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3. Kapitel
ОглавлениеDie Behörden setzen Hans offiziell auf eine Vermißtenliste. Heinrich, Hedwig und Henriette hoffen inständig, daß er vielleicht doch noch in irgendeinem der provisorisch errichteten Gefangenenlager entdeckt wird.
Heinrich fehlt für eine komplette Mannschaft aber ein weiterer Matrose oder zumindest ein Schmelzer. Hedwig bietet sich an, ihre Ausbildung zum Rheinschiffer fortzusetzen, bis Hans zurückgekehrt ist. Die Wohnverhältnisse auf dem Kahn ändern sich. Hedwig zieht bei ihrem Schwiegervater ein und belegt in der Roef die Lotsenkammer. Dadurch stehen Herrn Carsten die Räumlichkeiten im Bug des Schiffes allein zur Verfügung und so hat er in den Schulferien die Möglichkeit seine Familie an Bord zu holen. Endlich kann die ausreichend bemannte ´Minerva´ wieder Güter transportieren. Der Kahn legt mit einer Ladung Steinkohle in Duisburg ab. Sämtliche Brücken über den Fluß wurden am Ende des Krieges zerstört und ihre Trümmer versperren immer noch die Fahrrinne. Man hat Lücken geschaffen, aber die können nur im Einbahnverkehr durchfahren werden. Es kommt an den jeweiligen Engstellen zu langen Verzögerungen und die Fahrtzeiten der Schleppzüge verdoppeln sich beinahe. Darüber hinaus wurden auch neue Grenzen errichtet. Auf seinem Weg von Basel in die Niederlande durchquert der Strom die französische, amerikanische und englische Zone, überall wird ausgiebig kontrolliert. Bei der Rückkehr des Bootes in den englischen Besatzungsbereich nehmen es die deutschen Zöllner, unter Aufsicht der alliierten Strompolizei, besonders genau. Heinrich hat ein reines Gewissen. ´Sollen sie nur alles durchsuchen. Ich hab´ nichts zu verbergen´, denkt er sorglos. Einer der Zöllner nimmt sich die Roef vor. Es dauert nicht lang und er erscheint wieder an Deck. In der Hand hält er eine Pistole samt Munition. „Gehört das ihnen?“, fragt er mit strenger Amtsmiene den Partikulier. Heinrich erschrickt, es ist die Pistole, die er damals von der SS erhalten hatte, deren Existenz ihm, bei all den Sorgen, völlig entfallen war. “Ja, die Pistole gehört mir“, gibt er kleinlaut zu. „Der Besitz von Schußwaffen ist Zivilisten strengstens verboten. Sie werden sich dafür zu verantworten haben“, klärt der Zöllner ihn unerbittlich auf. Die Waffe wird konfisziert und Heinrich entgeht nur knapp seiner sofortigen Verhaftung. Einen Monat später muß er zur Gerichtsverhandlung erscheinen. Die Beweislage ist eindeutig und sein Geständnis liegt vor. Der Einwand Heinrichs von einem Verbot nichts gehört oder gelesen und an die Waffe überhaupt nicht mehr gedacht zu haben, wertet das Gericht als pure Schutzbehauptung. Nach einer knapp halbstündigen Verhandlungsdauer wird Heinrich zu einer Geldstrafe von fünftausend Reichsmark verurteilt. Die Strafe fällt vergleichsweise milde aus, betont der Richter, weil der Verurteilte bisher ein Leben als unbescholtener Bürger geführt habe. Sollte er aber nicht bezahlen können, drohen ihm ersatzweise sechs Monate Gefängnis. Wütend vernimmt Heinrich den Urteilsspruch. ´Erst nötigen sie mir ungewollt eine Pistole auf und kaum haben sich die Machtverhältnisse da oben geändert, drehen sie einem einen Strick draus´, denkt voller Ingrimm der Verurteilte. Zusammen mit den Gerichtskosten muß der Partikulier fast sechstausend Reichsmark hinblättern. Über solch eine Summe verfügt er nicht mehr, sämtliche Ersparnisse sind komplett in die Reparatur seines Kahns geflossen. Falls er aber einsitzen müßte, wäre er ruiniert. Mit Mühe findet Heinrich eine Bank, die ihm das Geld gegen stattliche Zinsen leiht. Als Sicherheit für den Kredit muß er dem Institut sein Boot verpfänden. Nun kommt zu allem übrigen Ungemach noch ein Berg Schulden hinzu. In der folgenden Zeit reichen die Einnahmen seines Unternehmens haarscharf aus, um die Bankzinsen, die Heuer für Herrn Carsten und die laufenden Aufwendungen für den Schiffsbetrieb zu decken. Ab jetzt darf nicht mehr das Kleinste passieren, sonst ist Heinrich endgültig bankrott. Diese wenig rosigen Aussichten bereiten ihm schlaflose Nächte und unruhige Tage.
Der Winter bricht an, Ilses Grundschulzeit geht zu Ende. Sie hatte, nach dem Weggang der Mutter, unter der alleinigen Obhut von Henriette gelebt, das wird sich nun ändern. Ilse ist eine hervorragende Schülerin und darf auf die Mittelschule wechseln. Eine solche Schule für Mädchen gibt es im Umfeld ihres Dorfes nicht. Deswegen schickt man sie nach Mannheim auf das katholische Luiseninstitut. Mit Beginn des nächsten Schuljahres soll sie Zögling des Fröbelseminars werden, dem provisorischen Kinderschifferheim der Luisen-Stephanien-Stiftung, das von Ordensfrauen geführt wird. Einzig ihre Winter- und Osterferien kann Ilse zukünftig bei Henriette im Dorf verbringen. Während der Sommer- und Herbstferien soll sie dagegen auf dem Schiff mitfahren.
Die Anpassung an das Heimleben fällt dem Mädchen ziemlich schwer, denn Ilse ist es gewöhnt, ein Zimmer für sich allein zu haben. Dort muß sie in einem großen Saal mit neunzehn anderen Schülerinnen schlafen. Es gibt, außer dem Klo, keinen einzigen Ort, an dem man für sich sein kann. Diese Zustände kennt Ilse allerdings von ihren Fahrten auf dem Kahn. Anfangs sind ihr die Nonnen nicht ganz geheuer, ihre bodenlange dunkle Tracht mit den weißen Krägen und den gestärkten, spitz aufragenden großen Hauben schüchtern sie mächtig ein. Aber die Frauen der heiligen Mutter Kirche geben sich redlich Mühe, alle sind nett zu den Kindern. Darüber hinaus hat die dicke Schwester Aloysia an Ilse einen besonderen Narren gefressen, augenzwinkernd reicht sie dem Kind am gemeinsamen Mittagstisch des öfteren eine zweite Portion Nachtisch. Auch insgesamt ist das Essen abwechslungsreicher, als es in den letzten beiden Jahren zu Hause war. Ilses beste Note in der Grundschule war Rechnen gewesen, in der Mittelschule wird es sofort wieder zu ihrem Lieblingsfach. Am allerwenigsten mag sie Handarbeiten. Sie interessiert sich eher für technische Dinge, doch fördert man das in der Mädchenschule nicht.
Der Winter gestaltet sich für die Menschen noch katastrophaler als der Letzte. Die kargen Lebensmittelrationen werden von den Siegermächten weiter gekürzt, als Begründung führen sie an, daß es eine weltweite Lebensmittelknappheit gäbe. Besonders die Stadtbevölkerung leidet unter der Hungersnot dramatisch. Alte und Kranke sterben weg wie die Fliegen. Als die ´Minerva´ im Dezember am Kai von Köln festmacht, liegt unmittelbar vor ihr ein holländischer Kahn Namens ´van Rick´. Ein zweiter Kahn ist im Begriff längsseits des Holländers zu gehen. Im spitzen Winkel steuert er auf die ´van Rick´ zu. Heinrich beobachtet das Manöver, zusammen mit seinem Matrosen. „Oh, wenn das man gut geht“, meint er zu Herrn Carsten gewandt. „Der hat viel zu viel Fahrt drauf“, pflichtet ihm dieser bei. Ihre Erfahrung täuscht sie nicht. Sekunden später bohrt sich der Bug krachend in die Backbordseite des holländischen Kahns. Zwei Ladebuchten der ´van Rick´ schlagen leck. Sie hat in Jutesäcke verpackten Rohrzucker aus Kuba geladen. Eine Menge Säcke sind aufgeplatzt. In den beschädigten Laderäumen verbindet sich der Rohrzucker mit dem Rheinwasser zu einer bräunlichen Brühe. Das Schiff wird geleichtert. Alle trockenen Jutesäcke, von denen jeder einen Zentner wiegt, müssen einzeln von Hand umgeladen werden. Das ist schwerste Knochenarbeit für die abgemagerten Hafenarbeiter. Der im Wasser gelöste Rohrzucker in den zwei Laderäumen ist für die Eigentümer der Ladung wertlos, aber keinesfalls für hungernde Menschen. Hafenarbeiter und Schaulustige bestürmen den Ordermann der Reederei sowie die Polizei, daß man ihnen erlauben möge, die trübe Zuckerbrühe für den eigenen Gebrauch abzuschöpfen. Die Erlaubnis wird großzügig erteilt. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht in der Stadt. Heinrich, Hedwig und Herr Carsten beobachten eine dichtgedrängte Karawane, die sich zwischen Kai und dem holländischen Kahn hin und her bewegt. Die Menschen schleppen die süßliche Brühe in Milchkannen, Eimern, sogar kleineren Fässern davon. Hedwig als auch Herr Carsten machen sich mit Kochtöpfen bewaffnet auf den Weg, eilig bemüht, sich ihren Anteil an dem begehrten Naß zu sichern. Das ist gefahrvoll, denn die ausgehungerten Menschen schubsen und stoßen gnadenlos, jeder befürchtet, nichts mehr von der begehrten Zuckerbrühe zu ergattern. Um ein Haar wird Hedwig von der Laufplanke ins Wasser abgedrängt, einzig das blitzschnelle Zupacken von Herrn Carsten bewahrt sie vor einem eiskalten Bad im Rhein. Anschließend kocht Hedwig die Brühe in der Roefküche ein. Das Wasser entweicht als Dampf und zurück bleibt eine zähe klebrige Masse, die als Ersatz für Zuckerrübensirup einen brauchbaren Brotaufstrich ergibt.
Im Januar als die ´Minerva´, wegen des üblichen Eisganges auf dem Strom, dazu verdammt ist volle zwei Wochen untätig in einem Hafen herumzuliegen, nutzt Hedwig die Gelegenheit, um Mutter und Schwester zu besuchen. Beide hat sie seit dem Umzug von Sieglinde nicht mehr gesehen. Private Eisenbahnfahrten, über die Grenzen der Besatzungszonen hinaus, sind endlich wieder möglich. Hedwig besteigt einen völlig überfüllten Zug. Sie kann froh sein, daß sie überhaupt in das Wageninnere gelangt. Teilweise klettern die Reisenden durch die Fenster in den Zug, weil Türen und Gänge hoffnungslos verstopft sind. Im Zugabteil ist eine bunte Mischung an Leuten zusammengepfercht. Da sitzen und stehen heimkehrende Kriegsgefangene, auf deren zerschlissenen Militärmänteln mit weißer Farbe ein PW gepinselt ist, was `Prisoner of War´ bedeutet, neben Frauen in Hedwigs Alter, von denen fast jede ein zu einer Art Turban gewickeltes Tuch auf dem Kopf trägt und die Weidenkörbe an ihre Brust gepreßt halten. Die Frauen sind auf Hamsterfahrt zu den Bauern. Im Abteil befinden sich auch zwei Halbstarke. Sie versuchen, das betont Lässige der amerikanischen Besatzungssoldaten nachzuahmen. Ein Mann hebt sich von den ausgemergelten Kriegsheimkehrergestalten deutlich ab, er ist gut genährt, Anzug und Mantel sind neu, die eleganten Lederschuhe blank gewienert. Hedwig kennt diese Figuren, es ist ein Schieber, ein Schwarzmarkthändler. Generös überläßt er einem der neben ihm stehenden älteren Ex-PW´ler eine Zigarette. Die Fahrt dauert lang. An jeder Station ergibt sich die gleiche Situation. Auf den Bahnsteigen drängen sich unzählige Menschen. Kaum ist der Zug eingefahren, versuchen die Massen die Waggons zu entern. Es herrscht ein unbeschreibliches Chaos. Erst gegen sieben Uhr abends, mit enorm viel Verspätung, erreicht Hedwig ihr angestrebtes Ziel. Man wartet sicherlich schon, denn sie hatte ihren Besuch brieflich angekündigt.
In dem Ort ihrer Kindheit und Jugend hat sich so gut wie nichts verändert. Auf den ersten Blick scheint die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Vor ihr zeichnet sich der bescheidene elterliche Hof im hellen Vollmondlicht scharf gegen die Dunkelheit ab. Hedwig läutet, gleich darauf öffnet sich die Tür. Sie steht ihrer Mutter und Sieglinde gegenüber. Beim Anblick der Mutter erschrickt Hedwig, noch bei ihrem letzten Besuch eine aparte und stattliche Frau, ist Ilse extrem gealtert, das Haar eisgrau, das Gesicht hager und faltig, auf ihren Handrücken zeichnen sich unter der blassen Haut violett schimmernde Adern ab. Die Schwester sieht dagegen unerwartet froh und lebendig aus. In der Stube wird Hedwig von Nichte Hildegard und dem Neffen Alfred stürmisch begrüßt. Beide Kinder sind ordentlich gewachsen. Am Tisch sitzend, vertilgen sie gerade mit Heißhunger ihr kümmerliches Abendbrot. Mit am Eßtisch sitzt ein fremder Mann. Sieglinde stellt ihn vor. „Das ist Herr König“, sagt sie. „Er war Soldat. Als man ihn aus der Gefangenschaft entließ, konnt´ er nicht mehr nach Haus´ zurück.“ Und erklärend fügt sie hinzu: „Er stammt aus dem Sudetenland.“ Hedwig erfährt weiter, daß Herr König seit sechs Monaten bei ihnen auf dem Hof lebt und arbeitet. Er hat mit großem Fleiß den vernachlässigten Weinberg wieder in Schuß gebracht. „Herr König hat ehrgeizige Pläne“, verkündet Sieglinde. „Er möcht´ unbedingt weitere Flächen hinzupachten, denn er glaubt fest an die Zukunft des Weinanbaus.“ Obwohl ihre Schwester den Sudetendeutschen mit seinem Nachnamen anspricht, kann sich Hedwig nicht des Eindrucks erwehren, daß Sieglinde mit diesem Herrn mehr verbindet als nur eine Arbeitsbeziehung. Sie findet den Fremden durchaus sympathisch. Er wirkt sehr dynamisch. Hedwig schätzt ihn auf Anfang dreißig. Der Mann hat ein gewinnendes Lächeln und scheint kein Kind von Traurigkeit zu sein, unterhaltsam erzählt er von seiner ehemaligen Heimat. Nur einmal, als Herr König berichtet wie seine Eltern bei einem Unfall kurz vor dem Krieg ums Leben gekommen sind, wird sein Gesicht ernst und nachdenklich. Von einer Frau oder Kindern erwähnt er nichts. Hedwig ist müde, abgespannt von der langen unbequemen Fahrt. Sie geht zeitig schlafen. Am nächsten Morgen ergibt es sich, daß sie mit ihrer Schwester allein im Haus ist. Die Kinder sind auf dem Weg zur Schule, die Mutter in der Kirche und Herr König hält sich in der angrenzenden Scheune auf. Er versucht dort seit Tagen, eine Maschine zu reparieren. „Hast du irgendeine Nachricht von deinem Mann?“, beginnt Hedwig das Gespräch. „Vor ungefähr drei Monaten kam eine Karte aus Sibirien, darin stand, er müsse in einem Bergwerk arbeiten, Wiedergutmachung leisten, hoffe aber, in nich´ allzu ferner Zukunft aus der Gefangenschaft entlassen zu werden.“ Der Tonfall dieser Antwort erscheint Hedwig eine Spur zu sachlich. „Mehr hat er nich´ geschrieben?“, fragt sie. Zögernd kommt die Antwort: „Doch …, er schrieb auch, er vermisse mich und die Kinder sehr. Aber sag, gibt´s ein Lebenszeichen von Hans?“ Hedwig spürt, daß Sieglinde nicht gern an Walter erinnert werden möchte. „Nein, absolut nichts. Mein Schwiegervater hat sich überall in Duisburg umgehört, niemand konnte ihm zum Verbleib von Hans irgendeinen Hinweis geben. Vor dem Einschlafen schick´ ich jeden Abend ein Stoßgebet zum Himmel, Hans möge leben und bald gesund zurückkehren. Wir wollten ein zweites Kind, hatten aber beschlossen damit zu warten, bis die Umstände friedlicher wär´n.“ Tiefe Traurigkeit schwingt im letzten Satz von Hedwig mit. „Mir hätt´ ein Kind völlig gereicht. Mein Sohn hat mich bei der Geburt fast das Leben gekostet“, meint Sieglinde nüchtern. Hedwig seufzt: „Ilse ist seit Anfang des Jahres im Kinderheim. In Zukunft werd´ ich sie nur noch in den Ferien seh´n.“ Sieglinde verdreht die Augen. „Ich bin so froh, daß meine Gören aus dem Gröbsten raus sind und ganz bestimmt nicht unglücklich, wenn sie in ein paar Jahren ihre eigenen Wege geh´n.“ ´Wie verschieden wir doch denken, obgleich wir Geschwister sind´, wundert sich Hedwig und fragt: „Ist denn Mutter keine Stütze für dich?“ „Muuutter!“, wiederholt Sieglinde überlaut und zieht dabei die erste Silbe betont in die Länge, während ein säuerliches Lächeln ihr Gesicht überzieht. „Sie war ja schon immer sehr katholisch, aber langsam is´ ihre Frömmelei schier nich´ mehr zu ertragen. Jeden Tag rennt sie in die Kirche, um den Rosenkranz zu beten. Mutter grämt sich von früh bis spät, was im Leben sie denn Unrechtes getan haben könnt´, daß Gott ihr solch ein Unglück geschickt hat. Sie sitzt stundenlang untätig in der Küche rum. Bitt´ ich sie beispielsweise beim Gemüseputzen zu helfen, dann trödelt sie dabei dermaßen, daß selbst meine faule Tochter die Arbeit schneller erledigt. Nein, nein! Im Gegenteil, Mutter is´ eher eine Belastung für uns.“ „Sie macht wirklich einen ziemlich angeschlagenen Eindruck“, gibt Hedwig zu und bemerkt nach einer Pause nachdenklich: „Ich kann mich noch gut an unseren Besuch bei deinem Schwiegervater erinnern. Nach dem Tod seiner Frau schien sein Lebenswille ebenfalls gebrochen.“ „Ach richtig, das weißt du gar nicht. Mein Schwiegervater ist Ende letzten Jahres gestorben. Bestimmt is´ es besser so.“ Warum dies besser sein soll, läßt Sieglinde offen und Hedwig denkt sich ihren Teil. „Oh, wie schade, er war ein ausgesprochen netter und herzlicher Mensch“, betont Hedwig und fragt: „Wart ihr denn alle auf seiner Beerdigung?“ „Ich bin allein dort gewesen. Mutter wollt´ ich diese Strapaze ersparen. Die Kinder waren auch nicht dabei, sonst hätten sie einen ganzen Tag Schule verpaßt.“ „Is´ sein Bruder gekommen?“, möchte Hedwig wissen. „Nein, ich hab´ keine Ahnung, wo er steckt und was aus ihm geworden ist“, sagt Sieglinde. Hämisch fügt sie hinzu: „Wahrscheinlich haben ihn die Russen aufgehängt.“ Vor Hedwigs geistigem Auge steigen die Bilder ihrer Berliner Reise hoch, schnell schüttelt sie diese Erinnerung wieder ab. Die Bilder erfüllen sie mit Bitterkeit und Schmerz.
Sie bleibt eine ganze Woche zu Besuch und macht sich im Haushalt nützlich. Nebenbei kann Hedwig ihre Mutter zweimal zu einem Spaziergang überreden, doch jedesmal ist Ilse schnell erschöpft und drängt ihre Tochter zur Umkehr. Hedwig gelingt es nicht, nicht einmal für einen kurzen Moment, die düstere Stimmung der Mutter zu verscheuchen.
Frau Schmid absolviert überdies eine Reihe von Höflichkeitsbesuchen in der Nachbarschaft und schaut bei ehemaligen Schulfreundinnen vorbei. Alles ist ihr immer noch sehr vertraut, doch zugleich so weit weg von ihrem jetzigen Leben. Sie geht am Sonntag mit in die Messe. In dieser Kirche hatte sie vor zwölf Jahren geheiratet. Hedwig kümmert sich auch um Nichte und Neffen, achtet darauf, daß sie ihre Hausaufgaben ordentlich erledigen. Es macht ihr Freude, den Kindern beim Lernen behilflich zu sein. Sieglinde ist dagegen weit mehr daran gelegen, daß Hildegard und Alfred bei der täglichen Hausarbeit tüchtig mit anpacken.
Der Aufenthalt im Elternhaus liegt Monate zurück, als Hedwig eines Tages einen Brief erhält. Der Name des Absenders und die Düsseldorfer Adresse sind ihr vollkommen unbekannt. Verwundert öffnet sie den mausgrauen Umschlag und beginnt die sauber geschnörkelte Schrift zu lesen:
Sehr geehrte Frau Schmid,
Sie kennen mich nicht. Ich bin, wie Ihr Mann, in der Endphase des Krieges zum Volkssturm eingezogen worden. Ihrem Mann Hans begegnete ich erst nach der Kapitulation in dem amerikanischen Lager Rheinberg. Die Wochen in diesem so genannten Gefangenencamp gehören zum Schlimmsten, was ich in meinem bisherigen Leben erlitten habe. Dieses Lager war einfach nur eine mit Stacheldraht eingezäunte Wiese in der Nähe des Rheinufers. Auf ihr lagerten dicht gedrängt, unter freiem Himmel, sicherlich mehrere zehntausend Landser neben blutjungen Hitlerjungen, Volkssturmleuten wie ich und vereinzelt sogar Frauen. Wir bekamen fast nichts zu essen und kaum Wasser. Ich sah Menschen, die halb wahnsinnig vor Durst versuchten, durch die Stacheldrahtrollen zum nahen Fluß zu gelangen. Sie wurden von den amerikanischen Bewachern kaltschnäuzig über den Haufen geschossen. Dann begann es des Nachts heftig zu regnen. Der Boden verwandelte sich bald in einen einzigen Morast. Ihr Mann und ich freundeten uns an. Wir teilten kameradschaftlich eine einzelne Zeltbahn, es war unser wertvollster Besitz. Alle im Lager bekamen die Ruhr und viele Typhus. Etliche Gefangene wurden so schwach, daß sie es nicht einmal mehr fertigbrachten, sich zu den offenen Latrinengruben zu schleppen. Sie lagen und schliefen in ihren eigenen Exkrementen. Eines Abends, die Amis hatten lautstark mit viel Alkohol gefeiert, kamen die Betrunkenen an den Stacheldraht gewankt und schossen mit ihren Maschinenpistolen wahllos ins Lager hinein. Es gab unzählige Tote und zahllose Verletzte. Auch die Verletzten starben. Zwar waren unter uns Gefangenen einige Ärzte, aber sie hatten absolut nichts, womit sie den Angeschossenen hätten helfen können. Vier Tage nach diesem grauenhaften Ereignis starb ihr Mann an den Folgen dieser unmenschlichen Behandlung. Ich war bis zuletzt an seiner Seite. Zwei Wochen nach dem Tod Ihres Mannes wurden die Überlebenden des Lagers den Franzosen übergeben. Sie verfrachteten mich und die restlichen Gefangenen in die Umgebung von Paris. Dort mußte ich zusammen mit einem anderen Kameraden bei einem Bauern Zwangsarbeit leisten. Die Bauernfamilie behandelte uns anständig, ihnen verdanke ich es, daß ich diese furchtbare Zeit überlebt habe. Vor einem Monat wurde ich dann aus der französischen Gefangenschaft entlassen und nach Hause geschickt.
Nach dem Tod Ihres Mannes nahm ich drei Gegenstände an mich: eine Photographie von Ihnen mit Ihrer Tochter auf dem Arm, den Ehering sowie einen Kamm. Ich wollte diese Dinge nicht mit der Post schicken, da sie verloren gehen könnten. Bitte teilen Sie mir mit, wie ich Ihnen diese Sachen zukommen lassen kann.
Mit aufrichtiger Anteilnahme
Ihr ergebener
Horst Tietze
Auf den Brief tropfen Tränen und verwischen die Tinte. Hedwig weint hemmungslos, nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich dermaßen elend gefühlt wie in dieser Stunde. Als sie später ihrem Schwiegervater den Brief vorliest, verwischen erneut Tränenströme die Schrift an weiteren Stellen. Heinrich hört mit unbewegter Miene zu und blickt starr geradeaus ins Leere. Keine einzige Regung an seinem Körper verrät die innere Verfassung. Erst lange danach fällt seiner Schwiegertochter und sogar Herrn Carsten auf, daß er von diesem Zeitpunkt an nie mehr über irgendwelche Pläne in Bezug auf sein bescheidenes Schiffahrtunternehmen gesprochen hat.
Tagelang kann Hedwig keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen, rein mechanisch, beinahe wie in Trance erledigt sie ihre Pflichten und nimmt die Umwelt wie durch einen dünnen Nebelschleier wahr, wird sie angeredet, kommt es ihr vor, als ob jemand von ganz weit her zu ihr spricht. Endlich rafft sich Hedwig dazu auf, Herrn Tietze zu antworten. Sie schreibt ihm, daß sie die Erinnerungsstücke am liebsten selber abholen möchte, könne ihm aber vorläufig noch nicht sagen, wann, da sie nicht wisse, zu welchem Datum die ´Minerva´ den Düsseldorfer Hafen anlaufen werde. Sie würde ihm aber auf jeden Fall rechtzeitig Bescheid geben und ihn bitten, ihr Mitteilung zu machen, falls sich seine Adresse bis dahin ändern sollte.
Als es so weit ist, geht Hedwig pochenden Herzens einen schweren Gang. In ein paar Minuten wird sie demjenigen Menschen gegenüberstehen, der ihrem Hans in seinen letzten Tagen und Stunden der einzige Freund war. An der angegebenen Adresse findet sie ein vierstöckiges Wohnhaus vor, das der Krieg teilweise zerstört hatte. Eines der Nachbarhäuser liegt vollständig in Trümmern. Im Treppenhaus fehlen die hölzernen Geländer und bei allen Wohnungen die Türen, auch sämtliche Glasscheiben der Fenster sind geborsten. Herr Tietze ist schätzungsweise um die sechzig, von gedrungener Gestalt, hat ein gutmütiges Gesicht mit einer Knollennase, eine Glatze und einen leichten Silberblick. Er und seine Frau begrüßen Hedwig auf das Herzlichste. Frau Tietze läßt es sich nicht nehmen, eine Kleinigkeit auf den Tisch zu stellen, obwohl die Ärmlichkeit ihrer Verhältnisse überdeutlich ist. Der Tisch bildet, zusammen mit vier wackligen Stühlen, einem Küchenbuffet und dem Ehebett an der Wand, die hauptsächliche Einrichtung des Raumes, der offensichtlich als Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer zugleich herhalten muß. „Ich bin von Beruf Straßenbahnfahrer“, beginnt Herr Tietze zu erzählen. „Als beinahe sämtliche Trambahnen und Schienenwege in Düsseldorf zerstört waren, beschloß Vater Staat in seiner unendlichen Güte mich zu den Fahnen zu rufen. Er dachte wohl, ich könnt´ das Kriegsglück noch einmal wenden.“ Unverhohlener Sarkasmus schwingt in seiner Stimme. „Wir haben es stets bedauert, keine Kinder bekommen zu haben, aber möglicherweise war das Schicksal nur gnädig mit uns. Denn wer weiß, vielleicht wären meine Söhne gefallen und unsere Töchter bei Bombenangriffen verbrannt.“ „Ich hab´ eine Tochter. Sie kennen sie ja von dem Bild her, das mein Mann immer bei sich getragen hat.“ Bei den letzten Worten muß sich Hedwig arg zusammenreißen, um nicht drauflos zu heulen. „Ihr Mann war ein echter Kamerad, man konnt´ sich auf ihn verlassen. Er hat alles mit mir geteilt. Da gab es in den Lagern auch andere, üble Subjekte, die haben ihre Kameraden bestohlen und bei der Lagerleitung angeschwärzt.“ „Mußte mein Mann sehr leiden, bevor er gestorben ist?“ „Hans hatte die Ruhr, ist schwächer und schwächer geworden. Die letzten Tage hab´ ich ihm beim Trinken die Feldflasche gehalten. In jener milden und klaren Nacht, in der er starb, lag er ruhig auf dem Rücken, blickte in den Sternenhimmel. Irgendwann fragte er mich unvermittelt: ´Horst, glaubst du, daß unsere Frauen jetzt auch die Sterne betrachten und an uns denken?´ “. Der letzte Satz prägt sich Hedwig unauslöschlich ins Gehirn. Es bedrückt sie noch oft, sich beim besten Willen nicht mehr erinnern zu können, ob sie in jener Nacht zum Himmel gesehen und an Hans gedacht hatte.