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5. Kapitel

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Der Tag, an dem Ilse ihr drittes Lebensjahr vollenden wird, steht unmittelbar bevor. Die ´Minerva´ ist wie üblich auf dem Strom unterwegs. Hedwig möchte den anstehenden Ehrentag trotzdem zu einem besonderen Erlebnis für ihr Töchterchen machen. Nachdem sie Ilse mit einer Gute-Nacht-Geschichte zu Bett gebracht hat, beginnt die Mutter in der Roefküche zu werkeln. Unterdessen schläft die Kleine tief und fest in der elterlichen Kajüte am Bug des Kahns. Sollte sie wider Erwarten wach werden, bleibt ihr dort der herrliche Duft verborgen, der schon bald Achtern dem Herd entströmt.

Hedwig hatte tagelang darüber nachgedacht, welchen Geburtstagskuchen sie backen könnte. Schließlich entschied sie sich für eine Sachertorte. Daß Hedwig gerade diese österreichische Spezialität wählte, ist hauptsächlich zwei Gründen geschuldet: Erstens kennt sie Ilses ausgeprägte Vorliebe für Zartbitterschokolade und obendrein teilt sie diese Vorliebe. Zweitens hatte Hedwig seit jeher ein Faible für alles Wienerische. Das Rezept war ihr vor Jahren in einem Journal aufgefallen. Jedoch war die Enttäuschung groß gewesen, als sie die Rezeptur ausprobierte. Der Kuchen schmeckte weit mehr nach Zucker als nach Schokolade. Hedwig begann zu experimentieren, veränderte die Rezeptur, bis der Geschmack endlich ihren Vorstellungen entsprach.

Gegen zehn Uhr abends entnimmt die Schifferfrau dem Ofenrohr den fertig gebackenen Teig. Sie stellt ihn zum Abkühlen auf die Anrichte und legt sich dann schlafen. Sehr zeitig am nächsten Morgen steht sie schon wieder in der Küche, schneidet den Kuchen mittendurch und bestreicht die Innenseite einer Hälfte mit einer dicken Schicht Marillenmarmelade. Anschließend legt Hedwig beide Teile sorgfältig übereinander, übergießt das Ganze mit erhitzter Zartbitterschokolade und verteilt die Schokomasse mit der flachen Seite eines Brotmessers gleichmäßig über die gesamte Oberfläche und den Rand. Als Verzierung malt sie mit verflüssigtem Zuckerguß eine große Drei auf die erkaltete Schokoladenfläche. Zum Schluß krönt die Mutter das Werk mit drei rosa Kerzen und versteckt die fertige Torte im Küchenbüffet. Ilse soll den Geburtstagskuchen nicht vorzeitig erspähen, wenn sie nachher in der Küche ihr Frühstück einnimmt.

Gleich beim Aufwachen fällt der Dreijährigen ein, was der Vater gestern zu ihr gesagt hatte: „Ilschen, morgen bist du drei Jahre alt. Bald wirst du ein großes vernünftiges Mädchen sein.“ Mit dem Wort ´groß´ konnte sie durchaus etwas anfangen. Die Eltern, der Großvater und Fritz sind groß. Die ´Minerva´ ist sogar riesengroß. Aber was ein ´vernünftiges Mädchen´ sein sollte, war ihr vollkommen schleierhaft geblieben. Auch die Mutter erwähnte mehrmals ihren Geburtstag, hatte von einer leckeren Überraschung gesprochen. Ilse springt aufgeregt, voll kindlichem Elan, aus dem warmen Bett und trippelt mit nackten Füßchen eilig in den Vorraum der Matrosenwohnung. Enttäuscht muß sie feststellen, daß es da nichts Leckeres zu entdecken gibt, nichts hatte sich über Nacht verändert. Ein kleiner Holztisch mit drei abgewetzten Stühlen stehen an dem Platz, an dem sie schon immer gestanden haben und im Eck erblickt sie den häßlichen pechschwarzen Kanonenofen, an dessen gußeiserner Tür sie sich einmal äußerst schmerzhaft ihre Hand verbrannt hatte. Seitdem macht sie um das bösartige Ding lieber einen weiten Bogen. Ilse ist den Tränen nahe, keine Spur von einer schönen Überraschung. Zaghaft beginnt sie, die steilen Stufen zu erklimmen, die geradewegs aus der dunklen Kombüse an Deck führen. Oben angelangt drückt das kleine Mädchen die angelehnte Tür auf und stapft entschlossen ins Freie. Ihr Vater und Fritz stehen nicht weit weg, bei dem gewaltigen Anker, unmittelbar am Bug des Schiffes. Hans sieht sein Töchterchen, kommt freudestrahlend auf sie zu und nimmt Ilse schwungvoll auf den Arm. „Da is´ ja mein Geburtstagskind. Du bist aber schon früh auf den Beinchen. Komm, ich bring dich gleich wieder nach unten. Nich´ mal deine Schuh´ hast du an. Wir woll´n doch vermeiden, daß sich mein Schatz ausgerechnet an seinem Geburtstag erkältet und dann krank auf der Nase liegt.“ Ilse faßt sich erschrocken an ihr Näschen und sagt mit leicht lispelnder Stimme: „Auf Naze liegen tut weh.“ Der Vater lacht schallend und trägt seine Dreijährige vorsichtig die Treppe hinunter. „Wann kommt Zönes?“, fragt sie. „Sei nicht so ungeduldig mein Schatz. Deine Geschenke erhältst du am Nachmittag.“ „Wann iz Na´mittag?“, will sie wissen. „Erst wird dich Mama anzieh´n, dann darfst du frühstücken. Anschließend vergeh´n paar Stunden, bis wir alle zusammen essen. Danach machst du brav dein Mittagsschläfchen. Sobald du wieder aufwachst, dauert´s nicht mehr lang und die Erwachsenen trinken Kaffee. Dann bekommst du auch deine Geschenke.“ Griesgrämig verzieht die Kleine ihr Gesichtchen. „Ile möcht´ Gezenke glei.“ „Jetzt geduld´ dich doch ein wenig“, ermahnt der Vater sanft. Nachdem er sein Töchterchen zurück in ihr Bett gebracht hat, marschiert er schnurstracks zum Heck, steigt in die Roef hinab, um seiner Frau mitzuteilen, daß Ilse wach geworden ist. Hedwig eilt in die Matrosenwohnung, zieht ihr Töchterchen an und nimmt sie mit in die Küche. Hier serviert sie dem Kind zur Feier des Tages keine Hafergrütze, sondern einen Bananenbrei. Mit sichtlichem Behagen schaufelt Ilse den süßen Brei in sich hinein. Laut schmatzend leckt sie zu guter Letzt feinsäuberlich noch ihren Teller ab. Normalerweise würde die Mutter ein solch ungebührliches Betragen keinesfalls dulden, aber weil Geburtstag ist, drückt sie ausnahmsweise beide Augen zu. Danach spielt Ilse mit ihrer Stoffpuppe Käthe, die sie vier Monate zuvor an Weihnachten von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Ständig löchert sie ihre Mutter, ob nicht bald Nachmittag sei. Hedwig geht die Fragerei auf die Nerven und sie bringt Ilse schließlich zum Großvater auf den Steuerstuhl. Normalerweise ist der Steuerstuhl für das Kind tabu, doch heute wird eine Ausnahme gemacht. Der Großvater erlaubt seiner Enkelin sogar, die blitzblank polierte Schiffsglocke zu schlagen. Als es ihr endlich gelingt der Glocke einen kräftigen Ton zu entlocken, juchzt sie vor Freude laut auf.

Für Kinder kriechen Stunden meistens im Schneckentempo dahin. Warten sie überdies auf ein freudiges Ereignis, hat es für sie den Anschein, als ob die Zeiger der Uhren überhaupt nicht mehr weiter wollen. Aber irgendwie schafft es die verflixte Zeit dann doch. Nach schier endlosen Stunden kommt die Mutter mit der Überraschung aus der Küche und stellt die Sachertorte vor das Geburtstagskind auf den Tisch. Ilse darf die drei brennenden Kerzen ausblasen. Sie bläst mit aller Kraft, dennoch muß die Mutter ein wenig nachhelfen. Sorgfältig zerteilt Hedwig die Torte in einzelne Stücke. Jedes Tortenstück sieht in den Augen der Erwachsenen gleich groß aus, aber beileibe nicht für kritische Kinderaugen. Als Hedwig eines der Kuchenstücke auf Ilses Teller legt, schiebt diese den Teller voller Entrüstung weg. „Ich will daz“, sagt sie resolut und deutet mit dem Finger auf ein anderes Stück. Der Großvater, der die Haspel Fritz anvertraut hat und vom Steuerstuhl ins Wohnzimmer herabgestiegen ist, wird ärgerlich. „Ilse! Iß gefälligst jenes Stück, das dir deine Mutter gegeben hat.“ Abrupt läßt Hedwig den Tortenheber sinken. Aber sie stört keineswegs der Wunsch nach einem anderen Kuchenstück, im Gegenteil, geradezu entzückt verkündet sie: „Habt ihr´s gehört? Ilschen hat zum ersten Mal ´Ich´ gesagt.“ „Is´ mir überhaupt nich´ aufgefallen“, meint Hans überrascht. Den Großvater beeindruckt das frisch erwachte bewußte Selbst der Enkelin keineswegs, ärgerlich knurrt er nur: „Wenn sich das Gör nun als eigene Persönlichkeit begreift, dann sollte sie jetzt wenigstens so vernünftig sein, um einzusehen, daß sie Erwachsenen zu gehorchen hat.“ Hier ist es schon wieder, das ominöse Wort ´vernünftig´, über das die Kleine so viel nachgedacht hatte. Trotz der Zurechtweisung durch den Großvater gibt Hedwig ihrem Töchterchen das gewünschte Stück. Glückselig verdrückt Ilse den Kuchen mit atemberaubender Geschwindigkeit, da man ihr nach dem Aufessen weitere Überraschungen in Aussicht gestellt hat. Kurz darauf nimmt sie mit glänzenden Augen aus der Hand der Mutter ein in Seidenpapier eingewickeltes Paket entgegen. „Das is´ von deiner Großtante Henriette. Sie hätt´s dir gern´ selber überreicht, aber leider sind wir momentan weit weg von Zuhaus´ “, kommentiert Hedwig das Geschenk. Ungeduldig reißt das Geburtstagskind die Verpackung auf. Zum Vorschein kommen ein rosafarbenes Kleidchen und eine dazu passende, mit Rüschen besetzte, weiße Bluse. Von Großvater, der sich mittlerweile wieder beruhigt hat, erhält sie auch ein Päckchen. Als Ilse es öffnet, entfährt ihr ein heller Freudenschrei. Eine so prächtige Haarschleife hatte das Kind ihr Lebtag noch nie gesehen. Und die soll nun ihr gehören? Ilse kann es kaum fassen. Aber noch ein weiteres Geschenk wartet auf das kleine Mädchen. Der Vater überreicht seinem Töchterchen einen blauen Karton. Die Mutter hilft das rote Band zu lösen, das den Deckel festhält. Der Karton enthält ein Paar glänzende schwarze Lackschuhe. Ilse ist vor Freude völlig aus dem Häuschen. Alles will sie auf der Stelle anziehen und Mutter erlaubt es ihr. Solchermaßen sonntäglich ausstaffiert stolziert sie zu Fritz, führt ihm die herrlichen Sachen vor, die sie gerade bekommen hat. Fritz zeigt sich beeindruckt, bewundert gebührend ihr Aussehen.

Das kleine Mädchen kann nicht ahnen, daß dies für viele Jahre der letzte Geburtstag sein wird, den die Eltern mit ihr unbeschwert im Frieden feiern können. In rund vier Monaten wird Hitler eine Offensive gegen Polen starten, die nahtlos in den Zweiten Weltkrieg mündet. An einem beschaulichen Spätsommertag, einem Freitag, ist es dann soweit. Die Waffen, die seit über zwanzig Jahren in Europa geschwiegen haben, sprechen wieder ihre Tod und Verstümmelung bringende Sprache. Der Wahn Hitlers schafft sich ein mörderisches Ventil. Mit Frankreich und Großbritannien möchte er keinen Krieg anfangen. Mit seinem Pendant in der Sowjetunion, Stalin, hat er vorab bereits heimlich einen Pakt geschlossen. Beide Diktatoren verbindet die grausame Vorstellung, Werkzeug einer unbesiegbaren Ideologie zu sein. Polen, das Objekt ihrer gemeinsamen Begierde, sieht den Angriff der Wehrmacht voraus. Deren Regierung ist aber felsenfest davon überzeugt, in maßloser Selbstüberschätzung und im Vertrauen auf ihre mächtigen Verbündeten Frankreich und Großbritannien, die Deutschen in kürzester Zeit zurückzuschlagen, sie bis nach Berlin zu jagen. Viele Polen teilen diese Einschätzung ihrer Führungsschicht. Entsprechend frenetisch ist in Warschau in großen Teilen der Bevölkerung der anfängliche Jubel, als die deutschen Truppen schließlich angreifen. Dagegen ist der überwiegende Teil der Deutschen weitaus weniger begeistert. Sie haben schlichtweg Angst, noch viel zu frisch sind die Schrecken und Leiden des letzten Krieges im Bewußtsein der erwachsenen Bevölkerung verankert.

Die Nachricht vom Krieg verbreitet sich wie ein Lauffeuer von Kahn zu Kahn. Auf der ´Minerva´ ist es das einzige Gesprächsthema beim gemeinsamen Mittagsmahl. „Ich hab´s kommen seh´n“, meint Hedwig niedergeschlagen. Hans verbreitet am Tisch Optimismus. „Ich glaub´, wir werden siegen und die Franzmänner haben bestimmt keine Lust, wegen der Pollaken einen Krieg mit uns zu riskieren. Im Übrigen…“ „Das denk´ ich auch“, fällt ihm sein Vater ins Wort. „Polen ist weit weg und die Franzmänner haben sogar beim Konflikt um das Rheinland gekuscht, als es um ihre eigenen Interessen ging. Warum sollten sie nun wegen den Pollaken plötzlich anders handeln?“ „Wenn sie uns aber doch angreifen“, entgegnet Hedwig ängstlich. „Das verhüte Gott, die Grenze verläuft verdammt nah beim Rhein ….“, entfährt es Hans, mit diesen Worten seine wahre Gemütslage offenbarend, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, seine Beklommenheit nicht zu zeigen. Er stockt und spricht nicht weiter. „Wir müssen in erster Linie an Ilse denken. Meint ihr, sie is´ auf dem Schiff oder an Land sichrer aufgehoben?“ Während Hedwig das die Männer fragt, streichelt sie ihrem Töchterchen sorgenvoll über die pausbäckigen Wangen. Die Kleine spürt die Aufregung der Erwachsenen und erfaßt intuitiv die Gefahr. Den abstrakten Begriff Krieg kann sie sich aber nur personifiziert vorstellen. „Krieg mag ich nich´. Großvater mach´, daß er nich´ auf unser Schiff kommt.“ Trotz der ernsten Situation muß Heinrich bei diesen Worten seiner Enkelin schmunzeln. „Ich werd´ Kobold befehlen, ihn zu beißen, wenn er es wagen sollte, das Schiff zu betreten“, geht er mühsam scherzend auf die Forderung ein. An seine Schwiegertochter gerichtet meint er: „An Land, bei Henriette, seid ihr meiner Meinung nach besser aufgehoben. Vielleicht greifen die Franzmänner unsere Rheinhäfen mit Jagdflugzeugen an, falls es doch mit ihnen zum Krieg kommen sollte.“ Hedwig erschrickt und unkt: „Ich hab´ gelesen, sie hätten Giftgasbomben entwickelt, die noch weitaus verheerender sei´n, als alles was im letzten Krieg eingesetzt wurde.“ „Einen Gaskrieg halt´ ich für unwahrscheinlich, den überlebt doch niemand, weder Freund noch Feind. Das sollten alle Länder aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt haben.“ Mit dieser Einschätzung will Hans Zuversicht demonstrieren und seine Frau beschwichtigen. „Aber ich stimm´ Vater zu, es wär´ mir auch lieber, du gingest mit Ilse vorerst an Land.“

Drei Tage darauf tritt das ein, wovor sich die Deutschen am meisten fürchten, Großbritannien und Frankreich erklären dem Reich den Krieg. Aber es kommt vorerst anders als allgemein erwartet. Die deutschen Panzer überrollen Polen in wenigen Wochen und kurz vor der polnischen Kapitulation marschieren überraschend die Sowjets von Osten in Polen ein, um ihren vorab vereinbarten Anteil an der Beute in Besitz zu nehmen. Trotz der mißlichen Lage ihres polnischen Verbündeten kann sich die französische Regierung zu keiner umfangreichen Kampfhandlung entschließen. Die französische Armee rückt gegen hinhaltenden Widerstand schwacher deutscher Einheiten ein paar Kilometer auf pfälzisches Gebiet vor und besetzt einige Dörfer. Kaum hat Polen kapituliert, ziehen sie sich wieder auf französischen Boden zurück. Bereits nach einem Monat scheint das Schreckgespenst eines großen Krieges gebannt zu sein. Auch Hitler verspürt keine rechte Lust, Frankreich anzugreifen. Er schickt Diplomaten und bietet einen Waffenstillstand an. Die Franzosen wollen annehmen, aber die englische Regierung überredet ihren Bündnispartner, nicht auf die Friedensangebote des Dritten Reiches einzugehen. So kommt es zu der paradoxen Situation, daß weiterhin Krieg herrscht, aber niemand ernsthaft kämpft.

Anfang Oktober kehrt Hedwig mit ihrer Tochter auf die ´Minerva´ zurück. Jeder auf dem Kahn ist erleichtert. Fritz ist froh, nicht mehr kochen zu müssen. Dennoch wurmt es ihn, daß alles vorbei sein soll, allzu gerne hätte er sich freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet. Der Alltag hat sie bald wieder im Griff. Das Leben der Deutschen ändert sich kaum, da die Volkswirtschaft längst auf Kriegsproduktion umgestellt ist, etliche Konsumgüter bereits vorher streng rationiert waren. Einzig die geplante Massenproduktion eines sogenannten Volkswagens wird mit sofortiger Wirkung auf Eis gelegt. Was aber nur diejenigen stört, die auf das Auto bereits eine Anzahlung geleistet haben und ihr Geld nicht wieder erstattet bekommen. Jegliche private Bautätigkeit ist schon geraume Zeit mangels zugeteilter Baustoffe weitgehend zum Erliegen gekommen. Außerdem existiert ein staatlich verordneter Lohn- und Preisstop. Für alle Unternehmen gibt es strenge Ex- sowie Importbeschränkungen. Darüber hinaus darf kein Arbeiter oder Angestellter ohne eine Genehmigung der Behörden seine Arbeitsstelle wechseln. Der Arbeitskräftemangel hat sich dramatisch verschärft. Zum Trost laufen aber die Geschäfte hervorragend. Alle Fabriken produzieren am Rande ihrer Kapazitäten und das kommt auch dem Transportgewerbe zugute. Die Eisenbahn stellt die schärfste Konkurrenz für die Rheinschiffahrt dar, aber glücklicherweise gibt es genügend Aufträge für beide Transportmittel.

So verläuft der Winter in Mitteleuropa ohne dramatische Schlachten. An der deutsch-französischen Grenze frieren die Soldaten und langweilen sich in ihren Bunkern. Nur einer im Osten nutzt die Gunst der Stunde. Stalin läßt seine Armeen gegen Finnland marschieren und befiehlt, die kleinen baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu okkupieren, nachdem sich diese standhaft geweigert hatten, der Sowjetunion auf ihrem Territorium Militärstützpunkte einzuräumen. Weder Frankreich noch England oder sonst eine Demokratie im Westen halten es aber in diesen Fällen für nötig, der Diktatur Stalins ebenfalls den Krieg zu erklären. Erst im Frühjahr ist es vorbei mit der trügerischen Ruhe. Hitler gibt seinen Generälen die Anweisung, Dänemark und Norwegen einzunehmen, um einer drohenden englischen Invasion zuvorzukommen.

Fritz stürmt atemlos auf den Kahn. Er ist gerade von einer Besorgung an Land zurückgekehrt. Als erstes trifft er auf den Schiffsführer. „Junge was is´ los, hast du etwa den Leibhaftigen geseh´n?“, fragt Heinrich teils amüsiert teils besorgt. „Nein den nich´ gerade, aber sie kämpfen“, stößt er kurzatmig hervor. „Wer kämpft gegen wen?“, will Heinrich wissen, nun weit mehr besorgt als amüsiert. „Die Wehrmacht hat heut´ früh die Grenze nach Belgien überschritten. Unsere Panzerdivisionen sollen schon ganz weit vorgedrungen sein.“ Heinrichs Gesichtszüge verkrampfen sich schlagartig. Vor seinem geistigen Auge steigen die Millionen Menschen zermalmenden Materialschlachten des letzten Krieges auf. Er erinnert sich nur allzu gut an die trostlosen schlammigen Schützengräben und daran, wie sich seine Kameraden und er während der mörderischen Trommelfeuer tief hinein in den Dreck Flanderns geschmiegt hatten, mit gespitzten Ohren auf das Geräusch der heranpfeifenden Granaten achtend. „Wenn das mal gut geht“, sagt er nur. „Aber sicher, unsere Soldaten sind die besten der Welt. Uns kann niemand schlagen“, gibt Fritz unbekümmert von sich. „Hoffentlich hast du recht“, knurrt Heinrich. „Mit was hat Fritz hoffentlich recht?“, will Hedwig wissen, die soeben in Hörweite gekommen ist. „Unser Führer hat beschlossen, die Schande von Versailles zu rächen. Seit dem frühen Morgen bringen wir den Franzmännern und den Tommies das Laufen bei“, gibt Fritz fröhlich Auskunft. „Um Gottes Willen, ich hatt´ so gehofft, daß der Konflikt doch noch friedlich beigelegt würde“, entgegnet Hedwig entsetzt. „Unser junger Heißsporn hat nicht die geringste Ahnung, was Krieg wirklich bedeutet. Ich wünsch´ ihm, daß er ´s auch nie am eigenen Leib erfahren muß“, sagt Heinrich trocken. Fritz erwidert nichts, denkt aber: ´Kein Wunder, daß die Alten mit ihrer Verzagtheit den letzten Krieg verloren haben.´ Für eine ausführlichere Unterhaltung bleibt keine Zeit. Heinrich mahnt: „Krieg hin oder her, wir haben nicht weniger zu tun.“ Mit diesen energischen Worten beendet er die kleine Versammlung und jeder geht, seinen Gedanken nachhängend, wieder an die Arbeit.

Zwei Monate später wird Fritz vor die zuständige Musterungskommission seiner Heimatgemeinde gerufen und für kriegstauglich befunden, aber vorerst vom Militärdienst zurückgestellt, da Heinrich nachweisen kann, daß sein Matrose auf dem Kahn unentbehrlich ist. Im Übrigen wird der Frankreichfeldzug unerwartet schnell erfolgreich beendet und das englische Expeditionskorps flieht geschlagen über den Ärmelkanal. Das Schicksal gibt ihm, so denkt Fritz betrübt, einfach keine Chance zu zeigen, was für ein toller Marinesoldat er wäre.

Der Sommer ist heiß und schwül, öfters entladen sich schwere Gewitter über dem trockenen Land und bringen für einige Stunden die ersehnte Abkühlung. Fritz schleppt zur Schlafenszeit seinen Strohsack an Deck. In seiner Kajüte ist es fürchterlich stickig. Falls ihn in der Nacht ein Gewitterregen überrascht, muß er sich schleunigst in seine Koje zurückziehen. Dort stellt er sich in seiner naiven Phantasie vor, wie er als Soldat an der Front in einem Bunker liegt, während draußen der Geschützdonner über ihn hinwegrollt. Das laute Prasseln der Regentropfen auf die Planken des Schiffes wird in seiner Vorstellung zum heftigen Maschinengewehrfeuer, das wirkungslos an den Betonwänden seines Unterstandes abprallt. Mit einem wohlig schaurigen Gefühl in der Magengegend schläft er ein. Für Hedwig ist das ohrenbetäubende Krachen im Gefolge der Blitze weitaus weniger spannend. Ihre Tochter Ilse wird davon wach und weint. Die Mutter hat Mühe ihr Kind zu beruhigen. Hundemüde sinkt sie, nachdem Ilse endlich wieder eingeschlafen ist, erneut neben ihrem Mann ins Bett. Hans hat einen bärentiefen Schlaf und bekommt von alledem nichts mit. Dies ergrimmt seine Frau, manchmal wünscht sie sich, auch sie hätte einen solch sorglosen Schlaf. Aber dann beim Aufwachen am nächsten Morgen unterläßt sie es, ihm deshalb Vorhaltungen zu machen. Ihre Verärgerung hat sich verflüchtigt. Warum sollte sie ihn wachrütteln? Was wäre damit gewonnen?, fragt sie sich. Solange ihre Tochter weint und sich ängstigt, könnte sie sowieso kein Auge zumachen.

Im Herbst beschließt Mussolini, der engste Verbündete des Führers, den glänzenden Erfolgen der deutschen Militärmaschinerie nachzueifern, um der Welt zu beweisen, daß auch Italiener es verstehen zu siegen. Der Duce befiehlt den Angriff auf Griechenland. Nach minimalen Erfolgen werden seine Armeen bald in die Flucht geschlagen und die listigen Griechen gehen im Winter, unterstützt von englischen Soldaten, zur Offensive über. Hitler ist stinksauer, er hat ganz andere Pläne und die eigenmächtigen Eskapaden seines Gesinnungsgenossen passen ihm überhaupt nicht ins Konzept. Aber er will auf keinen Fall riskieren, daß in Südeuropa die Erdölfelder der mit ihm verbündeten Rumänen in die Reichweite englischer Bomber geraten. Denn Rumänien ist, außer der Sowjetunion, sein einziger Erdöllieferant. Zähneknirschend befiehlt er Anfang April seinen Generälen, Mussolini zu Hilfe zu eilen. Die Wehrmacht greift Jugoslawien an und besetzt es zügig. Bald muß Griechenland vor der aus Norden heranrückenden Übermacht deutscher Soldaten kapitulieren.

Fritz hat inzwischen jegliche Hoffnung verloren, jemals als Marinesoldat eingezogen zu werden. Er hatte davon geträumt, hochdekoriert heimzukehren, Hedwigs bewundernde Blicke zu ernten und von ihr vielleicht heimlich geküßt zu werden. Jedesmal wenn neue Kampfhandlungen ausbrachen, wartete er sehnsüchtig darauf, zu den Waffen gerufen zu werden und jedesmal war Deutschland nach kürzester Zeit ohne sein geringstes Zutun auf den Schlachtfeldern siegreich geblieben. Aber manchmal trifft im Leben das heiß Ersehnte genau dann ein, wenn man es schon gar nicht mehr erwartet. Die Wünschenden sind hocherfreut, obwohl es für sie nicht selten erheblich vorteilhafter wäre, das Begehrte würde nie Wirklichkeit.

Anfang Juni erreicht Fritz im Duisburger Hafen ein Brief seines Vaters. Darin beigelegt ist ein Schreiben der Behörden, mit dem er aufgefordert wird, sich in genau vierzehn Tagen bei der örtlichen Kommandantur zu melden, um seinen Militärdienst anzutreten. Als der Brief in die Hände von Fritz gelangt, hat er nur noch achtundvierzig Stunden Zeit, dem Befehl Folge zu leisten. Sollte er diese Frist aus irgendeinem selbst verschuldeten Grund verstreichen lassen, würde er als Fahnenflüchtiger betrachtet und ihm drohe die Todesstrafe. So steht es jedenfalls fett geschrieben auf dem Einberufungsbescheid. Aber Fritz hegt keinerlei Absichten, sich dieser staatlichen Zwangseinladung zu entziehen. Im Gegenteil, kaum hat er den Brief seines Vaters bis zum Ende durchgelesen, in dem ansonsten nur einige Belanglosigkeiten mitgeteilt werden, läuft er sofort zu Heinrich und überreicht ihm breit grinsend das graue Blatt Papier der Staatsgewalt. Heinrich überfliegt den Brief und gibt ihn wortlos zurück. „Ich freu´ mich darauf Soldat zu werden und werd´ allen beweisen, wie tapfer ich bin“, verkündet Fritz mit vor Stolz geschwellter Brust. „Hauptsache, du bleibst mir am Leben und kommst mit heiler Haut zurück“, meint Heinrich lakonisch. Für ein längeres Gespräch bleibt keine Zeit. Fritz muß seine Habseligkeiten bündeln und umgehend zum nächsten Bahnhof eilen, will er noch rechtzeitig einen Zug nach Hause erwischen. Da im Moment keine unaufschiebbaren Arbeiten zu erledigen sind, begleiten ihn Heinrich, Hans und Hedwig, mit Ilse an der Hand, zum Bahnhof. Allein Kobold bleibt als symbolische Wache auf dem Kahn zurück. Am Bahnsteig angelangt, ist Fritz doch ein bißchen sonderbar zumute. Schließlich hat er einen nicht unbeträchtlichen Teil seines bisherigen Lebens mit den vor ihm stehenden Menschen auf engstem Raum verbracht. „Falls dir nach dem Ende des Gemetzels uns´re Schifferwelt nicht zu eintönig erscheint, kannst du jederzeit bei mir wieder anheuern“, eröffnet Heinrich die Verabschiedungszeremonie. Umständlich kramt er aus seinem Portemonnaie einen 10-Mark-Schein hervor und drückt ihn Fritz in die Hand. Dieser ist sprachlos, denn Anspruch hätte er nur auf einen halben Wochenlohn in Höhe von drei Mark. „Ich war mit deiner Arbeit stets zufrieden“, begründet Heinrich seine Großzügigkeit. Auch Hans schüttelt ihm zum Abschied herzlich die Hand. Seine aufkeimende Eifersucht der letzten Jahre ist vergessen. „Ich hab´ gern mit dir zusammengearbeitet“, sagt er und meint es auch so. Hedwig überreicht Fritz eine braune Papiertüte. Darin hat sie eine dicke Butterstulle und Obst verpackt. „Du sollst mir unterwegs nicht verhungern“, meint sie traurig lächelnd. In ihren Augen ist er noch immer der etwas zu groß geratene Junge, den man ruhig ein wenig bemuttern darf. Der Abschied von Hedwig fällt Fritz bei weitem am schwersten. Am liebsten würde er es laut hinausposaunen, wie sehr sie ihm fehlen wird. Aber als er den Mund aufmacht und spricht, hören die Umstehenden nur ein höfliches „Vielen Dank.“ Kurz bevor der Bahnhofsvorsteher die grüne Kelle hebt und mit der Trillerpfeife das Signal zur Abfahrt gibt, geht Fritz vor Ilse in die Knie, um auch von ihr Abschied zu nehmen. Die Kleine zieht die bunte Haarschleife hervor, jene, die sie an ihrem dritten Geburtstag geschenkt bekam, und hält sie Fritz mit den Worten hin: „Da, die geb´ ich dir.“ Fritz ist baff. „Du kannst mir doch nich´ deine Lieblingsschleife schenken“, wehrt er ab. „Bitte nimm sie! Du biz mein bester Freund.“ Die Eltern von Ilse lächeln und ihr Großvater scheint gerührt. „In Ordnung, wenn du´s unbedingt willst. Ich werd´ sie immer bei mir tragen, das versprech´ ich dir.“ Hedwig ist von der selbstlosen Geste ihrer Tochter beeindruckt. „Hoffentlich bringt dir die Schleife Glück“, bemerkt sie zu Fritz. Nach der Abfahrt des Zuges winkt die Familie noch so lange, bis Fritz in einer Kurve am Ende des Bahnsteiges ihren Blicken entschwindet.

Auf dem Rückweg zum Hafen diskutieren die drei erwachsenen Schifferleute das Problem, wie man den fehlenden Matrosen ersetzen soll. Die bewährte Lösung, Henriette erneut auf den Kahn zu bitten und Hedwig wieder als Schmelzer fahren zu lassen, lehnt sowohl Heinrich als auch Hans vehement ab, allerdings mit durchaus unterschiedlichen Argumenten. Heinrich ist der Ansicht, daß seiner Schwester eine solch anstrengende Arbeit auf dem Schiff in ihrem Alter nicht mehr zugemutet werden könne. Wobei Hedwig eher den Verdacht hegt, der Schwiegervater ertrüge es nur schwer, wenn seine energische Schwester für unbestimmte Zeit auf dem Kahn mitfahren würde. Hans hingegen erklärt langatmig, man solle doch bedenken, daß Ilse in einem guten Jahr eingeschult werde. Dann müßten sie gezwungenermaßen schon wieder nach einer anderen Lösung Ausschau halten, falls bis dahin der Krieg nicht beendet sei. Hedwig und er seien sich nämlich einig, Ilse nicht in ein Schifferkinderheim zu stecken, sondern im Heimatort in die Schule zu schicken. Dazu wäre es dann allerdings nötig, daß Henriette oder Hedwig an Land bliebe. Jedoch vermutet seine Frau im Stillen auch bei Hans andere Motive. Sie argwöhnt, daß ihn heftige Skrupel bei dem Gedanken plagen, seine Frau als Lehrling neben sich zu haben und mit ihr weitgehend die gleichen Arbeiten zu verrichten. Heinrich entscheidet sich schließlich dafür, bei offiziellen Stellen um einen neuen Schiffsjungen oder Matrosen nachzusuchen.

Kaum sind alle auf das Schiff zurückgekehrt, von Kobold überschwenglich begrüßt, macht sich Heinrich auf den Weg zu den Behörden. Dort steht man dem Wunsch nach einem Ersatz aufgeschlossen gegenüber, verspricht dem Schiffsführer die Personallücke baldmöglichst zu schließen, da sein Transportmittel als kriegswichtig eingestuft sei.

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