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2. Kapitel
ОглавлениеZu Weihnachten erhält Hans drei Tage Urlaub, er kann endlich mal wieder seine Familie besuchen. Am Heiligen Abend sitzen Heinrich, Henriette, Hedwig, Hans und Tochter Ilse im Wohnzimmer. Sie singen fleißig Weihnachtslieder, mit Ausnahme von Hans. Die beiden Frauen empfinden es als das größte Geschenk dieses Festes, daß bisher der Herrgott seine Hand schützend über die Familie gehalten hat, und genießen die begrenzte Zeit, die sie ungestört alle miteinander verbringen können. Allerdings spukt in den Köpfen Hedwigs und Henriettes ein Gespenst herum, sein Name ist Furcht. Was wird das nächste Jahr Schlimmes bringen? Die Frauen stellen sich während des Abends öfters die bange Frage, ob sie auch noch das nächste Weihnachten gesund und vollzählig werden feiern können. Hans hat sich verändert, er ist einsilbig geworden. Hedwig fällt auf, daß er erhebliche Mengen an Wein trinkt, so viel, daß seine Zunge schwer und seine Aussprache undeutlich wird. Auf ihre mehrmaligen besorgten Fragen hin, welcher Kummer ihn denn so sehr bedrücke, reagiert er ausweichend oder ärgerlich. Zwischen dem Ehepaar existiert in diesen Tagen eine unerklärliche Distanz und Hedwig gelingt es nicht, sie zu überwinden. Heinrich ist dagegen hauptsächlich um die ´Minerva´ besorgt. Erst die mehrfache Versicherung seines Sohnes, alles bis auf den Schaden sei in bester Ordnung, läßt ihn wieder ruhiger schlafen. Der Partikulier steckt erneut voller Tatendrang und die erzwungene Untätigkeit macht ihm erheblich zu schaffen. Auch er rechnet sich aus, daß der Krieg nicht mehr lange dauern kann. Heinrich schmiedet eifrig Pläne für die Zeit danach. Hans will er unbedingt einen eigenen Kahn kaufen. Er selbst, so meint er, fühle sich noch zu jung, um sich demnächst aufs Altenteil zurückzuziehen. Er möchte so schnell als möglich seine geliebte ´Minerva´ in Stand setzen und sie obendrein modernisieren lassen. Unter anderem könnte man dem Schiff einen eigenen Antrieb verpassen, schwärmt Heinrich, dann wären sie fortan von den Schleppdampfern endlich unabhängig. Die Beschäftigung mit solchen Plänen gibt ihm Auftrieb. Im Handumdrehen sind die wenigen Urlaubstage von Hans leider vorüber. Bei seiner Abreise muß er felsenfest versprechen, öfters zu schreiben, obwohl das Schreiben nie seine Sache war. Die Einlösung dieses Versprechens vereitelt bald die Post, am dreiundzwanzigsten Januar gibt sie überraschend bekannt, daß private Briefsendungen ab sofort nur noch innerörtlich befördert werden.
Heinrich bringt in den Alltag des Haushaltes erhebliche Unruhe hinein. Henriette und Hedwig waren es bisher gewohnt, die anfallenden Probleme selber zu lösen. Da Heinrich aber nicht ausgelastet ist, mischt er sich ständig in deren Haushaltsführung ein, gibt ungebetene Ratschläge, welche von den Frauen eher wie Anweisungen empfunden werden. Zwischen Hedwig und Henriette bildet sich eine stillschweigende Allianz. Sie versuchen ihrerseits, durch Reklamationen auf anstehende kleinere Haus- und Grundstücksreparaturen, Heinrich auf Trab zu halten. Diese Instandsetzungsarbeiten wären unter normalen Umständen im Nu erledigt, weil aber passendes Material und Ersatzteile kaum erhältlich sind, erfordern die Arbeiten viel Geschick, Improvisationsgabe und Geduld.
Zur gleichen Zeit rückt die Front gegen den Rhein immer näher, ein neuer Sirenenton wird eingeführt: Feindalarm. Mitte März können alle Dorfbewohner, einschließlich der Endsiegfanatiker, deutlich den Gefechtslärm der Front hören, wobei von einer geschlossenen Front wahrlich nicht mehr gesprochen werden kann. Vielen Wehrmachtsangehörigen ist die Lust vergangen, dem haushoch überlegenen Feind noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen, zumal den meisten Soldaten sowieso die dafür nötigen Waffen und Munitionsvorräte fehlen. Überwiegend sind sie von der nachvollziehbaren Motivation durchdrungen, den Rest des Krieges einigermaßen unbeschadet zu überstehen.
Am siebzehnten März, einem Samstag, zieht eine erschöpfte desolate Wehrmachtseinheit, von Norden kommend, eilig durch die Hauptstraße in Richtung Süden ab. Die Dorfbewohner erfahren von den Landsern, daß sie die Nachhut seien. Zwischen ihnen und den Amis gäbe es keine kämpfenden Einheiten mehr. Kaum hat man den Bürgermeister von dieser brenzligen Situation in Kenntnis gesetzt, macht der Mann einen erstaunlichen Gesinnungswandel durch. Hatte er bis gestern noch unverdrossen verkündet, daß der Führer mit Sicherheit das Kriegsglück bald wenden werde und jedem mit sofortiger Erschießung gedroht, der für Kapitulation plädierte, ordnet er nun hastig an, die am Dorfrand notdürftig errichteten Panzersperren beiseite zu räumen und empfiehlt allen Haushalten weiße Bettlaken, als Zeichen der Aufgabe, aus den Fenstern zu hängen.
Am darauf folgenden Morgen sind die Dorfbewohner nahezu vollzählig in der Kirche zum sonntäglichen Gottesdienst versammelt. Allerdings widmen die Gläubigen der Heiligen Messe und der Predigt des Pfarrers nicht die übliche Aufmerksamkeit, denn sie lauschen gespannt mit gespitzten Ohren nach draußen. Ihre Stimmung ist recht unterschiedlich. Denjenigen, die sich in den letzten Jahren für die herrschende Ideologie stark gemacht haben, ist ausgesprochen mulmig zumute. Der Gemütszustand aller Übrigen schwankt zwischen Erleichterung, daß die Schrecken des Krieges bald vorüber sein werden und Furcht vor den zu erwartenden Racheakten der Sieger. Geschürt wird diese Furcht seit einigen Monaten zusätzlich auch von der staatlichen Propaganda, die den Deutschen in den schwärzesten Farben die Folgen eines Sieges der Alliierten ausmalt. Ilse ist aufgeregt, neulich hatte ihr die Mutter erzählt, daß es unter den amerikanischen Soldaten auch Neger gäbe. In ihrer Kinderbibel ist ein Bild von einem Mohren zu sehen, er stellt einen der Heiligen Drei Könige dar. Aber einen leibhaftig schwarzen Menschen, den hatte Ilse noch nie zu Gesicht bekommen. ´Wie kann ein Mensch schwarz sein?´, denkt sie. ´Braungebrannte Menschen ja, die hab´ ich im Sommer oft gesehen, aber völlig schwarz, das ist spannend.´ Der Pfarrer spricht gerade den Schlußsegen, als die Kirchenbesucher ein anschwellendes Rasseln von Panzerketten vernehmen. Einige gehen sofort hinaus, andere knien nieder und beginnen inbrünstig zu beten. Ilse ist bei denen, die es eilig haben nach draußen zu kommen, zu gern möchte sie einen dieser Neger sehen. Stumm stehen die Dorfbewohner am Straßenrand Spalier. Ilse drängt sich ganz weit nach vorn. Alle starren in Richtung der Panzergeräusche. Da sind sie! Bedrohlich schiebt sich ein stählerner Koloß mit einem weißen Stern auf seinem Turm vom nördlichen Ortsausgang kommend die Straße herauf. In seinem Windschatten tauchen die ersten Amis auf. Ilse sieht sich nach ihrer Mutter um, sie ist dicht hinter ihr. Neben der Mutter stehen Henriette und der Großvater. Durch ihre Nähe fühlt sich Ilse sicher und geht keck noch einen Schritt vor, um genauer sehen zu können, aber die Mutter zieht sie augenblicklich zurück. Der Panzer rollt langsam weiter, immer näher kommen die feindlichen Soldaten. Sie scheinen den weißen Bettlaken nicht zu trauen, blicken sich nach allen Seiten um und halten ihre Gewehre schußbereit im Anschlag. Knapp fünfzig Meter vom Vorplatz der Kirche entfernt stoppt das Kettenfahrzeug, drohend schwenkt der Gefechtsturm mit seinem Kanonenrohr im Kreis herum. Auf ein lautes Kommando hin schwärmen die Infanteristen im Dorf aus. Im gleichen Moment erscheint ein Jeep am Ortsrand. Er steuert geradewegs auf die Dorfbewohner am Straßenrand zu und hält mit quietschenden Bremsen direkt neben der Menschenmenge an. Die lange Antenne am Heck des Fahrzeugs schwingt heftig hin und her. Der Beifahrer winkt den ihm am nächsten stehenden Dorfbewohner mit einer gebieterischen Geste zu sich heran. Seinen Stahlhelm trägt er lässig ins Genick geschoben. Offenbar handelt es sich bei ihm um den Befehlshaber des Stoßtrupps. Der solchermaßen Heranzitierte nähert sich devot dem Amerikaner. „Which of you fuck Nazis is the mayor?“ Der Angesprochene versteht nur Bahnhof und schaut sich hilfesuchend nach seinen Landsleuten um. Die Lehrerin ist die einzige im Ort, die Englisch spricht. Als junge Frau war sie drei Jahre lang als Erzieherin in England tätig gewesen. Sie hatte gleichfalls der Sonntagsmesse beigewohnt und steht jetzt mitten unter den ängstlich abwartenden Dorfbewohnern. Alle blicken die Lehrerin an, jeder erwartet von ihr, daß sie dolmetscht. Zögerlich nähert sich die Frau dem Jeep. „That gentleman is our mayor“, sagt sie in astreinem Englisch und deutet mit der Hand in Richtung des Bürgermeisters. Dem örtlichen Würdenträger ist sofort klar, wem die Handbewegung der Lehrerin gilt. Er krümmt die Schultern und duckt sich ein wenig. Doch auch seine Mitbürger ahnen, wer gemeint ist und die bei ihm Stehenden treten unwillkürlich einen Schritt beiseite, sodaß der Bürgermeister sich ungewollt im Mittelpunkt des Interesses sieht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf den Uniformierten zuzutreten. „Are you the mayor?“, will dieser barsch wissen. Noch bevor die Lehrerin sprachliche Hilfestellung leisten kann, nickt der Bürgermeister gehorsam. Mittlerweile kann er sich denken was ´mayor´ bedeutet. „Tell him that anyone who shows any kind of resistance will be punished. The mayor is responsible for all attacks against our armed Forces in this village.“ Der Soldat blickt, während er die Drohung ausspricht, unverwandt die Lehrerin an. Sie wendet sich an den Bürgermeister und übersetzt geflissentlich das Gesagte. Der Bürgermeister nickt eifrig und antwortet: „Jawohl, Herr Oberst.“ Er hat zwar keine Ahnung, welchen Rang dieser Ami bekleidet, aber sicherheitshalber greift er eine Schublade höher, um der neuen Macht zu schmeicheln. Als die Lehrerin die Antwort des Bürgermeisters übersetzt, lacht der Soldat. „I´m only a captain“, erwidert er und gibt seinem Fahrer einen Befehl, worauf dieser auf das Gaspedal tritt. Der Jeep braust ab. Während der Offizier mit den Erwachsenen sprach, glitten Ilses Blicke prüfend über die Gesichter der Soldaten, aber sie konnte unter ihnen keinen Neger ausmachen. Nachdem der Jeep davongefahren ist, drängt es die Dorfbewohner, nach Hause zu kommen. Jeder ist um sein Hab und Gut besorgt. Ilse trottet enttäuscht neben der Mutter her. Gerade als die Familie ihr Grundstück erreicht, kommt ein Ami aus ihrer Haustür heraus. Hedwig, Heinrich und Henriette bleiben wie angewurzelt stehen. Ilse blickt auf und starrt fasziniert in ein kohlrabenschwarzes Gesicht. Der Neger grinst sie an, seine Zähne erstrahlen in einem blendenden Weiß. Er geht auf Ilse zu, beugt sich zu ihr herab und kramt mit der rechten Hand in der Brusttasche seiner Uniformjacke, während die linke Hand den Lauf seines Gewehres, dessen Schaft auf dem Boden ruht, fest im Griff behält. Der GI zieht einen länglichen silbrigen Streifen hervor. Er streckt das seltsame Ding Ilse entgegen, lacht sie aufmunternd an und sagt: „It´s ok. You can take it.“ Ilse greift schüchtern zu. Der schwarze Mann streichelt ihr über die Haare, richtet sich wieder auf, winkt den Erwachsenen freundlich zu und verschwindet im nächsten Haus. „Was is´ das?“, fragt Ilse verwundert ihre Mutter. Bonbons sind ihr durchaus vertraut, aber der silbrige Streifen sieht nicht danach aus. Hedwig ist ebenfalls unwissend. „Ich kenn´ das auch nicht“, antwortet sie ihrer Tochter. „Wirf´s lieber weg“, fügt Henriette hinzu. Aber dazu kann sich Ilse nicht entschließen. „Ich heb´s auf“, meint sie. „Wie du willst“, erwidert Hedwig. Mit einem unguten Gefühl betreten die Erwachsenen das Haus, sie befürchten, daß der Neger auf der Suche nach Wertsachen alles aufgerissen und durchwühlt hat. Drinnen gleiten ihre Blicke prüfend durch die Zimmer. Der Inhalt aller Schubladen und Schränke wird sorgfältig kontrolliert, nichts fehlt. Erleichtert macht sich Henriette daran, für die Familie aus den dürftigen Vorräten ein einigermaßen schmackhaftes Mittagessen zu kochen und Heinrich hilft Hedwig im Garten hinter dem Haus, auf der letzten noch freien Fläche, ein weiteres Gemüsebeet anzulegen. Ilse zieht unterdessen eine Pappschachtel unter ihrem Bett hervor. In dem Karton bewahrt sie ihre sämtlichen Kostbarkeiten auf. Versonnen greift sie nacheinander verschiedene Gegenstände heraus und betrachtet sie liebevoll. Als Erstes ist da ein wunderbar glatt polierter goldig schimmernder Kieselstein. Ihn hatte sie an jenem Tag im Bach gefunden, an dem sie Fritz Stimme im Geplätscher des Wassers deutlich vernommen hatte. Als Nächstes hält Ilse ein Holzschiffchen in den Händen, das ihr Herr Stern geschenkt hatte. Ein sehr alter Mann, der allein in einem winzigen Häuschen abseits des Dorfes wohnt und nie in die Kirche geht. Ihr und den Spielkameradinnen war der Alte unheimlich gewesen. Sie hatten stets einen weiten Bogen um sein Haus gemacht. Eines Tages im letzten Sommer hatte sie sich aber aus purer Neugier einmal näher herangewagt. Herr Stern saß draußen vor der Tür auf einer Bank. In sicherer Entfernung war sie unschlüssig stehen geblieben. Da er ihr freundlich gewunken hatte, war sie näher gekommen, hatte ihm zugesehen, wie er mit einem Taschenmesser an einem Stück Holz schnitzte, das sich nach getaner Arbeit als Schiffchen entpuppte. Mit einem Lächeln seines zahnlosen Mundes hatte er es ihr in die Hand gedrückt. Der dritte Gegenstand ist ein gehäkelter kleiner Beutel, der ursprünglich zur Aufbewahrung eines Rosenkranzes diente, den ihr die Großmutter zur Taufe geschenkt hatte, der nun aber Ilses gesammelte Milchzähne enthält. Auch eine Postkarte zieht sie heraus. Auf der Vorderseite ist eine schwarz-weiße drollig dreinblickende Kuh abgebildet. Diese Karte schrieb ihr der Vater, als er einmal besonders lange nicht nach Hause gekommen war. Zuletzt entnimmt sie dem Karton eine angerostete Mundharmonika, die sie auf einem Streifzug durch den Wald unter einem Baum entdeckt hatte. Sie packt alle Gegenstände zurück in das Kistchen und legt das merkwürdige Geschenk des schwarzen Soldaten obenauf. Anschließend schiebt sie die Schachtel wieder unter ihr Bett.
Für Ilse beginnt der Frühling ausgesprochen erfreulich. Kaum haben die feindlichen Soldaten die Herrschaft im Dorf ergriffen, lassen sie sogleich die Schule schließen. Ilse und ihre Freundinnen spielen jeden Tag draußen, sofern es die Wetterbedingungen erlauben. Der Sommer bricht an, es wird schwül heiß. In der Nacht entladen sich öfters krachend Gewitter. Die Kinder im Dorf besitzen sehr wenig Spielzeug, aber ihre blühende Phantasie gleicht diesen Mangel mühelos aus. Die Mädchen in Ilses Alter zeichnen in den Staub der ungepflasterten Straße waagerechte und senkrechte sich kreuzende Linien. Dann hüpfen sie auf einem Bein von Quadrat zu Quadrat. Wenn ein Mädchen mit ihrem Fuß eine Linie berührt, hat es verloren. Sie spielen barfuß, Ersatz für abgetragene Schuhe gibt es nicht und die Mütter achten streng darauf, daß die Sandalen ihrer Kinder geschont werden. Oft spielen sie auch fangen. Der Fänger muß versuchen einen Mitspieler abzuschlagen, der Abgeschlagene wird zum nächsten Fänger. Die Buben bolzen lieber mit einem Fußball herum. Ein Junge besitzt einen uralten rissigen Lederball. Es ist sein wertvollster Besitz, die anderen beneiden ihn darum. Die Jungs sind es auch, die sich über das Verbot der Mütter hinwegsetzen und Erkundungen durch die umliegenden Wälder unternehmen. Die Väter hätten weit mehr Autorität dieses Verbot durchzusetzen, aber sie sind nicht da. Hedwig hatte ihren Mann zuletzt an Weihnachten gesehen. Danach erreichte sie Anfang Januar nur noch ein einziger kurzer Brief von ihm. Sie macht sich große Sorgen. Ilse fragt oft nach ihrem Vater und die Mutter antwortet immer das Gleiche: „Er wird bestimmt bald nach Haus kommen.“ Die Amerikaner ziehen ab und die Franzosen werden im Dorf Besatzungsmacht. Ihre erste Amtshandlung besteht darin, den von den Amerikanern neu eingesetzten Bürgermeister auszuwechseln. Den ursprünglichen Amtsinhaber hatten die Amis vierzehn Tage nach ihrem Einmarsch verhaftet.
Den Sommer über muß im Dorf niemand hungern. Das Allernotwendigste wird unter Verwendung der weiter gültigen Lebensmittelmarken eingekauft. Obst und Gemüse kann man in ausreichender Menge im eigenen Garten ernten. Schwieriger ist es hingegen mit Salz und Zucker. Diese raren aber wichtigen Zutaten erhält man nur auf dem Schwarzmarkt in der nächsten Stadt. Die Reichsmark steht nicht mehr sonderlich hoch im Kurs. Während des Krieges wurden viel zu viele Geldscheine gedruckt, die Geldmenge ist um ein Vielfaches größer als die vorhandene Warenmenge. Die unangenehmen Folgen sind für jeden Deutschen täglich spürbar. Die Schwarzmarkthändler bevorzugen amerikanische Zigaretten als Tauschwährung. Diese Währung hat den unschätzbaren Vorteil, sich nach und nach in Rauch aufzulösen, so besteht nie die Gefahr, daß eine zu große Menge davon in Umlauf gerät. Wer Zigaretten nicht bieten kann, muß sich notgedrungen Stück für Stück von seinen letzten Wertgegenständen trennen und wer gar nichts besitzt, wie die Millionen Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, die nur ihr nacktes Leben retten konnten, denen bleibt allein das Betteln. Die effektivste Methode, um an größere Mengen der begehrten Glimmstengel zu kommen, ist Schnaps zu brennen. Die dafür erforderlichen Rohstoffe kann man auf dem Lande besorgen. Die Sache hat nur einen entscheidenden Haken, sie ist illegal. Heinrich hätte durchaus das handwerkliche Geschick, eine Apparatur zum Destillieren von Schnaps einzurichten, aber ein solch ungesetzliches Tun lehnt er strikt ab.
Der Partikulier bemüht sich den ganzen Sommer und Herbst hindurch eine Reisegenehmigung nach Duisburg zu erhalten, denn er will die Chancen für eine Instandsetzung seiner ´Minerva´ ausloten. Überdies möchte er unbedingt den Verbleib von Hans klären. Hedwig wäre gerne mal wieder zu ihrer Mutter und der Schwester gefahren. Aber alle diese Wünsche bleiben vorerst unerfüllt, denn Duisburg liegt in der englischen Besatzungszone, die Schifferfamilie lebt in der französischen Zone und Großmutter Ilses Wohnsitz befindet sich innerhalb der amerikanischen Zone. Die Grenzen dazwischen sind, jedenfalls vorläufig, für normalsterbliche Deutsche gesperrt.
Das Jahr geht zu Ende. Die Dorfschule darf, zum Kummer der Kinder, den Unterricht wieder aufnehmen. Hedwig hatte mit der Tochter während all der Monate fleißig gelernt. Sie ist eine ausgesprochen geduldige Lehrerin. Ilse machte das Lernen mit der Mutter bedeutend mehr Spaß, als mit der strengen humorlosen Lehrerin ihrer Schule.
Im Winter meldet sich nicht nur der Frost im Dorf, sondern auch der Hunger. Über die Essensmarken können immer weniger Lebensmittel bezogen werden und in der Natur gibt es nichts zu ernten. Eines Morgens verbreitet sich die Nachricht, daß Herr Stern in seinem Häuschen verhungert oder erfroren aufgefunden worden sei. Niemand kann sagen, was von den beiden Möglichkeiten letztendlich die Todesursache war. Er erhält ein schlichtes Begräbnis auf Gemeindekosten. Da kaum Bargeld bei ihm gefunden wird und kein Bankguthaben vorhanden ist, als auch Erben nicht ausgemacht werden können, läßt sich die Gemeinde das Häuschen samt Inventar gerichtlich übereignen, um die Kosten der Beerdigung wieder hereinzuholen.
Seit die elementarsten Lebensmittel knapp sind, der Duft und der Genuß von gebratenem Fleisch nur noch in den Träumen der Hungernden vorkommt, hat sich Ilse vehement gewehrt, daß ihre putzigen Kaninchen auf den Speisezettel der Familie gesetzt wurden. Sie hegt und pflegt ihre zutraulichen Lieblinge in einem windschiefen Holzverschlag hinten im Garten. Als das Knurren der Mägen unüberhörbar wird, kommt der Tag, an dem die Mutter gezwungen ist, ein Machtwort zu sprechen: „Ilse, ich muß mit dir reden“, beginnt sie, während ihre Tochter, an einem eiskalten Februartag, in eine Decke gehüllt, am Tisch der nur schwach erwärmten Küche, ihre Schularbeiten erledigt. „Du bist doch ein großes vernünftiges Mädchen. Sicher kannst du verstehen, daß Menschen wichtiger sind als Tiere.“ Da ist es wieder, das vermaledeite Wort ´vernünftig´. Immer wenn Erwachsene dieses Wort gegenüber Kindern in den Mund nehmen, wollen sie ihnen meistens etwas Unangenehmes beibringen, so viel hat Ilse mittlerweile begriffen. Sie ahnt, worauf die Mutter hinaus will, zumal der Großvater in den letzten Tagen noch vehementer als sonst gefordert hatte, ihre Kaninchen endlich zu schlachten. Die Mutter schwieg zu diesem Thema beharrlich, allein Henriette war dem Kind in seiner verzweifelten Gegenwehr beigesprungen und so war es Großvater bisher nicht gelungen, sich durchzusetzen. „Ich weiß genau“, sagt sie voller Empörung, „ihr wollt meine Kaninchen töten und aufessen, aber das werd´ ich niemals zulassen.“ Hedwig setzt sich neben ihre Tochter auf die Küchenbank und nimmt sie in den Arm. „Hör mal, wir sind alle schrecklich hungrig, außerdem gibt es für die Kaninchen kaum noch Futter.“ „Warum haben wir so wenig zu essen?“, will Ilse wissen. „Die Deutschen haben mit ihrem Krieg viel Leid über die Welt gebracht und schlimme Verbrechen begangen, dafür müssen wir nun büßen“, erklärt die Mutter. „Aber ich und du Mama, wir sind ebenfalls Deutsche, wir haben niemandem irgendwas Schlechtes getan und meine Kaninchen erst recht nicht“, erwidert sie weinerlich. Gegen dieses Argument fällt Hedwig nichts ein. Sie versucht es mit einer anderen Erklärung: „Die Welt ist nicht gerecht, Ilse. Manchmal werden auch Menschen bestraft, die unschuldig sind.“ „Oh ja, das weiß ich“, sagt Ilse lebhaft. „Neulich hat die Lehrerin meiner Freundin Beate eine Strafarbeit aufgebrummt, weil sie angeblich durch Klappern mit ihrem Lineal den Unterricht gestört hat. Aber ich hab´s deutlich gesehen, sie hat´s nicht getan. Es war Margarete, die eine Bank hinter ihr sitzt.“ „Im Laufe deines Lebens werden dir noch viele solcher Ungerechtigkeiten begegnen“, erklärt Hedwig. „Es ist auch ungerecht, wenn wir die Kaninchen töten und aufessen“, trumpft Ilse auf. „Du darfst Tiere nicht mit Menschen gleichsetzen. Wir essen auch das Fleisch von Kühen, Schweinen, Gänsen und Hühnern. Gott hat die Tiere für den Menschen geschaffen, deshalb dürfen wir auch Kaninchenfleisch essen, wenn wir sehr hungrig sind.“ Ilse erinnert sich an den Gänsebraten, den es vorvorletzten Weihnachten gegeben hatte und der so köstlich geschmeckt hatte. „Könnten wir nicht lieber eine Gans essen?“, fragt Ilse mit kindlicher Logik und aufkeimender Hoffnung. Hedwigs Mund verzieht sich zu einem wehmütigen Lächeln. In ihr steigen die Bilder des Weihnachtsfestes von 1942 auf, an dem das Leben der Familie noch nicht von Tod und tiefer Not gezeichnet war. Diese Vergangenheit kommt ihr jetzt beinahe unwirklich vor, obschon sie erst drei Jahre zurückliegt. „Wir haben aber keine Gans und können auch keine kaufen. Wir müssen die Kaninchen schlachten, um nicht zu verhungern.“ Das Wort Verhungern flößt Ilse mächtig Angst ein. Sie denkt an Herrn Stern und schmiegt ihren Kopf an die Schulter der Mutter. „Bestimmt kommen meine Kaninchen in den Himmel, wenn Großvater sie tötet.“ Hedwig atmet tief durch. „Mit Sicherheit kommen sie in den Himmel“, bekräftigt sie die kindliche Vorstellungswelt. „Dann kann Fritz sich dort um sie kümmern“, verkündet Ilse erleichtert. „Das macht er bestimmt“, sagt Hedwig und streichelt zärtlich die Wange ihrer Tochter. Ilse steht auf. „Ich will zu meinen Kaninchen.“ Normalerweise würde es Hedwig keinesfalls dulden, daß Ilse ihre Hausaufgaben unvollendet zurückläßt, doch unter den gegebenen Umständen macht sie eine Ausnahme. „Aber nur eine Viertelstunde, anschließend erledigst du brav deine Schularbeiten.“ Ilse umarmt ihre Mutter flüchtig, läuft hinaus in den Garten und öffnet vorsichtig die Stalltür. Die Kaninchen kommen erwartungsvoll angehoppelt. Ilse redet jedes Tier mit seinem Namen an und krault es hinter den langen Ohren. Sie hat Tränen in den Augen.
In den darauffolgenden Wochen wird ein Kaninchen nach dem anderen von Heinrich geschlachtet. Jedes Mal würgt Ilse ihren Anteil am Fleisch mit Abscheu hinunter. Hätte sie nicht solch einen entsetzlichen Hunger, würde sie bestimmt keinen einzigen Bissen anrühren.
Als sich das erste zarte Grün auf den Ästen der Bäume zeigt, erhält Heinrich die ersehnte Genehmigung, um nach Duisburg in die britische Zone zu reisen. Nachdem der Rhein provisorisch schiffbar gemacht worden war, haben die Siegermächte ein großes Interesse daran, daß möglichst bald der Kohlentransport aus dem Ruhrgebiet wieder aufgenommen wird. Bisher war in den dortigen Bergwerken, mangels ausreichender Transportkapazitäten, viel auf Halde produziert worden. Bei seiner Ankunft im Hafen von Duisburg wundert sich Heinrich, daß etliche Schlepper und Kähne der großen Reedereien vorzüglich überholt sind, während die meisten Boote der Partikuliere noch einen kläglichen Anblick bieten. Das Geld auf seinem Konto reicht gerade mal aus, die notdürftigsten Reparaturen durchführen zu lassen. Die finanziellen Möglichkeiten zum Erwerb eines zweiten Kahns oder die Motorisierung der ´Minerva´ sind in unfaßbar weite Ferne gerückt. Die Beaufsichtigung der Ausbesserungsarbeiten an seinem Boot lassen Heinrich genügend Zeit, die Suche nach seinem Sohn aufzunehmen. Er erfährt von der Stadtverwaltung, daß alle Luftschutzwarte zum Volkssturm eingezogen worden waren, nachdem die alliierten Truppen das Ruhrgebiet eingekesselt hatten. Man hatte das letzte Aufgebot einen Tag lang militärisch gedrillt und anschließend in jene Richtung befohlen, wo die höheren Militärstäbe die Front vermuteten. Aber der Oberbefehlshaber des Ruhrkessels hatte bald darauf kapituliert und sich in einem Waldstück standesgemäß erschossen. Die Soldaten, die noch lebten und es ihrem Befehlshaber nicht unbedingt gleich tun wollten, waren in britische und amerikanische Gefangenschaft gegangen. Ob Hans die letzten Kämpfe überlebt hat, bringt Heinrich, trotz intensiver Nachforschungen, nicht in Erfahrung.
Nachdem die ´Minerva´ zum Sommeranfang einsatzbereit ist, stellt sich für den Partikulier das nächste Problem. Er findet keine geeigneten Matrosen, um seinen Kahn vorschriftsmäßig zu bemannen. Heinrich kehrt mißmutig in sein Dorf zurück. Dort war unterdessen eine Flüchtlingsfamilie aus dem Osten von der Gemeinde in das ehemalige Häuschen des Herrn Stern einquartiert worden. Heinrich erfährt von einem Nachbarn, daß der Vater dieser Familie bis Kriegsende auf der Oder angeblich ein eigenes Boot besessen habe. Sogleich macht sich der Partikulier auf den Weg, um diesen mutmaßlichen Schifferkollegen kennenzulernen. In dem Häuschen trifft er auf drangvolle Enge. Vater, Mutter und drei minderjährige Kinder drängen sich in einem Raum von ungefähr vier mal vier Metern. Auf einer Leine, die diagonal durch das Zimmer gespannt ist, hängt Wäsche zum Trocknen. Um in Ruhe miteinander reden zu können, ziehen sich die Männer auf die Bank vor dem Haus zurück. „Man hat mir erzählt, daß Sie einen eig´nen Kahn besaßen“, beginnt Heinrich das Gespräch. „Das stimmt. Wir waren auf der Oder unterwegs, als die Front an der Weichsel überraschend zusammenbrach, und wollten über den Oder-Spree- und den neuen Mittellandkanal in den Westen entfliehen. Weit sind wir nicht gekommen, russische Jagdflugzeuge haben unser Schleppschiff versenkt. Somit saßen wir fest und mußten die Flucht ohne unser Boot fortsetzen. Was aus meinem Kahn geworden ist, das weiß ich nicht, wahrscheinlich haben ihn sich die Polen geschnappt.“ Im weiteren Verlauf der Unterhaltung gewinnt Heinrich den Eindruck, daß Herr Carsten, so heißt der ehemalige Oder-Schiffer, ein tüchtiger Mann ist. Er offeriert ihm die Stelle eines Matrosen auf seinem Boot. „Ich möcht´ Sie nicht drängen. Ich könnt´s verstehen, wenn Sie mein Angebot ablehnen. Als ehemaliger Schiffsführer und Besitzer eines Kahns fällt´s ihnen bestimmt schwer, als einfacher Matrose anzuheuern“, sagt Heinrich. „Ach wissen Sie, das Schicksal hätte mich härter treffen können. Meine Frau und meine Kinder haben den Krieg und die Flucht unbeschadet überstanden. Das ist die Hauptsache. Ich bin sehr froh, wenn ich wieder Arbeit hab´ und obendrein in meinem Beruf“, erwidert Herr Carsten ohne Umschweife. Die beiden Männer einigen sich formlos über alle wesentlichen Punkte und besiegeln die Anstellung mit einem Handschlag.