Laut setzt er hinzu: „Aber wahrscheinlich will mich ihr Schwiegervater gar nicht behalten, denn beinah´ Tag für Tag hat er an meiner Arbeit was auszusetzen.“ Hedwig sieht Fritz aufmunternd an, als sie zu ihm sagt: „Das mußt du dir wirklich nicht so zu Herzen nehmen. Ich hab´ mehrmals gehört, wie er dich vor ander´n als ausnehmend tüchtig gelobt hat.“ „Weshalb is´ er dann so barsch zu mir?“, zweifelt Fritz. „Ich kann´s mir denken, warum“, erwidert Hedwig. „Hans hat mir über die Schmelzerzeit seines Vaters einiges erzählt. Sein Vater mußte, wie damals üblich, die Lehre auf einem fremden Kahn machen, auf dem der Schiffsführer öfters betrunken war. Dann wurd´ er jedesmal von dem Schiffer völlig grundlos mit einem Tauende windelweich geprügelt, das hat ihn geprägt. Sicherlich ist er überzeugt, dich im Vergleich dazu anständig zu behandeln.“ Zu diesem Thema kann Fritz auch eine Geschichte beisteuern. „Das gibt´s manchmal sogar heut´ noch“, wirft er lebhaft ein. „Ich hab´ mal einen Schiffsjungen getroffen, der mir erzählte, daß ihn sein Käp´ten regelmäßig mit einem Stück zerbrochenem Reibholz verdrischt.“ „Das is´ ja unerhört“, entrüstet sich Hedwig. „Ab und an eine Backpfeife, das hat sicherlich noch keinem Heranwachsenden geschadet, aber so was geht dann doch entschieden zu weit.“ Fritz meint: “Mein Vater hat mich und meinen Bruder häufig verdroschen. Meine Schwester hat er dagegen nie geschlagen.“ Und grinsend setzt er hinzu: „Aber dafür bekam meine Schwester ausgiebig ´was von der Mutter hinter die Löffel.“ „Mein Vater hat mir ein einziges Mal ´ne Ohrfeige verpaßt“, beginnt Hedwig zu erzählen. „Ich war g´rad´ eingeschult worden. Es muß ein Sonntag gewesen sein, denn wir waren alle auf dem Weg zur Kirche. Unterwegs entdeckte ich einen Stock, der in meiner Phantasie Ähnlichkeit mit einem Gewehr besaß. Ich tat so, als ob ich damit auf meine Schwester schießen würd´. Da is´ mein Vater zornig geworden. Er haute mir eine runter und entriß mir den Stock. Ich hab´ seine Worte noch bis heut´ im Ohr: ´Ziel mir niemals mehr auf einen Menschen, Hedwig, auch nicht im Spaß´.“ Fritz schweigt nachdenklich, dann fragt er unvermittelt: „Glauben Sie, es gibt bald Krieg?“ „Ich hoff´ nicht, es wär´ schrecklich“, entgegnet sie. Während Hedwig weiter spricht, blickt sie besorgt auf ihre Tochter. „Man hört so allerlei. Ich bin mal auf der Straße einem Trupp marschierender SA-Männer begegnet, die sangen: ´Heut´ gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.´ Das hat mir Angst gemacht.“ „Die Juden wollen Krieg“, behauptet Fritz. „Wie kommst du denn darauf?“, fragt Hedwig verdutzt. „Am Hafen hab´ ich das Gespräch zweier Zöllner mit angehört. Einer von ihnen hat gesagt, in einer englischen Zeitung hab´ gestanden, die Juden hätten Deutschland den Krieg erklärt.“ „Unsinn!“, meint Hedwig, „unter den Juden gibt´s nicht weniger Anständige wie unter allen übrigen Menschen. Allerdings könnt´s sein, daß sie manchmal etwas geschäftstüchtiger sind. Ich kauf´ fast all´ meine Kleider bei einem jüdischen Händler, weil er der einzige Ladenbesitzer ist, den ich kenn´, der ohne jegliches Aufhebens seine Ware zurücknimmt, sogar wenn wir erst Wochen später wieder in Köln vor Anker gehen.“ „Falls es doch zum Krieg kommen sollte, meld´ ich mich freiwillig zur Marine“, verkündet Fritz mit einem Unterton in der Stimme, der verrät, daß ihm die Vorstellung von Kampf keinerlei Schrecken einjagt und er fährt fort: „Außerdem kann man da mit etwas Glück die halbe Welt kennenlernen.“ Matrosenfrau und Schiffsjunge unterhalten sich angeregt weiter, während sie sich langsam den Hafenanlagen nähern. Fritz würde mit Freuden noch weiter laufen. Er genießt jede Minute des Beisammenseins mit Hedwig. Frau Schmid ist hingegen froh, als sie endlich die Teufelsbrücke erreichen und bald darauf zum Kahn gelangen. Ihre Füße brennen, ihr Rücken schmerzt und das Gewicht von Ilse auf ihrem Arm scheint sich inzwischen verdoppelt zu haben. Als die Zwei auf die ´Minerva´ zu gehen, erblicken sie fremde Männer auf dem Schiff, die dabei sind die Lukendeckel abzuräumen. „Komisch“, meint Fritz, und auch Hedwig findet es merkwürdig. Nachdem sie den Kahn betreten haben, geht einer der beiden Fremden auf sie zu. „Wo ist mein Mann?“, fragt Hedwig sofort. Der Fremde schaut sie mitfühlend an. „Der Schiffsführer hat sich hinlegen müssen, ihm is´ schlecht geworden“, antwortet er ausweichend. „Warum, was is´ denn los?“, will Hedwig wissen, nun schon merklich beunruhigt. „Es hat ´nen Unfall gegeben“, sagt der zweite Fremde, der inzwischen hinzugetreten ist. Hedwig erschrickt. „Reden Sie! Was um Gottes Willen is´ passiert?“, fordert Frau Schmid den Mann ungeduldig auf. Der Angesprochene antwortet nicht sogleich, er scheint zu überlegen, wie er die betrübliche Nachricht möglichst schonend formulieren soll. „Der Matrose ihres Schiffes wurd´ verletzt und mußte ins Krankenhaus“, erwidert er schließlich. Hedwig erblaßt. Sie stellt Ilse, die sie bis jetzt auf dem Arm gehalten hat, auf die Füße. „Is´ er …. schwer verletzt?“, fragt sie zögerlich, als ob sie die Antwort fürchtet. „Nein, ich glaub´ nich´. Er hat sich nur ein paar Finger geklemmt“, beschwichtigt der andere Fremde. Hedwig atmet auf, was der Mann da schildert, hört sich nicht besonders dramatisch an. „Fritz, paß bitte auf Ilse auf“, befiehlt Hedwig, „ich werd´ mal nach meinem Schwiegervater schau´n.“ In der Roef kommt ihr als erstes Kobold entgegen gelaufen. Der Hund macht einen verstörten Eindruck. Sie streichelt ihn hastig und eilt weiter ins Schlafzimmer. Heinrich liegt angezogen auf dem Bett. Neben ihm auf dem Boden steht eine Schüssel, offensichtlich hatte er sich darin übergeben. Hedwig schnappt sich den übel riechenden Blechnapf und eilt an Deck. Nachdem sie den Inhalt in den Rhein entleert und die Schüssel gespült hat, kehrt sie zurück. Heinrich setzt sich in seinem Bett auf. „Gut, daß du da bist“, sagt Heinrich mit matter Stimme. „Erzähl´, was is´n gescheh´n?“, drängt sie. „Hans hat sich die Finger verletzt und wurd´ ins Krankenhaus eingeliefert.“ „Das weiß ich bereits. Aber warum is´ dir schlecht?“ „Bin dummerweise gestürzt und hab´ mir den Schädel gestoßen“, sagt er unwillig. „Ich hab´ nur ´ne dicke Beule, sonst nichts.“ „Wenn dir aber übel is´, dann hast du wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung“, meint Hedwig. „Blödsinn, mir geht´s schon wieder viel besser.“
Am nächsten Morgen machen sich Hedwig und ihr Schwiegervater gemeinsam auf den Weg ins Krankenhaus. Dort läßt sich Heinrich auf Drängen seiner Schwiegertochter widerwillig untersuchen. Der Arzt stellt tatsächlich eine veritable Gehirnerschütterung fest und empfiehlt dringend Bettruhe. Heinrich weist dieses ärztlich verordnete Nichtstun mit Vehemenz zurück. „Soll ich mich etwa auf die faule Haut legen, ausgerechnet dann, wo mein Sohn als Arbeitskraft vorläufig ausfällt“, entgegnet er Hedwig, die ihm versucht klarzumachen, daß es ratsam wäre, der Empfehlung des Doktors zu folgen. Vermutlich hätte sie unter anderen Umständen mit mehr Hartnäckigkeit den Schwiegervater gedrängt, seine Gehirnerschütterung keinesfalls zu bagatellisieren, aber ihre Gedanken kreisen hauptsächlich um den Zustand von Hans. Der Oberarzt hatte seinetwegen bei ihrer Ankunft eine bedenkliche Miene aufgesetzt. Es sei völlig ungewiß, ob man die Finger retten könne, war seine niederschmetternde Diagnose gewesen.
Die Tage darauf sind für Hedwig eine Qual. Jeden Morgen marschiert sie den langen Weg vom Hafen bis zum Krankenhaus und wieder zurück. Ilse nimmt sie mit. Ihr Töchterchen lenkt sie ein bißchen von den Sorgen ab, die sie unablässig bedrücken. Jeden Morgen die vage Hoffnung auf Gesundung und gleichzeitig die würgende Angst, ihr Mann könnte seine Finger endgültig verlieren. Im Krankenhaus sitzt sie am Bett von Hans. Sie unterhalten sich, es wäre schwierig zu entscheiden, wer dem anderen mehr Zuversicht einflößt. Ihm tut es jedenfalls gut, Frau und Tochter zu sehen. Das bringt den Patienten zeitweise auf andere Gedanken. Die Kleine begreift die Tragweite des Geschehens noch nicht. Sie läuft neugierig im Krankenzimmer umher, in dem weitere fünf Patienten untergebracht sind.
Nach einer Woche dann der Schock. Der behandelnde Arzt erklärt mit dürren Worten, daß drei der Finger nicht gerettet werden könnten, am Nachmittag unbedingt amputiert werden müßten, der Wundbrand habe eingesetzt. Wie in Trance kehrt Hedwig auf den Kahn zurück. Der Schwiegervater, dem sie die traurige Nachricht sogleich mitteilt, bleibt äußerlich ruhig. „Ich hab´s befürchtet“, ist sein Kommentar, um dann fast sachlich hinzuzufügen: „Wir müssen dringend d´rüber reden, wie es nun weiter geh´n soll.“ Die beiden setzen sich in der Roef an den Eßtisch im Wohnzimmer. Erstaunt registriert Hedwig im Laufe des Gespräches, daß ihre Meinung plötzlich gefragt ist. Heinrich vermittelt seiner Schwiegertochter nicht mehr das Gefühl, eine junge unwissende Gans zu sein, der man zwar mit großem Wohlwollen begegnet, doch ansonsten eher zu verstehen gibt, es wäre klüger, wenn sie den Mund hielte und zuhören würde. Ergebnis dieser längeren Unterredung ist, daß der Partikulier dem Schiffsjungen umgehend anbieten wird, ihn als Matrosen zu übernehmen. Darüber hinaus wird man Heinrichs Schwester bitten, so lange auf dem Kahn mitzufahren, bis Hans wieder einigermaßen hergestellt ist. Hedwig soll währenddessen eine Lehre als Schmelzer auf dem Boot beginnen. Damit genügt der Partikulier den gesetzlichen Anforderungen, während der Fahrten mindestens einen Matrosen und einen Schmelzer an Bord zu haben. Wobei in diesem besonderen Falle der Schiffsjunge eben weiblich wäre. Wie besprochen, wird es auch umgesetzt. Fritz erklärt sich ohne Umschweife sofort damit einverstanden, als Matrose auf der ´Minerva´ anzuheuern. Und auch Henriette ist, als man sie telegraphisch informiert, sofort bereit, unverzüglich nach Mannheim zu eilen, um vorübergehend die Pflichten von Hedwig zu übernehmen.
Henriette wird in dem zweiten kleinen Schlafzimmer der Roef einquartiert, das normalerweise bei Bedarf dem Lotsen zur Verfügung steht. Obschon die Behörden höchst skeptisch reagieren, als ihnen Frau Schmid als neuer Schiffsjunge präsentiert wird, können sie nichts dagegen unternehmen. Keine amtliche Vorschrift verbietet ausdrücklich einen weiblichen Schmelzer. Nachdem solchermaßen alle nötigen Dispositionen getroffen sind, um eine ordnungsgemäße Fahrtätigkeit des Kahnes zu gewährleisten, kann der Partikulier einen neuen Auftrag entgegennehmen. Kurz darauf verläßt die ´Minerva´, als Teil eines sechsgliedrigen Schleppzuges, mit einer Ladung Mehl im Bauch den Mannheimer Hafen mit Zielort Düsseldorf.
Bald kehrt wieder so etwas wie Routine in den Tagesablauf der Schifferfamilie ein, allerdings eine bedrückende Routine. Der Einzige, dem diese ungewöhnliche Situation gefällt, ist der frischgebackene Matrose. Noch niemals zuvor hat Fritz die Tätigkeit auf dem Kahn so viel Freude gemacht. Wenn ihm überhaupt jemand leidtut, dann weniger Hans als Hedwig in ihrem sichtbaren Kummer. Als Schmelzer ist sie Fritz nun unterstellt. In der Praxis sehen sich beide aber als ebenbürtig an. Hedwig respektiert die größere Erfahrung des Matrosen im Schiffshandwerk und Fritz vergißt zu keinem Zeitpunkt, daß sie die Schwiegertochter seines Chefs ist. Daher klappt ihre Zusammenarbeit reibungslos. Der Schmelzer und der Matrose reden viel miteinander, das behagt sowohl ihr als auch ihm. Hedwig erzählt Fritz unbefangen von ihren Sorgen, aber auch Wünschen und Träumen. Er ist ein geduldiger Zuhörer, der im richtigen Moment das Passende erwidert. Hedwig findet die Arbeit als Schiffsjunge nicht übel. Sie ist viel mehr an der frischen Luft und lernt jeden Tag interessante Dinge hinzu. Allein daß sie kaum noch die Zeit findet, sich mit Ilse zu beschäftigen und die Angst, wie sich ihr Mann mit seiner Behinderung im Alltag zurechtfinden wird, läßt sie an dem neuen Tätigkeitsfeld nicht die Freude empfinden, die sie unter günstigeren Umständen daran hätte. Der ihr von Heinrich seit kurzem entgegengebrachte Respekt steigert aber ihr Selbstwertgefühl enorm. Des Weiteren fällt Hedwig auf, daß Fritz vom Schiffsführer wesentlich seltener getadelt einige Male sogar gelobt wird und es nun manchmal tatsächlich vorkommt, daß Heinrich Bitte oder Danke sagt, wenn er Fritz Befehle erteilt oder von ihm irgendwas in Empfang nimmt. Henriette schlägt sich indes wacker mit ihren zweiundsechzig Jahren, trotzdem sie seit längerem Rheuma hat, das sie auf dem Schiff noch mehr plagt als sonst. Sie kocht, putzt, wäscht und paßt auf Ilse auf, letzteres mit sichtlichem Vergnügen. Irgendwie war es Henriette in ihrem Leben nicht vergönnt gewesen, eine eigene Familie zu gründen. Woran dies gelegen haben könnte, darüber hatte sie die letzten Jahre so manches Mal nachgedacht. Erst kam der unerwartete Tod der Schwägerin. Ohne viele Worte war sie in die Bresche gesprungen und hatte Mutterpflichten für ihren Neffen Hans übernommen. Dann, als er älter wurde und aufs Internat kam, wäre es allerhöchste Zeit geworden, den Antrag des einen oder anderen Verehrers anzunehmen. Man brauchte sie jedoch weiterhin auf dem Kahn. Ja, wenn ihr Bruder nochmals geheiratet hätte, dann wäre sicher alles anders gekommen, aber er blieb Witwer und sie auf dem elterlichen Schiff. Die Jahre gingen so schnell vorbei, zuerst die Kriegsjahre und gleich darauf die Hungerjahre mit der anschließenden verheerenden Inflation. Irgendwo dazwischen war ihr der Wunsch abhanden gekommen, ein eigenes Kind groß zu ziehen, Hans war ihr Kind geworden. Nun ist es zum Heiraten längst zu spät. Henriette ist keineswegs so veranlagt, daß sie darüber in Selbstmitleid zerfließen würde. Allerdings macht sie sich große Sorgen um Hans, kein Mensch steht ihr näher als er. Sie hatte seine Windeln gewechselt, hatte ihn beruhigt, als er seine ersten Milchzähnchen bekam und getröstet, wenn er sich die Knie aufschlug. Eines seiner ersten Worte war ´Mama´ gewesen, womit er seine Tante gemeint hatte. Hans nennt sie heute noch Mama. Henriette sorgt sich aber auch um ihren Bruder. Dieser hat seit seinem Sturz des Öfteren heftige Kopfschmerzen, werden sie zu arg, muß er sich niederlegen. Fritz darf in diesen Fällen die Haspel übernehmen. Das ist für den jungen Matrosen aufregend und erhebend zugleich. Anfangs hatte er beim Steuern verdammt weiche Knie gehabt. Ihm ist sehr wohl bewußt, welche Verantwortung er an der Haspel trägt. Doch weil das Steuern einwandfrei klappt, ist Fritz sehr stolz auf sich und noch mehr, als ihm Hedwig sagt, sie habe den Eindruck, er bediene die Haspel wie ein alter Hase.
Nach acht Wochen und zwei Tagen wird Herr Schmid entlassen. Er steht draußen vor dem Portal am Eingang des Krankenhauses. In der rechten Hand hält er ein Köfferchen, seine Linke steckt in einem dicken Verband. Er blickt zum Himmel hinauf und kneift wegen des grellen Sonnenlichts die Augen zusammen. Es ist warm, jedoch riecht man bereits den Herbst. Hans läuft auf direktem Wege zum Bahnhof und löst eine Fahrkarte nach Basel. Je näher er der Stadt und dem Kahn kommt, desto mehr quälen ihn düstere Gedanken. Im Krankenhaus hatte er es tunlichst vermieden, über den Tag seiner Entlassung hinaus zu denken. Jetzt plagen ihn heftige Zukunftsängste. Wie wird es Hedwig auf Dauer ertragen, mit einem halben Krüppel zu leben? Wird er überhaupt in der Lage sein, die Prüfung zum Schiffsführer erfolgreich abzulegen, wenn er die Haspel nicht mehr so fest packen kann wie früher? Und wird der Vater ihn, trotz seiner kaputten Hand, noch als eine vollwertige Kraft ansehen? Fragen über Fragen, deren Antworten er nicht kennt. Niedergeschlagen steigt er in Basel aus dem Zug. Der anschließende Empfang auf dem Schiff ist jedoch überschwenglich und verscheucht kurzfristig seine Ängste. Hedwig fällt ihm stürmisch um den Hals. Auch Heinrich umarmt ihn flüchtig. Henriette kocht zur Feier des Tages sein Lieblingsessen. Fritz zeigt sich ebenfalls erfreut, obwohl ihm sonnenklar ist, daß seine Nähe zu Hedwig nun zwangsläufig schwinden wird. Sogar Kobold, der gewöhnlich um Hans lieber einen Bogen macht, kommt ihm heute schwanzwedelnd entgegen. In den folgenden Wochen ändert sich an der Arbeitsteilung vorerst kaum etwas. Der Verband von Hans muß regelmäßig gewechselt werden. Er kann mit seiner ruhig gestellten Hand nicht ernsthaft arbeiten und so bleibt ihm genügend Muße, das herzliche Einvernehmen seiner Frau mit Fritz zu beobachten. Vor seinem Unfall amüsierte es ihn, wenn er sah, wie Fritz seine Frau hofierte, doch jetzt breitet sich das schleichende Gift der Eifersucht in ihm aus. Er beginnt seiner Frau Vorwürfe zu machen, sie räume Fritz zu viele Vertraulichkeiten ein. Es paßt ihm keineswegs, daß Hedwig in seiner Abwesenheit dem Matrosen das freundschaftliche Du angetragen hatte. Aber manchmal hat ein Unglück im Leben auch positive Seiten. Hans findet jetzt genügend Zeit, mit seinem Töchterchen ausgiebig zu spielen. Früher hatte er sie ab und an auf den Arm genommen, jedoch meistens zu ihr gesagt: „Ilschen sei brav, geh´, lauf zu Mama, ich muß arbeiten.“
Als die Amputationswunden an der linken Hand endgültig verheilt sind, Hans keinen Verband mehr tragen muß, kehrt dem äußeren Anschein nach die alte Ordnung auf den Kahn zurück. Henriette reist aus einer Mischung von Erleichterung und Wehmut in ihr Heimatdorf ab. Hans nimmt wieder seinen angestammten Platz als erster Matrose ein und Hedwig fügt sich brav in ihre frühere Rolle als Hausfrau. Doch etwas hat sich auf dem Schiff verändert, das fein gesponnene Netz zwischen formaler und informaler Hierarchie, das jeder menschlichen Gemeinschaft innewohnt. Heinrich genießt selbstverständlich weiterhin die uneingeschränkte Autorität eines Schiffsführers, bringt aber Hedwig und Fritz mehr Respekt entgegen. Dagegen beanstandet Fritz selbstbewußt, Hans betone über Gebühr seine Stellung als erster Matrose, während dieser wiederum glaubt zu bemerken, daß ihn sein Vater spärlicher als früher in wirtschaftliche Entscheidungen einbindet. Hedwig, die ihrem Mann zuliebe äußerlich um Distanz zu dem zweiten Matrosen bemüht ist, fühlt sich Fritz dennoch wesentlich verbundener als früher, was besonders dem intensiven Gedankenaustausch der letzten Wochen geschuldet ist. Von alledem unberührt bleibt einzig Kobold. Seine Hundewelt ist wieder in bester Ordnung und die merkwürdige Unruhe der geliebten Zweibeiner erfreulicherweise vorbei.
Im November nimmt die ´Minerva´ eine Ladung Kohlen an Bord und macht sich auf den Weg nach Köln. Dort angekommen nutzt Hedwig die Gelegenheit, um sich in dem kleinen jüdischen Textilgeschäft nach einem Wintermantel umzusehen. Sie weiß, daß das von vielen ihrer Landsleute nicht gutgeheißen wird. Sie mögen die jüdischen Mitbürger nicht besonders und sind weitgehend einverstanden, wenn ihnen die Herrschenden das Leben schwer machen. Zahlreiche Juden, in erster Linie die Wohlhabenden und Gebildeten unter ihnen, haben Deutschland längst den Rücken gekehrt. Als Hedwig in die kleine Gasse einbiegt und nach ein paar Dutzend Schritten vor dem Laden steht, sieht sie, daß irgendjemand mit weißer Farbe auf die Hauswand neben dem Geschäft einen großen Davidstern geschmiert hat. Kopfschüttelnd öffnet sie die Ladentür. Der Inhaber, der sie sogleich erkennt, kommt auf sie zu und gibt ihr die Hand. „Daß Sie sich noch trauen, meinen Laden zu betreten“, sagt er anerkennend. „Warum sollt´ ich nicht? Sie haben mich immer zur vollsten Zufriedenheit bedient. Ihre Kleider sind preisgünstig und außerdem hatt´ ich an der Qualität der Stoffe nie was auszusetzen“, erwidert sie. „Das freut mich zu hören. Sie können sich vielleicht denken, daß ich nur noch sehr wenige nichtjüdische Kunden habe. Erst vor einem Monat verlor ich meine älteste Stammkundin. Sie kam einige Minuten vor Geschäftsschluß, es dunkelte bereits. Bevor sie meinen Laden betrat, drehte sie ihren Kopf ängstlich nach rechts und links. So wollte sie es augenscheinlich vermeiden, dabei beobachtet zu werden. Dann erzählte sie mir, sie sei von einigen Nachbarn und sogar vom Blockwart darauf angesprochen worden, warum sie noch immer Einkäufe in meinem Laden tätigen würde. Ob sie denn nicht wüßte, um was für einen Volksschädling es sich da handle. Man sah es der Dame deutlich an, daß es ihr ausgesprochen peinlich war, mir dies zu berichten. Ich muß offen gestehen, mich hat ihre Ehrlichkeit gefreut. Die meisten Kundinnen sind einfach weggeblieben und haben es anschließend vermieden, mich auf der Straße zu grüßen.“ „Da brauchen Sie bei mir keinerlei Sorge haben. Solang Sie das Geschäft betreiben und auch in Zukunft dermaßen kulant sind, werd´ ich ihnen bestimmt erhalten bleiben“, antwortet Hedwig mit einem aufmunternden Lächeln. „Das vernimmt man gern, jedoch ich weiß nicht, wie lang ich all´ diesen Schikanen noch standhalten kann. Meine Frau drängt mich, wir sollen zu ihrem Bruder ins holländische Tilburg ziehen. Bisher wollte ich davon nichts wissen. Ich bin in Köln geboren und aufgewachsen, hier habe ich bei meinem Onkel eine Lehre gemacht. Als er starb, hat er mir diesen Laden vermacht.“ Hedwig probiert mehrere Mäntel an und sie erwärmt sich für einen roten mit schwarzem Samtbesatz, leider ist er zu lang. Dies sei kein Problem, meint der Inhaber. Er habe einen erfahrenen Schneider an der Hand, der bis morgen den Mantel auf die richtige Länge kürzen könne. Mehrkosten würden ihr dadurch nicht entstehen. Die Beiden vereinbaren, daß Hedwig den Wintermantel am frühen Nachmittag des nächsten Tages abholen und bezahlen soll.
Die Nacht wird unruhig. Man hört lärmendes Gegröle und das Splittern von Glas. Vom Rheinufer aus kann man den Widerschein eines Brandes erkennen. Doch in der Dunkelheit läßt sich nicht genau ausmachen, was da passiert. Am nächsten Tag begibt sich Hedwig mit ihrer Tochter Ilse erneut in die Stadt. Sie muß noch einige Besorgungen machen und auf dem Rückweg will sie wie vereinbart den Mantel abholen. Als sie diesmal in die Gasse einbiegt, kann sie sofort erkennen, daß da Schlimmes geschehen sein mußte. Das Schaufenster und die Eingangstür des Textilgeschäftes sind zertrümmert. Ein Schupo steht davor und paßt auf, daß niemand aus dem offenen Laden Sachen entwendet. Hedwig wirft einen Blick in das Innere, es sieht aus, als ob ein Orkan hindurchgefegt wäre. Die wuchtige messingfarbene Registrierkasse ist umgestürzt und über den Boden verstreut liegen überall Kleidungsstücke herum, teilweise zerrissen. Hedwig ist entsetzt, sie fragt den Wachtmeister, was denn vorgefallen sei. Dieser antwortet unwirsch, hier habe sich der gerechte Volkszorn ausgetobt. Zu weiteren Auskünften läßt sich der Gesetzeshüter nicht herab. Während Hedwig noch überlegt, wie sie die private Adresse des Händlers herausbekommen könnte, bleibt eine uralte Frau neben ihr stehen und betrachtet auf einen Stock gestützt das Chaos im Laden. Sie murmelt leise: „Diesche dumme´ Vandale´.“ Hedwig nimmt die Gelegenheit wahr und befragt sie nach dem Wohnort des Geschäftsmannes. „Wischen´s “, nuschelt die fast zahnlose Frau, „ich woh´ schei´ über ach´schig Jahr´ da vorn´ und hab´ in diesche´ Zei´ unschählje Familie´ geschehn, wie´sche in die Häuscher de´ Gasch´ eingeschoge´ und ausgeschoge´ schind. Ich kannt´ schogar noch de´ Vater desch Onkels vom jetschige´ Ladebeschitscher. Dasch ware´ und schind alle´ fei´ und fleischig´ Leut´. De´ heutige Inhaber heischt Grünschpan.“ Die Frau deutet mit ihrem dürren Arm auf ein Haus. „Er wohnt do´ drüb´, esch isch´ dasch Hausch mit de´ grün´ Fenschterläd´.“ Hedwig bedankt sich für die Auskunft, nimmt ihre Tochter auf den Arm und marschiert eilig in die angezeigte Richtung. Bei dem beschriebenen Haus angekommen, muß sie nicht lange suchen, schnell findet Hedwig die Wohnung der Familie im zweiten Stock. Sie läutet, kurz darauf wird die Tür vorsichtig aufgesperrt. Im Türspalt erscheint das Gesicht von Herrn Grünspan. Als er Frau Schmid erblickt, hellt sich seine Miene auf, er öffnet die Tür ganz. „Sie haben uns gesucht. Das ist überaus freundlich von ihnen. Leider konnte ich Sie nicht in unserem Geschäft empfangen. Die Umstände lassen das bedauerlicherweise nicht zu.“ Während er den Satz ausspricht, macht er ein grenzenlos bekümmertes Gesicht und bedeutet ihr mit einer müden Handbewegung in den geräumigen Flur zu treten. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich einfach so bei ihnen hereinplatze, aber unser Kahn erhält heut´ seine Fracht. Morgen in aller Früh legen wir ab. Ansonsten wär´ ich nochmals in ein paar Tagen gekommen, sobald Sie ihr Geschäft wieder geöffnet haben“, sagt sie. „Ich glaube, das wird nicht mehr möglich sein. Die Behörden haben meine Waren beschlagnahmt und mein Vermieter hat mir vor einer Stunde den Pachtvertrag für den Laden fristlos gekündigt.“ Aus dem Tonfall seiner Stimme klingt abgrundtiefe Resignation. „Es bleibt uns keine andere Wahl, bevor ich dazu verdammt bin hier untätig herumzusitzen, werde ich mit meiner Frau nach Holland gehen.“ Hedwig sagt, um Herrn Grünspan etwas aufzumuntern: „Ich kenn´ das Land ein bißchen, besonders Rotterdam. Es ist ein friedliches Land. Ich denk´, Sie werden sich dort wohl fühlen.“ Er versteht die gute Absicht ihrer Worte und quittiert sie mit einem dünnen Lächeln. „Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie noch vorbeikommen würden, aber der Mantel liegt bereit. Der Schneider hat ihn gestern Abend geändert. Er ist ein Verwandter von uns und wohnt nicht weit weg. Sie können den Mantel gleich anprobieren und mitnehmen, falls er ihnen noch zusagt.“ Hedwig ist überrascht, nie hätte sie vermutet, daß Herr Grünspan wegen dieser gräßlichen Ereignisse trotzdem an ihren Mantel gedacht hat. Im Grunde war sie nur vorbeigekommen, weil sie eine Anzahlung auf das Kleidungsstück leisten wollte, um es bei ihrem nächsten Aufenthalt in Köln abzuholen.
Sie kehrt mit Ilse auf den Kahn zurück. Ihrem Mann gefällt der flotte Mantel aus bester Schurwolle. Er macht seiner Frau ein Kompliment, wie chic sie darin aussieht. „Hans, stell´ dir vor, was ich geseh´n hab´ “, beginnt sie voller Entrüstung. Man hat die Schaufenster von jüdischen Geschäften eingeschlagen und das Mobiliar demoliert.“ „Wie konnt´ das gescheh´n?“, fragt Hans. „Is´ denn die Polizei nicht eingeschritten?“ „Ich denk´ nicht“, meint Hedwig. „Das is´ ja unerhört, wozu haben wir denn die Gendarmen, wenn sie die Bürger nicht schützen“, regt sich Hans auf. „Ich befürcht´, daß unsere Regierung die Juden mit aller Macht loswerden will.“ „Dafür hab´ ich ja Verständnis, aber das muß doch auf legalem Weg´ passier´n“, erwidert Hans. „Das seh´ ich anders, was können diese Menschen dafür, daß sie Juden sind. Es sind genauso Deutsche wie wir und sie haben, wenn sie sich nichts zu Schulden kommen lassen, das Recht unbehelligt hier zu leben“, ereifert sich Hedwig. Hans sind die Juden keinen Streit mit seiner Frau wert. „Komm, sei so lieb, mach´ mir bitte einen Kaffee. Ich bin ziemlich durchgefroren und brauch´ dringend etwas Warmes im Magen.“ Er nimmt sie in den Arm und gibt ihr einen Kuß. Hedwig mißfällt die Ansicht ihres Mannes, spürt jedoch, daß es zwecklos wäre, mit ihm darüber zu diskutieren, also beeilt sie sich, den gewünschten Kaffee zu brühen.