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2. Kapitel

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Am nächsten Morgen, noch vor Tagesanbruch, begibt sich der um Ilse erweiterte Familienkreis zurück auf die ´Minerva´. Der große Strom erwartet sie. Auf seiner Oberfläche trägt er mit stoischer Geduld die Sorgen und Wünsche der Schifferleute einer ungewissen Zukunft entgegen. Hans löst in der gleichen Woche sein Versprechen ein, er bittet seinen Vater um ein Fahrrad für Hedwig. Heinrich lehnt diesen Wunsch rundweg ab. Er hält ein Fahrrad für absolut überflüssig. Es kommt zwischen ihnen zu einem handfesten Krach. Hans würde seiner Frau liebend gern so einen Drahtesel selber kaufen, aber daran ist bei seinem mageren Lohn überhaupt nicht zu denken. Bereits die nötigsten Anschaffungen für Ilse haben seine Geldbörse weit mehr als erträglich strapaziert. Und wenn nicht freundlicherweise Henriette mit einem Teil ihrer Ersparnisse ausgeholfen hätte, wären sogar diese Ausgaben über seine finanziellen Kräfte gegangen.

Hedwigs Arbeit verdoppelt sich fortan. Sie muß neben ihren Hausfrauenpflichten zusätzlich ihre Tochter versorgen. Zwar haben die jungen Eltern ihre eigene winzige Behausung am Bug des Schiffes, aber tagsüber hält sich Hedwig hauptsächlich in der Roef auf, in der verhältnismäßig geräumigen Wohnung ihres Schwiegervaters am Heck des Kahns. Dort gibt es auch eine ansehnliche Küche mit allen Einrichtungen und Gerätschaften, wie man sie gleichermaßen an Land findet. Wobei einschränkend gesagt werden muß, daß an Bord des Schiffes kein elektrischer Strom vorhanden ist und die Schifferfrau deswegen auf einen Kühlschrank verzichten muß. Alles, was leicht verdirbt, wird in einem mit Fliegengitter versehenen Schrank unterhalb des Steuerstuhls aufbewahrt. Da ist es im Sommer schattig und der Schrank wird vom Fahrtwind ausreichend belüftet.

Hedwigs Männer leisten schwerste körperliche Arbeit, essen entsprechend viel, am allerliebsten Fleisch und Wurst. An den jeweiligen Einkaufstagen bringt sie deshalb regelmäßig einen Braten auf den Tisch. Am folgenden Tag gibt es dann Gulasch. Sollte immer noch Fleisch übrig sein, wird es luftdicht mit Fett eingerieben und in den Fliegenschrank gelegt. Solchermaßen behandelt vergammelt es nicht so leicht.

Der tägliche Abwasch wäre kein Problem für Hedwig, wenn da nicht die Sache mit dem Wasser holen wäre. Bei voller Fahrt ist das Schöpfen des Rheinwassers äußerst kraftraubend. Hedwig ist zu stolz, die Männer um Unterstützung anzugehen. Kommt Hans zufällig vorbei, packt er selbstverständlich mit an, ebenso der blutjunge Schmelzer. Aber in der Regel haben beide anderswo genug zu tun. Auch Hedwigs Schwiegervater ist schwer beschäftigt, steht während der Fahrten überwiegend an der Haspel, dem mächtigen Steuerrad des Kahns. Mehrmals rief er ihr, als sie sich anfangs beim Wasserholen ungeschickt anstellte, halb aufmunternde, halb spöttische Worte zu, die sie erst recht anspornten, niemanden um Hilfe zu bitten.

Aber von allen ihren Pflichten ist das Waschen die mühseligste Arbeit. Zwar hatte es Henriette bei ihrem Bruder erreicht, daß Hedwig eine Waschmaschine als Hochzeitsgeschenk erhielt, aber dieser massive Holzbottich, der von Hand mühselig mit heißem Wasser befüllt werden muß und eine Kurbel zum Herumwirbeln der schweren nassen Kleidungsstücke besitzt, erleichtert die Plackerei nur unwesentlich. Beim Trocknen der Wäsche an Deck des Schiffes muß frühzeitig bedacht werden, welche Ladung der Kahn am Waschtag führt. Hat man Kohle an Bord, ist es wenig ratsam, die schneeweißen Bettbezüge und Bettlaken aufzuhängen.

Auf Booten, auf denen keine Frau mitfährt, ist es üblich, daß der Schmelzer kocht. Hans und Heinrich mußten die letzten beiden Monate das dürftige Ergebnis des in dieser Kunst ungeübten Schiffsjungen hinunterwürgen. Deswegen sind sie dankbar, wieder Hedwigs Kochkünste genießen zu dürfen. Aber der Mensch gewöhnt sich rasch an veränderte Gegebenheiten, besonders wenn sie positiver Art sind. Das Lob für ihre schmackhafte Küche wird bald seltener und bleibt schließlich ganz aus.

Viel Zeit verbringt Hedwig auch mit Putzen. Der Boden und die holzverkleideten Wände der Roef werden von der Schifferfrau regelmäßig mit der Wurzelbürste bearbeitet. Für das Reinigen der Kajüte und der niedrigen knapp über dem Wasserspiegel gelegenen Toilette im Schiffsbug ist hingegen der Schmelzer verantwortlich. Der Schiffsjunge muß natürlich auch seine eigene Kleidung in Ordnung halten. Doch Hedwig näht ihm manchmal einen abgerissenen Knopf an oder flickt einen Riß in seinem Hemd. Solche Gefälligkeiten muß sie aber vor den Augen ihres Schwiegervaters sorgfältig verbergen, denn er vertritt die Ansicht, man setze dem Jungen damit nur unnötige Flausen in den Kopf.

Der Sommer ist angebrochen und mit ihm die angenehmste Jahreszeit auf dem Schleppkahn. Kein gefährliches Eis auf dem Gangbord, keine tückischen Nebelschwaden über dem Wasser. Die ´Minerva´ liegt sicher vertäut im Rotterdamer Hafen und wartet darauf, eine Ladung Erz zu übernehmen, das der Partikulier zu den Hüttenwerken ins Ruhrgebiet bringen soll. Jedoch wurde ihm heute Morgen von der Hafenverwaltung mitgeteilt, daß sich das Verladen der Fracht verzögern werde. Sämtliche Kräne seien ausgebucht, hieß es. Deswegen geht es heute auf dem Schiff relativ geruhsam zu.

Am frühen Vormittag hatte Hedwig wie geplant in der Stadt eingekauft. Seit sie auf dem Kahn mitfährt, ist sie bereits mehrmals in Rotterdam gewesen. Die Metropole nahe am Meer gefällt ihr ausgesprochen gut. Überhaupt mag sie die Holländer gern. Der Menschenschlag mit seiner unkomplizierten und fröhlichen Art, Scherzworten selten abgeneigt, liegt ihr sehr. Zwar versteht Hedwig nur einen Teil, von dem was gesagt wird, doch der Tonfall und die Gesten der Hände helfen die Worte richtig zu interpretieren. Zum Mittagessen hatte sie fangfrische Scholle serviert. Anschließend war Heinrich an Land gegangen, um sich an der Schifferbörse über die aktuellen Notierungen der Frachtraten zu informieren und die letzten Neuigkeiten aus der Welt der Schiffahrt zu erfahren. Nachdem Hans gut gelaunt ausnahmsweise seiner Frau beim Abwasch geholfen hat, machen es sich die jungen Eheleute auf zwei Stühlen gemütlich, die sie auf das von der Sonne beschienene Deck unmittelbar vor den Steuerstuhl gestellt haben. Im Schatten, neben Hedwigs Füßen, liegt Ilse auf einer mehrfach gefalteten Wolldecke und spielt still vergnügt mit ihren eigenen Zehen. Während im Hintergrund das monotone Hämmern des Rost klopfenden Schmelzers, das unangenehme Quietschen und Gerassel der sich drehenden Kräne, das mahlende Geräusch rangierter Güterwagen und von weitem gelegentlich das heisere Dröhnen einer Schiffssirene an ihre Ohren dringt, döst Hans, trotz der beachtlichen Geräuschkulisse, entspannt vor sich hin. Hedwig strickt derweil unverdrossen Anziehsachen für ihr Töchterchen. Ihr Kahn liegt, wegen der bevorstehenden Beladung, direkt am Kai. Zwei breite Holzplanken verbinden die Steuerbordseite mit dem Ufer. Plötzlich ertönt von dort ein wildes Geschrei. Hedwig unterbricht ihre Arbeit und blickt in Richtung des Aufruhrs. In diesem Moment flitzt ein dürrer buntscheckiger Hund aus einer nahen Lagerhalle und rennt schräg auf die ´Minerva´ zu. Hinter ihm her, mit heftig fuchtelnden Armen, eine Reihe von Schauerleuten. Der verängstigte Hund, von den Männern beinahe eingekreist, sieht kein anderes Schlupfloch als die Planken der ´Minerva´. Mit einem Satz saust er darüber hinweg und ist augenblicklich irgendwo zwischen den fein säuberlich aufgeschossenen Tauen verschwunden. Der ungewöhnliche Lärm hat Hans aus seinem Halbschlaf gerissen. Er bekommt gerade noch mit, wie das Tier auf den Kahn flüchtet. Etwas benommen steht er auf und geht zu jener Stelle, an der er eben noch den Hund verschwinden sah. Tatsächlich entdeckt er ihn nach einigem Suchen und will den Köter über die Planken zurück ans Ufer scheuchen. Doch das Hündchen hat die Gefahr an Land nicht vergessen. Es wetzt, seinem Instinkt gehorchend, in Richtung Heck, dicht an Hans vorbei. Dieser schnellt herum und verfolgt, mit sichtlich mehr Energie und aufsteigendem Ärger, den gerissenen Bastard. Der Schiffsjunge hat seine Reparaturarbeiten am Bug unterbrochen und schließt sich, froh über die Abwechslung, der Verfolgungsjagd eifrig an. Gemeinsam wollen sie das Mistviech in die Zange nehmen, moralisch unterstützt von einer johlenden Schar am Kai stehender Arbeiter. Allein Hedwig empfindet die Jagd weder als ärgerlich, geschweige denn unterhaltsam. Ihr tut das Hündchen schlichtweg leid. Aber wie intensiv Schmelzer und Matrose auch suchen, das Tier ist und bleibt unauffindbar. Es hat sich irgendwo äußerst geschickt verkrochen. Verdrossen geben die Zwei ihre Suche vorerst auf. Die Schauerleute am Ufer haben das Interesse an dem Spektakel mittlerweile verloren. Sie wenden sich wieder den Tätigkeiten zu, für die sie bezahlt werden. Hans ist zu seinem Stuhl zurückgekehrt und der Schiffsjunge klopft weiter den Rost von den eisernen Spanten. „Schatz“, beginnt Hedwig, „wär´s denn nicht möglich, den Hund zu behalten, falls wir ihn fänden? Natürlich vorausgesetzt, niemand erhebt Anspruch auf ihn. Du könntest doch bei den Hafenleuten mal nachfragen.“ Deutlich sieht man Hans an, was er von diesem Vorschlag hält. Doch zögert er, die ihm blödsinnig erscheinende Grille seiner Frau rundweg abzulehnen. Stattdessen erwidert er: „Ich denk´ du hast genug zu tun. Warum willst du dir wegen so ´nem Bastard noch mehr Arbeit aufhalsen?“ Hedwig läßt nicht locker: „Ach, das bißchen mehr an Arbeit ist nicht der Rede wert. Der Hund wär´ außerdem nützlich, er könnte helfen das Schiff zu bewachen und später für Ilse ein Spielkamerad werden.“ Hans denkt an seinen Vater, an dessen wahrscheinliche Reaktion auf diesen Wunsch. Nach der Niederlage mit dem Fahrrad will er so bald keinen neuen Streit mit seinem Boss vom Zaun brechen und gleich gar nicht wegen solch einer Lappalie. Daher sagt er ausweichend: „Ich werd´ mich mal im Hafen umhören, ob irgendjemand weiß, wem der Köter gehört.“ Umgehend macht er sich auf den Weg. Das Motiv für diesen unerwarteten Elan ist die vage Hoffnung, den Eigentümer zu finden. Trotz gründlicher Nachforschungen ergibt sich aber nicht der geringste Hinweis auf ein Herrchen oder ein Frauchen. Alle, die der Matrose befragt und die von der Existenz des Tieres überhaupt wissen, antworten immer das Gleiche: Der Keuterboer sei vor ungefähr einer Woche urplötzlich hier im Hafen aufgetaucht und in den Hallen und an den Kais, auf der Suche nach Eßbarem, herumgestreunt.

Hedwig bringt Ilse derweil unter Deck, stillt den Säugling, legt ihn trocken und anschließend schlafen. Danach nutzt sie die Abwesenheit ihres Mannes, um in Ruhe nach dem Tier zu suchen. Bald findet sie das völlig verängstigte, am ganzen Leib zitternde Hündchen zusammengekauert unter einem Stapel Schmutzwäsche, den sie heute Früh hinter dem Treppenaufgang der Roef abgelegt hatte. Unter dem kurzhaarigen abwechselnd braunen und weißen Fell zeichnen sich deutlich die Rippen ab. Offensichtlich hatte das Tier in letzter Zeit nur unzureichend Nahrung gefunden. Mit ruhiger Stimme redet Hedwig auf den vermutlich noch nicht lange dem Welpenalter entwachsenen Hund ein. Vielleicht hatte er mit weiblichen Wesen in seinem bisherigen Hundeleben weniger schlechte Erfahrungen gemacht, denn es gelingt ihr relativ schnell, ihn zur Aufgabe seines Versteckes zu bewegen. Wobei sicherlich auch der verführerische Duft einer dicken Scheibe Wurst nicht unerheblich dazu beiträgt. Er kommt geduckt herangekrochen, ganz vorsichtig, jederzeit bereit blitzartig den Rückzug anzutreten, falls es die Situation erfordern sollte. Nach einer Weile ist das Vertrauen des jungen Rüden zu Hedwig so weit gewachsen, daß er sich behutsam streicheln läßt. Er beschnuppert ihre Füße und leckt mit seiner dünnen rosafarbenen Zunge die Finger ihrer rechten Hand ab, die eben noch die Wurst gehalten haben. Mit seinen pechschwarzen Augen, den abgewinkelten spitzen Ohren und der gescheckten länglichen Hundeschnauze, sieht er wie ein drolliger Kobold aus. ´Ja´, denkt Hedwig, ´Kobold wär´ ein passender Name für dich.´ Als Hans knapp zwei Stunden später auf das Schiff zurückkehrt, ist er schlecht gelaunt, denn er befürchtet, daß seine Frau den Köter inzwischen gesucht und möglicherweise gar aufgespürt hat. Dann würde es verdammt schwer werden das Viech wieder von Bord zu jagen. Und tatsächlich präsentiert ihm seine Frau voller Freude Kobold. „Du hast sogar schon einen Namen für den Hundskrüppel“, ist seine unwirsche Reaktion. Hedwig, ob dieser ruppigen Begrüßung verschnupft, hatte keinesfalls erwartet, daß er ihr beim Anblick des Hündchens vor Begeisterung um den Hals fallen würde, aber etwas mehr Tierliebe hätte sie sich von ihrem Mann dann doch gewünscht. Hans merkt, daß er einen Fehler begangen hat, und versucht seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Ob der Hund auf dem Kahn bleiben kann, darf ich nich´ entscheiden. Du weißt ganz genau, mein Vater hat darüber das letzte Wort.“ „Das mußt du nicht extra betonen“, erwidert Hedwig gereizt, „aber du könntest mich wenigstens dabei unterstützen ihn zu überreden, daß ich den Hund behalten darf.“ Hans, dem jeglicher Streit zuwider ist, befindet sich in einer verzwickten Lage. Die Idee seiner Frau gefällt ihm ganz und gar nicht, dennoch sieht er sich genötigt Hedwigs Partei zu ergreifen, um sie friedlich zu stimmen. Möglicherweise wird er so abermals den Zorn des Alten auf sich ziehen.

Heinrich kehrt am späten Nachmittag von der Schifferbörse zurück und lehnt wie erwartet Hedwigs Wunsch, lauwarm unterstützt von Hans, kategorisch ab. Da zeigt die umgängliche Hedwig eine bemerkenswerte Hartnäckigkeit. Unbeeindruckt von dem barschen Nein des Schiffsführers argumentiert sie geschickt für den Verbleib des Tieres. „Schwiegervater, ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie du mir im Januar, bei der Feier von Henriettes sechzigstem Geburtstag, erzählt hast, daß die Freude immens groß war, als dein Vater einen Pudel mit aufs Schiff brachte und euch Kindern zum Geschenk machte.“ „Das stimmt“, brummt Heinrich ärgerlich, „aber ich hab´ dir da nur den erfreulichen Teil der Geschichte erzählt. Denn eines Tages kam das traurige Ende. Wir spielten mit dem Hund Fangen, unser Pudel ging über Bord und is´ abgesoffen. Henriette und ich mußten´s ohnmächtig mit anseh´n. Der Kahn fuhr im Schleppkonvoi zu Berg. Wir konnten unmöglich abstoppen, um das Tier mit Hilfe des Nachens aus dem Strom zu fischen. Meine Schwester hat ´ne Woche lang geflennt. Ich fühlte mich ebenfalls furchtbar elend. Den Anblick, wie unser Hund verzweifelt gegen die Strömung ankämpfte, bis er entkräftet unterging, werd´ ich mein Lebtag nicht vergessen.“ „Danke für die Warnung“, meint Hedwig ganz praktisch, „also acht´ ich d´rauf, daß Kobold während der Fahrten immer angebunden bleibt. Ich schlag´ deswegen vor, wir spannen ein dünnes Drahtseil längs der Schiffsmitte und befestigen daran die Hundeleine mit einem Karabinerhaken. So hat Kobold ausreichend Bewegungsfreiheit. Damit der Hund aber nicht aus Versehen ins Wasser fällt, passen wir die Länge der Hundeleine entsprechend an. Das Drahtseil kann auch der zukünftigen Sicherheit Ilses dienen. Ich bastle ein Geschirr für sie und hak´ unser Kind dann mit einer zweiten Leine ebenfalls am Seil fest. So brauch' ich nicht ständig hinter ihr her zu sein, wenn sie anfängt, auf dem Deck herumzukrabbeln.“ Dieser Vorschlag gefällt Heinrich. Seine Bedenken schwinden und schließlich gibt er seinen Segen zu der herrenlosen Promenadenmischung.

Zwei Tage nach diesem Ereignis ist die ´Minerva´ flußaufwärts unterwegs. Kobold gewöhnt sich außerordentlich rasch an das Bordleben, weswegen Heinrich vermutet, der Hund könne von einem anderen Schiff stammen. „Wahrscheinlich wurd´ er absichtlich ausgesetzt“, meint er grimmig. Hans kann sich nur schwer mit Kobold anfreunden. Im Gegensatz dazu sind das Hündchen und Heinrich bald unzertrennlich. Kobold liegt meistens unterm Steuerstuhl, wenn Heinrich an der Haspel steht. Der Vorschlag Hedwigs mit dem Drahtseil wird von Hans ohne zu murren verwirklicht, wohl aber eher wegen der größeren Sicherheit für sein Töchterchen.

Den ganzen Sommer und Herbst hindurch kehrt die ´Minerva´ nicht mehr nach Rotterdam zurück. Der Partikulier erhält ständig nur Frachtladungen zwischen Ruhrort und dem Oberrhein. Mal sind es Kohlen für Basel, ein anderes Mal Maschinenteile oder Rohstahl nach Mannheim und Ludwigshafen. Auf der Rückfahrt zu Tal hat das Schiff überwiegend Kies, ab und an auch Düngemittel geladen. Völlig neuartig ist ein Transportauftrag, den Heinrich im Herbst erhält. Er soll mit seinem Kahn mehrere Panzerwagen von Duisburg nach Speyer verbringen. Daß über viele Monate hindurch der Kahn nicht mehr bis nach Wesel am Niederrhein gelangt, stört allein den Schiffsjungen, denn er stammt von dort. Dagegen kommen Hans und Heinrich aus einem Dorf am Mittelrhein in der Nähe von Bad Salzig, einem Städtchen südlich von Koblenz gelegen. So hat die Familie Schmid während dieser Monate öfters Gelegenheit, ihrem festen Wohnsitz für eine Nacht einen Besuch abzustatten.

Die oberhalb von Bad Salzig gelegene Rheingebirgsstrecke zwischen St. Goar und Bingen ist der gefährlichste Stromabschnitt des gewaltigen Flusses. Hier hat sich der Rhein über Jahrmillionen durch das Schiefergebirge gewühlt und trennt seither den linksrheinischen Hunsrück vom rechtsrheinischen Taunus. Trotz ihrer latenten Angst das Schiff könnte eine Havarie erleiden, ist Hedwig beim Durchqueren dieses Rheinabschnittes jedes Mal aufs Neue von dem Gedanken fasziniert, wie das geschmeidige Wasser selbst hartes Gestein auf Dauer bezwingt. Die Männer sind in diesen Stunden hochkonzentriert und verschwenden auf irgendwelche philosophische Betrachtungen natürlich keinen Gedanken. Da ihr Kahn bergauf wie bergab von einem Dampfboot gezogen werden muß, hängt die ´Minerva´ zusammen mit anderen Kähnen während der Fahrten an einem langen Schleppstrang aus Stahl.

Jetzt, auf ihrer Fahrt bergauf, muß die Zahl der Anhänge des Schiffsverbandes auf der Höhe der Reede von Bad Salzig von fünf auf zwei reduziert werden. Es ist schon spät am Nachmittag und der Kapitän des Schleppbootes möchte unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit Bingen erreichen. Alle Kähne auf einmal zu ziehen, dafür ist sein Boot auf diesem Streckenabschnitt zu schwach und die Strömung zu stark. Der Dampferkapitän gibt mit der Schiffsglocke ein erstes Signal. Gleich darauf verlangsamt er das Tempo. Die Stahlstränge von Schiff zu Schiff entspannen sich. Anschließend werfen auf sein Kommando hin die letzten drei Kähne ihre Schleppstränge der Reihe nach ab. Dieses Manöver erfordert Können und Erfahrung. Heinrich hatte es bei Beginn der Reise in Ruhrort durch geschickte Verhandlungen mit dem Kapitän erreicht, daß sein Boot am Ende des Schiffskonvois fuhr, und darf nun den Schleppstrang zuerst abwerfen. Aufgrund der Trägheit ihrer großen Masse macht die ´Minerva´ noch eine gute Minute Fahrt bergauf. Diese physikalische Eigenschaft nutzt der Schiffsführer geschickt aus, um seinen Kahn aus der Fahrrinne heraus, Richtung Steuerbord in die Nähe des Ufers zu lenken. Dabei muß er auf zahllose andere Boote achtgeben, die in diesem Bereich gleichfalls auf Reede liegen, während sie alle auf die Rückkehr ihrer Schleppdampfer warten. Vorne am Bug stehen Hans und der Schiffsjunge Fritz. Sie warten auf einen Zuruf ihres Chefs, um im richtigen Moment den schweren Stockanker, mitsamt der sich rasant abspulenden Ankerkette, ins Wasser rauschen zu lassen. Es ist jedesmal ungewiß, ob der Anker am Flußgrund rechtzeitig greifen wird, der hier nicht sandig ist, sondern größtenteils aus nacktem Felsen besteht. Finden die Ankerarme keinen Spalt, in dem sie sich verkeilen können, wird das Schiff unweigerlich flußabwärts getrieben und läuft Gefahr, mit anderen Kähnen zu kollidieren. Doch das Manöver gelingt auch diesmal. Der Nachen wird an das Schiff herangezogen und Heinrich rudert mit Hans gemeinsam ans Ufer. Auf der Heckbank, ihnen gegenüber, sitzt Hedwig mit Ilse im Arm. Fritz und Kobold müssen an Bord bleiben. Sie sollen das Schiff bewachen. Nachdem das Beiboot am Ufer sicher vertäut ist, begibt sich die Familie auf den Weg nach Hause. Rechtzeitig zum Abendessen gelangen sie in ihr Dorf. Genau aus diesem Grund wollte Heinrich als Letzter im Konvoi fahren. So haben die Schifferleute genügend Zeit gewonnen, daß sie einen Abend und eine Nacht lang ihr festes Heim genießen können.

Schon mit dem ersten Zug im Morgengrauen sind sie wieder auf dem Weg zu ihrem Kahn. In dem Abteil Dritter Klasse sitzen außer ihnen zwei Bauersfrauen. Sie wollen Eier und den Speck geschlachteter Schweine auf dem Wochenmarkt in Bad Salzig verkaufen. Heinrich und sein Sohn nutzen die Bahnfahrt für ein kurzes Nickerchen. Hedwig kommt mit den Frauen ins Gespräch. „Was für ´n braves Kind! Is´ es ein Junge oder ein Mädel?“, will die Ältere der Bäuerinnen wissen. „Ein Mädchen“, antwortet Hedwig. „Oh, wie gern hätt´ ich auch ein Mädel gehabt, aber dann sind´s halt drei Buben geworden“, sagt sie lachend und fährt fort: „Mittlerweile sind meine Jungs erwachsen. Mein Gott, wie die Jahre vergeh´n. Ich erinner´ mich noch, als ob´s gestern gewesen wär´, als sie auf allen Vier´n durch die Stube gerobbt sind.“ „Meine Tochter kann sich seit drei Wochen vom Rücken auf den Bauch dreh´n“, verkündet Hedwig stolz. „Genießen Sie die Zeit. Sobald die Kinder größer werden, wachsen mit ihnen auch die Sorgen“, belehrt die Landfrau und erzählt: „Mein Ältester ist in die NSDAP eingetreten, dauernd schwätzt er davon, daß bald bess´re Zeiten für uns Bauern anbrechen werden. Ich bin ja schon froh, wenn wir nich´ nochmals so ´nen fürchterlichen Krieg durchmachen müssen und keine Besatzer mehr im Land haben. Die beschlagnahmten damals nämlich, gleich nach dem Friedensschluß, uns´ren einzigen Ackergaul. Das war´n harter Schlag! Meine Jungs mußten die Verzweiflung ihres Vaters miterleben. Seitdem hassen sie die Franzosen.“ „Ich find´s vollkommen richtig, wenn das deutsche Bauerntum gestärkt wird“, schaltet sich die jüngere Landfrau in das Gespräch ein und meint: „Was macht ein Volk, das keine Menschen mehr hat, die die Äcker bestell´n und Wies´n mäh´n? Jahrhunderte hat´s unendlich viel Schweiß und entsetzliche Müh´n gekostet, das Land urbar zu machen. Die Städter zerbrechen sich nie den Kopf darüber, wer sie täglich satt macht. Nur wenn sie hungern müssen, dann fällt´s ihnen plötzlich ein, daß man ja auch die Bauern braucht.“ „Das stimmt allerdings“, pflichtet ihr die Ältere mit einem Kopfnicken bei. „Wohin fahr´n Sie denn?“, will die jüngere Bäuerin nun neugierig von Hedwig wissen. „Wir sind auf dem Weg zu unser´m Kahn und haben nur einen kurzen Besuch Zuhaus´ gemacht. In zwei Stunden wird das Dampfboot aus Bingen zurückkehren und schleppt uns weiter bis Ludwigshafen.“ „Sie besitzen ein eigenes Schiff?“, fragt die Ältere interessiert. „Mein Schwiegervater is´ Partikulier, ihm gehört die ´Minerva´ “, gibt Hedwig bereitwillig Auskunft. „Da kommen Sie bestimmt viel ´rum“, meint die Jüngere. „Nein, nein, so´n Zigeunerleben wär´ nichts für unsereiner. Ich wach´ lieber morgens auf und weiß, wo ich bin“, wendet die ältere Landfrau, während sie energisch ihren Kopf schüttelt. Heinrich ist mittlerweile aus seinem Schlummer erwacht und rügt seine Schwiegertochter: „Red´ nich´ so viel.“ In diesem Moment kommt der Zug heftig ruckelnd zum Halten. Hans, durch das grelle Quietschen der Zugbremsen unsanft geweckt, nimmt seiner Frau die Tochter ab. Hedwig soll ungefährdet, die steilen Trittbrettstufen hinab, auf den Bahnsteig gelangen. Alle haben es nun eilig ihren Geschäften nachzugehen. Frau Schmid verabschiedet sich hastig von ihren Reisebekanntschaften. Außer Hörweite der Bauersfrauen belehrt Heinrich seine Schwiegertochter: „Vielen Leuten erscheint unsere Lebensweise anrüchig, deshalb sag´ ich Fremden ungern, daß wir Schiffer sind. Zu oft hab´ ich mir dumme Sprüche anhören müssen.“ Hedwig sieht Heinrich ungläubig an. „Ach, ich denk´ nicht, daß die Bäuerin vorhin ihre Bemerkung abfällig gemeint hat. An Land, beim Einkaufen, werd´ ich öfters gefragt, woher ich komm´. Wenn ich dann von unserem Kahn erzähl´, fragen die Leut´ eher interessiert nach.“ Heinrich meint mit leichter Bitterkeit in der Stimme: „Das is´ typisch für die Leut´, eigentlich rümpfen sie ihre Nase über uns, sobald sie aber mitkriegen, daß man Eigner eines Bootes is´, dann beneiden sie einen.“ Kurz darauf gelangt die Familie ans Ufer. Das Beiboot wird losgebunden und nach einigen Dutzend Ruderschlägen werden sie von Kobold freudig bellend an Bord begrüßt.

Das Aufnehmen der Lastkähne durch das Schleppboot ist für alle Beteiligten eine körperlich anstrengende und gefährliche Arbeit. Hedwig steht an Deck. Ängstlich beobachtet sie ihren Mann, wie er neben der motorisierten Ankerlier kniet. Hans muß die Zündung richtig einstellen. Sollte ihm dabei ein Fehler unterlaufen, könnte beim Starten des Petroleummotors die Handkurbel mit Wucht zurückschlagen und ihm womöglich dabei den Arm brechen. Der Motor springt nach ein paar vergeblichen Versuchen qualmend und stotternd an. Mit Hilfe seiner explosiven Kraft holt Hans ohne die Hilfe des Schiffsjungen den Anker problemlos ein. Fritz wirft derweil der Mannschaft des sich vorsichtig nähernden Raddampfers eine Leine zu. Ein Matrose des Dampfers bindet daran den eisernen Schleppstrang fest. Mühsam ziehen Hans und Fritz den Strang anschließend zu sich herüber und wickeln ihn, in der Form einer großen Acht, backbords um zwei Poller am Bug ihres Schiffes. Nachdem der Schleppdampfer auf diese Weise nach und nach seine drei gestern zurückgelassenen Anhänge eingesammelt hat, ist der erste Teil der Arbeit vollbracht. Bevor aber der Schleppverband Fahrt aufnehmen kann, steht Fritz vor einer weiteren schweißtreibenden Tätigkeit. Die ´Minerva´ wurde diesmal an die zweite Stelle im Schiffskonvoi gehängt. Der längere Eisenstrang des hinter der ´Minerva´ fahrenden dritten Kahns muß vom Schiffsjungen mit dem Wolf, einem dreiarmigen Wurfanker, aus dem Fluß gefischt werden und in einen extra Hacken, dem Brittelhacken, an der Schiffslängsseite eingelegt werden. Würde man das unterlassen, bestünde die Gefahr, daß der Strang bei Drosselung der Fahrt über den Flußgrund schleift, an einem Felsengrat hängen bleibt und schlimmstenfalls reißt. Nachdem zuletzt ein Lotse an Bord gegangen ist, kann die Reise endlich fortgesetzt werden. Über St. Goar, an der sagenumwobenen Loreley vorbei und weiter nach Bacharach, gelangt die zweite Hälfte des Schiffskonvois auf der Höhe von Aßmannshausen zum Binger Loch. Die Lotsen kennen auf dieser Strecke alle Tücken des Stromes. Sie wissen, aus langjähriger Erfahrung, an welchen Stellen im Fahrwasser eine felsige Untiefe lauert, die bei der geringsten Unachtsamkeit den Schiffsboden aufreißen kann. Etliche Male muß der Schleppverband vom linksrheinischen zum rechtsrheinischen Ufer und zurück wechseln, damit in den engen Flußschleifen der Gebirgsstrecke kein Schiff des Verbandes von der mächtigen Strömung ans Ufer gedrückt wird. Der Lotse, Heinrich und Hans stehen gemeinsam an der Haspel. Der Druck des vorbeiströmenden Wassers auf das Ruderblatt ist gewaltig. Nur mit vereinten Kräften können sie den Kahn auf Kurs halten. Das Binger Loch ist ein teuflisch enges Nadelöhr. Als Hedwig das erste Mal diese Passage mitmachte und die Anspannung der Männer erlebt hatte, fragte sie hinterher Hans, welche Besonderheit es mit dieser Stelle des Rheines auf sich habe. „Bis zum siebzehnten Jahrhundert versperrte hier eine quer über die ganze Flußbreite verlaufende Felsenbarriere knapp unterhalb des Wasserspiegels jedem Schiff das Weiterkommen. Dann sprengte man ein schmales Loch in die Felsen, das in den darauffolgenden zweihundert Jahren Stück für Stück auf dreißig Meter verbreitert wurde“, erklärte er ihr.

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