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Wasser oder das Ikosaeder

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Als Ilse geboren wird schüttet es wie aus Eimern. Die vom Himmel herabstürzenden Wassermassen prasseln auf die Ziegel des Hausdaches, strömen in überlastete Regenrinnen und mit Getöse durch enge Fallrohre. Kurz darauf verschwindet das Naß gurgelnd im Erdreich. Unweit entfernt taucht das feuchte Element bald wieder auf und ergießt sich, als halbwegs gebändigte Flut, in den träge dahin gleitenden Rhein.

Vom Wohnzimmer dröhnen zwölf Schläge der Standuhr ins Schlafzimmer hinauf. Aus den Fenstern sieht man keine zwei Meter weit. War es beim Einsetzen der Wehen draußen noch hell gewesen, ist es mittlerweile stockdunkel geworden. Die Mutter hatte sich vor Monaten mit dem Vater auf den Namen Ilse verständigt, falls das Kind ein Mädel werden sollte und Heinrich, wenn ihnen ein Bub geboren würde. Die Namen sind keineswegs originell, aber brav folgt man dem Brauch, Vornamen aus dem verwandtschaftlichen Umfeld zu wählen. Eben deswegen heißen die Kinder oft Ilse, Karin, Heinrich oder auch Rudolf. Überdies herrscht im Deutschen Reich seit ein paar Jahren die Mode, einen neugeborenen Knaben Adolf zu nennen. Nach den höllischen Schmerzen ist Hedwig total erschöpft, aber auch sehr erleichtert, daß das winzige Wesen in ihren Armen gesund aussieht. Die Hebamme beglückwünscht Frau Schmid zu ihrem ersten Kind. Während ihres langen Berufslebens hat sie bereits zahllose Geburten gemeistert. Ihre sachliche doch freundliche Art wirkt stets beruhigend auf die angespannten Nerven gebärender Mütter.

Der Vater des Säuglings ist weit weg, er schippert gerade auf einem Boot flußabwärts in Richtung Holland. Von Beruf Rheinschiffer arbeitet er als Matrose auf dem Kahn ´Minerva´. Der Besitzer des Schiffes ist sein Vater, ein Partikulier, denn so nennt man alle Schiffsführer, die weniger als vier Kähne ihr eigen nennen. Schon seit vielen Generationen ist die Familie Schmid in diesem Gewerbe tätig, allerdings könnte niemand mehr angeben, welcher Vorfahre diese Tradition begründet hatte. Der Partikulier und sein Sohn werden erst in zwei Wochen nach Hause kommen und dann endlich erfahren, daß mit der Geburt alles gut gegangen ist. Jedoch erwartet die Schiffer auch ein kleiner Wermutstropfen, hofften sie doch von Anfang an, ein Stammhalter werde das Licht der Welt erblicken. Gegenüber Hedwig hatten sie dies jedoch, aus einem gewissen Taktgefühl heraus, nie erwähnt.

Der Säugling blickt, umschlungen von einem wärmenden Handtuch, mit inhaltsleeren Augen in die ungewohnte Welt. Zwar können Kinder von Geburt an ausgezeichnet hören, reagieren auf Töne und Laute, das scharf erkennende Sehen müssen sie aber erst noch üben.

Kaum hat die Hebamme das Neugeborene wieder behutsam an sich genommen, fällt seine Mutter in einen unruhigen Schlaf. Die Augen des Säuglings füllen sich im Traum mit Leben. Es macht ein paar unbeholfene Schritte in Richtung Tür. Da ist die frischgebackene Mutter plötzlich selbst das Kind. Die Tür öffnet sich. Ein fremder Mann tritt ein. Er sieht schmutzig aus. Aus seiner fahlen Gesichtshaut ragen schwarze Bartstoppeln. Die fremde Gestalt flößt dem kleinen Mädchen Angst ein. Der Unbekannte beginnt zu sprechen. Hedwig fängt an zu weinen. Wie aus dem Nichts erscheint ihre Mutter. Die Mutter sieht noch erstaunlich jung aus und lächelt sie an. Hedwig vernimmt das Wort Vater. Die Gestalt hebt sie hoch und drückt sie an sich. Direkt vor Hedwigs Nase quellen aus dem Gesicht mit den ekeligen Bartstoppeln die Augen hervor. Aus den Augen sickert Wasser, immer mehr Wasser. Es rinnt in zwei kleinen Bächen an dem Mann hinunter, und überschwemmt die Holzdielen des Zimmers. Das Wasser schmeckt unangenehm salzig. Sie schreit und streckt ihre Arme nach der Mutter aus, aber die ist verschwunden. Sie hört Worte, deren Bedeutung sie nicht versteht: ´Verfluchter Krieg´. Der Fremde streichelt sie, will sie beruhigen, doch sie schreit weiter und versucht, sich seiner Umklammerung zu entwinden. Der Mann stellt sie mit seinen rauhen Händen vorsichtig zurück auf die Füße. Das Wasser ist schlagartig verschwunden. Sie rennt los. Um sie herum wachsen jetzt zierliche Bäume und der Dielenboden hat sich in Erde verwandelt. Sie läuft bergauf entlang fein säuberlich gereihter Rebstöcke. Grell scheint die Sonne und brennt ihr aufs Gesicht. Sie blickt nach oben, sieht zwischen grünem Laub Büschel von gelblich reifen Beeren hängen. Mit beiden Händen greift das Kind zu, stopft sich die süß schmeckenden Früchte in den Mund, soviel wie eben hineinpassen. Hedwig kaut, der Rebensaft sickert aus ihrem Mund, über ihre Lippen, tropft auf ihr Kleid, auf die braune bröselige Erde. Da steht erneut der fremde Mann vor ihr. Aber diesmal hat sie keine Angst, sie erkennt ihn sofort, es ist ihr Vater. Er ruft sie beim Namen, und sie schaut blinzelnd zu ihm auf. Er ruft abermals ihren Namen. Langsam kommt Hedwig zu sich. Sie schwitzt, hat Durst und sieht das schmale Gesicht der Hebamme über sich, hört die Frau sagen: „Sie haben lang geschlafen Frau Schmid, es wird Zeit, ihrem Kind die Brust zu geben.“

Wie erwartet, kehren zwei Wochen nach diesem Ereignis Vater und Großvater des Neugeborenen aus Holland zurück. Es ist Mitte April. Der scheußliche Dauerregen hat sich verzogen, und seit Samstag strahlt die Sonne wieder vom Himmel. Alle spüren ihre zunehmende Kraft. Es ist Sonntag, um ganz genau zu sein, Sonntagnachmittag. Etliche Personen sind bei Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer des unscheinbaren Hauses versammelt, denn das neue Mitglied der Familie muß selbstverständlich gebührend gefeiert werden. Am Vormittag war die Taufe gewesen, wobei der Pfarrer Ilses nacktes Köpfchen mit reichlich geweihtem Wasser begossen hatte. Diese Prozedur war von dem Kind nicht gut aufgenommen worden und es hatte mit einem herzerweichenden Gebrüll reagiert. Jetzt sitzt die engere Verwandtschaft, dicht gedrängt, an dem ausladenden Holztisch, genießt einen der raren Momente der Muße und nutzt das gemütliche Beisammensein, um über Gott und die Welt zu plaudern. Der Vater von Hedwig, obwohl von Beruf Winzer, kennt sich trotzdem in den Belangen der Rheinschiffahrt aus. Der Rebenhang, der ihm gehört, hatte nie so viel Ertrag abgeworfen, daß davon eine ganze Familie satt geworden wäre. Deshalb fuhr er, einzig unterbrochen von den vier unseligen Kriegsjahren, seit eh und je in der kalten Jahreszeit als Heizer auf Schleppbooten, eine Knochenarbeit. Er ist heilfroh, in den Sommermonaten diese Schinderei nicht mitmachen zu müssen. Gerade wendet er sich mit vollem Mund an den Vater seines Schwiegersohnes: „Hei´rich, sach mal wie´s de´ momen´an die Auf´ra´sla´e?“ Über das Gesicht des Angesprochenen huscht ein zufriedenes Grinsen, ein Gesicht in dem Wind, Kälte, Sonne und Regen längst ihre sichtbaren Spuren hinterlassen haben, obwohl es noch keine sechzig Lenze zählt. Als er Kurt antwortet, sieht man bei ihm oben rechts eine Zahnlücke. „Ich kann mich nich´ beklagen. In den letzten Jahren hatten wir selten längere Liegezeiten wegen fehlender Ladung und die Frachtraten sind auch stabil geblieben. Ich überleg´ mir g´rad´, unseren Kahn mit ´nem Antriebsmotor auszustatten, so wär´n wir endlich von die Schleppboote unabhängig. Letztes Jahr hab´ ich bereits eine mit Petroleum betriebene Ankerlier auf´m Kahn installiert.“ Inzwischen hat Kurt seinen Kuchenhappen vollständig zu Brei zerkaut. Er schluckt ihn schnell hinunter, um deutlicher reden zu können. „Warum hast du einen solchen Ankermotor nich´ schon viel früher einbauen lassen? Auf uns´ren Schleppbooten werden schon länger dampfgetriebene Ankerliers eingesetzt.“ Heinrich runzelt nachdenklich die Stirn. Er starrt auf seine Kaffeetasse, hebt sie hoch, trinkt aber keinen Schluck. Er setzt die Tasse abrupt wieder ab und erwidert bedächtig, jedes Wort abwägend: „Ja Kurt, eine solche Entscheidung mußte reiflich überlegt werden. Immer schon haben die großen Reedereien unsereiner die tüchtigsten Matrosen weggeschnappt, da wir ihnen halt keine Aufstiegsmöglichkeiten bieten können. Otto, mein ehemaliger zweiter Matrose, der noch bei meinem Vater als Schiffsjunge angefangen hat´, war nich´ sonderlich helle, aber stets fleißig und ehrlich. Als dann die schlimmen Jahre kamen, unzähl´ge Männer ihre Arbeit verloren, wär´ Otto unweigerlich auf der Straße gestanden, hätt´ ich ihn damals entlassen und statt seiner ´ne Ankerlier eingebaut, um ´ne Arbeitskraft einzusparen. Jetzt brummtse, die Wirtschaft, und ´ne Arbeit zu finden, is´ kein Problem mehr.“ Kurt nickt beifällig. Während Heinrich erzählte, hatte er sich einen weiteren Bissen in den Mund geschoben. Erneut könnte er nur nuschelnd sprechen und zieht es diesmal vor, ganz zu schweigen. Heinrich hat sich dagegen warm geredet, ansonsten eher mundfaul, ist er heute ausnahmsweise in der Stimmung, seine Gedanken auch anderen mitzuteilen. Die Frauen und der frischgebackene Vater, die sich mit dem Dorfpfarrer unterhalten haben, sind mittlerweile verstummt und hören Heinrich ebenfalls zu. Dieser spricht, nach einer kurzen Pause, weiter: “Anfangs war ich ja ziemlich skeptisch, ob dieser Hitler seine vollmundigen Versprechen wahr macht, aber ich muß zugeben, der Mann hat mich angenehm überrascht.“ Hedwig wirft ein, man lese in den Zeitungen von der Produktion neuer Panzer, Geschütze und Jagdflugzeuge, sie befürchte deshalb, es könne noch einmal zu einem verheerenden Krieg kommen. Heinrich wischt solche Schwarzmalerei mit einer energischen Handbewegung beiseite und erwidert barsch: „Ach Quatsch, das halt´ ich für ausgeschlossen. Wir besteh´n nur auf unserem guten Recht. Einzig und allein wegen der militärischen Aufrüstung haben´s die Franzmänner hingenommen, daß wir uns das Rheinland zurückholten. Die verdammten Reparationszahlungen sind wir, dank dem Führer, nu´ gleichfalls los. Ich denk´, ohne militärische Stärke hätt´ das nich´ geklappt.“ Kurt, der die letzten Weltkriegsjahre bis zum bitteren Ende als Soldat an der Westfront mitmachen mußte, war bei dem Wort Krieg unmerklich zusammengezuckt. Eben hat er seinen Mund leer geräumt und möchte jetzt auch wieder was sagen: „Verdammter Krieg! Lieber würd´ ich nochmals zehn Jahre am Hungertuch nagen, bevor ich erneut Soldat werden müßt´. Wem die Granaten, die Schrapnells um die Ohren gepfiffen sind und wer die Gasangriffe überlebt hat, wird nie wieder solch ein Inferno riskieren. Hitler war, genauso wie ich, im Krieg ein einfacher Gefreiter. Er hat auch im Dreck der Schützengräben gelegen. Deshalb sag´ ich euch, der will nich´ noch mal so´n Gemetzel!“ Da schaltet sich unvermittelt der junge Pfarrer in das Gespräch ein: „Wir dürfen jedoch keinesfalls vergessen, wie Herr Hitler vehement gegen unsere Mutter Kirche hetzt und unseren Heiland verleugnet. Ich traue diesem Atheisten nicht über den Weg, obschon der Heilige Vater in Rom neulich ein Abkommen mit ihm geschlossen hat.“ Die Mutter von Hedwig, die ebenfalls Ilse heißt und der zu Ehren die Enkelin heute Vormittag den gleichen Namen erhielt, ist ausgesprochen fromm. Sie hat, als strenggläubige Katholikin, stets das Zentrum gewählt. Auf ihren eindringlichen Wunsch hin war der Priester auch zum Kaffee gebeten worden. Aber jetzt ermahnt sie den Kirchenmann: “Hochwürden, nachdem sogar Prälat Kaas und die deutschen Bischöfe den Nationalsozialisten die Hand gereicht haben, sollten Sie nich´ gar so mißtrauisch sein. Bestimmt erbarmt sich unser allmächtiger Herrgott und leitet den Führer bald auf den Pfad des Glaubens zurück.“ Die Schwester von Heinrich hält den Zeitpunkt nun für gekommen, ebenfalls ihre Meinung anzubringen. Sie ist unverheiratet und versorgt seit dem frühen Tod ihrer Schwägerin den brüderlichen Haushalt. „Ich find´ es ausgesprochen schad´, daß man den Kaiser verjagt hat.“ Und nach einem unüberhörbaren Seufzer verkündet sie resignierend: „Ach wär´ das schön, wenn wir noch unser´n Wilhelm hätten.“ Die Runde diskutiert weiter, über die politischen Verhältnisse, kommt dann aber bald auf die alltäglichen Nöte zu sprechen. Kurt fragt Heinrich, wann er denn gedenke, seine Zahnlücke schließen zu lassen. „Ooch“, erwidert dieser gedehnt, “das kann warten. Ich mußte letzten Winter einen großen Teil meiner Ersparnisse für ´ne dringende Instandsetzung des Schiffes verwenden. Es wär´ doch unverantwortlich, unser Bares für solch´ ´ne Nebensächlichkeit zu verschwenden.“ Hans, der frischgebackene Vater, ist unterdessen aufgestanden. Er geht voller Elan hinüber zur Wiege. Dort liegt der Täufling unter einer schützenden Wolldecke und brüllt sich gerade nach Kräften die Seele aus dem Leib. Hans hebt sein Töchterchen hoch, wiegt es bedächtig in den Armen. Aber dieses Schaukeln zeigt bei dem Säugling nicht die gewünschte Wirkung, es plärrt ohrenbetäubend weiter. Mit leicht genervtem Gesichtsausdruck erhebt sich Hedwig, nimmt ihrem Mann das Kind vorsichtig aus den Armen und geht mit dem Schreihals nebenan in die Küche. Die entstandene Unruhe benützt Kurt, um zum Aufbruch zu mahnen. „Komm Ilse“, sagt er ungeduldig zu seiner Frau, „unser Zug fährt in ´ner knappen Stunde. Bis zum Bahnhof laufen wir mindestens dreißich Minuten.“ Mit bekümmerter Miene erwidert sie auf das Drängen ihres Mannes: „Ach du meine Güte, ich hab´ gar nich´ auf die Uhr geschaut. Die Zeit is´ mal wieder rasend schnell vergangen, aber wir treffen uns ja eh so selten.“ „Da hast du ein wahres Wort gesprochen, liebe Schwiegermutter“, meint Hans. „Besonders die letzten zwei Monate hat dich Hedwig arg vermißt. Ich konnt´ in der langen Zeit nur ´nen einzigen Tag hier sein. Es war wie verhext, wir hatten ständig nur Frachtaufträge zwischen Duisburg und Rotterdam.“ Die Miene von Ilse verdüstert sich kurz, als sie antwortet: „Ich weiß, ich weiß. Hedwig hätt´ mich gern öfters bei sich gehabt. Aber Sieglinde bekam, wie ihr wißt, fast zur selben Zeit ´nen Sohn und es sah ganz danach aus, daß sie das Kind verliert. Ihr Mann reist als Vertreter ja auch dauernd durch die Gegend und is´ deshalb nur selten zu Haus´. Meine ältere Tochter war vollkommen auf sich allein gestellt. Ihr habt ja, Gott sei Dank, Henriette.“ Bei diesem Satz greift Ilse dankbar nach einer Hand von Henriette und hält sie fest umschlossen. Heinrichs Schwester fühlt sich geehrt, man merkt ihr aber deutlich an, wie verlegen sie wird, denn selten würdigt jemand ihren Einsatz für die Familie. „Eine Mutter“, sagt Henriette bescheiden, „kann man schwer ersetzen. Jedoch versteh´n Hedwig und ich uns ausgezeichnet.“ Heinrich unterbricht seine Schwester, da ihm das Ganze zu sehr ins Sentimentale abzugleiten droht: „Ich möcht´ euch ja beileibe nicht drängen, aber ich denk´ es pressiert langsam, wenn Kurt und Ilse den Zug noch ohne Hetze erreichen wollen. Wie wär´s, wenn Hans euch zum Bahnhof begleitet?“ Kurt antwortet, das sei zwar gut gemeint, aber unnötig, zumal sie keinerlei Gepäck zu tragen hätten und ergänzt: „Überhaupt war´s schon ausgesprochen nett, daß ihr uns vom Bahnhof abgeholt habt.“ Hans, so meint er weiter, solle besser zuhause bei Hedwig bleiben, die ihn in letzter Zeit doch wirklich selten gesehen habe und bestimmt nicht glücklich darüber wäre, wenn er seine knapp bemessene Freizeit nun mit den Schwiegereltern verplemperte. Man einigt sich nach kurzem hin und her, daß Heinrich die beiden zum Zug begleiten wird.

Am Abend finden sich die Hausbewohner nochmals in der guten Stube im Erdgeschoß zusammen. Nachdem Henriette und Hedwig die Reste des Abendbrotes abgeräumt haben, setzen sie sich zu den Männern an den Tisch. Jede hat eine Handarbeit auf den Knien. Hedwig strickt an einem Jäckchen für ihre Tochter und Henriette stopft, mit Hilfe eines hölzernen Fliegenpilzes, löchrige Socken von Hans. Da steht Heinrich auf, quert das Zimmer und steuert auf den funkelnagelneuen Rundfunkempfänger zu. Ursprünglich wollte er sich einen solchen überflüssigen Gegenstand nie ins Haus holen. Als aber ein Gerät zu einem Preis auf den Markt gekommen war, den sich praktisch jeder leisten konnte, da hatte er dem Wunsch seiner Schwester widerwillig nachgegeben und das unter dem Namen ´Volksempfänger´ vertriebene Radio gekauft. Er sucht nun ohne Hast nach einem Sender. Der Lautsprecher krächzt und pfeift. Endlich ertönt eine sonore Stimme aus dem Äther, sie kündigt ein Konzert der Wiener Philharmoniker an. Hedwig ist begeistert, möchte es sich unbedingt anhören. Henriette ist einverstanden. Heinrich brummt irgendwas Unverständliches und kehrt zu seinem Stuhl und seinem Bier zurück. Während die Töne des unsichtbaren Orchesters Hedwigs Ohren umschmeicheln, strickt sie eifrig weiter. Die Gedanken der jungen Mutter schweifen zurück zu ihrer Hochzeit vor rund einem Jahr.

Im Großen und Ganzen war es eine eindrucksvolle Hochzeit gewesen. Sie waren mit einigen Familienangehörigen und den Trauzeugen in die benachbarte Kreisstadt gefahren. Dort sprach der Standesbeamte die üblichen Worte. Wobei er sich bei seiner Rede an das Brautpaar, zum Kummer Hedwigs, etwas zu sehr beeilte. Aber dies war verständlich, hatte doch das nächste Paar bereits vor der Tür gewartet, um gleichfalls in den Hafen der Ehe gelotst zu werden. Anschließend kehrte die Hochzeitsgesellschaft in das Dorf der Brauteltern zurück. Die kirchliche Trauung war erst für den nächsten Tag anberaumt. Und obwohl dem Gesetz nach bereits ein Paar, verbrachten Braut und Bräutigam die anstehende Nacht getrennt, so wie es die katholische Moral verlangte. Hans nächtigte mit seinem Vater in der Dorfgaststätte, die auch Gästezimmer vermietet. Im Anschluß an die kirchliche Zeremonie waren sämtliche Bewohner des Ortes zum Mittagessen in eben jene Gastwirtschaft geladen worden. Danach hatte man zu den Klängen eines Ziehharmonikaspielers ausgiebig getanzt, nicht wenig getrunken, viel gelacht, derb gescherzt und so ganz nebenbei auch manche neue zarte Bande geknüpft. In der folgenden Nacht waren die Rollen dann vertauscht worden, Hedwig schlief mit Hans im komfortabelsten Fremdenzimmer der Gaststätte, während ihr Schwiegervater sein Quartier im Hause der Eltern nahm. Ihr Jungmädchentraum einer Hochzeitsreise nach Wien ließ sich leider nicht verwirklichen. Erstens wäre das zu teuer geworden und zweitens mußten Hans und sein Vater dringend zurück auf ihr Schiff, da längst eine neue Ladung auf Beförderung wartete. Hedwig ging der Tradition gehorchend klaglos mit auf den Kahn.

Die Philharmoniker haben ihr Konzert beendet. Die Löcher in den Socken sind gestopft und das Jäckchen steht kurz vor seiner Vollendung. Alle Anwesenden sind müde. Kaum daß die altehrwürdige Standuhr neunmal geschlagen hat, wird der Volksempfänger abgeschaltet und man geht zu Bett.

Vor der Ehe hatte es für das junge Paar nur wenige Gelegenheiten gegeben, sich gründlicher zu beschnuppern. Es war rasch gegangen. Auf dem alljährlich stattfindenden Schifferball vor annähernd zwei Jahren waren sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben gegenübergestanden und hatten sich spontan ineinander verliebt. Weil Hedwigs Vater ein halber Rheinschiffer ist, wird er nebst Familie seit langem zu diesem Ball geladen. Übrigens die einzige größere Festivität, die er noch regelmäßig mitmacht, wenn man einmal von dem obligatorischen Besuch des örtlichen Winzerfestes absieht. Möglicherweise hätte er sogar diesen Ball in den letzten Jahren gemieden, wenn nicht seine Frau auf der Teilnahme rigoros bestanden hätte. Ilse ging es dabei keinesfalls um ihr eigenes Amüsement, sondern darum, ihre Töchter angemessen unter die Haube zu bringen. Die Verlobung von Hans und Hedwig war ohne viel Federlesens zügig beschlossen und gefeiert worden. Bis zur Hochzeit hatten sie sich nur ein paar Mal für einen knappen Tag gesehen, schwerlich genug um den anderen mit allen seinen Eigenheiten, Wünschen und Vorstellungen einigermaßen kennenzulernen. Dies mußten sie in der Ehe langsam erst nachholen. Auf dem Schiff war das Paar tagsüber höchst selten für sich allein und des Nachts, in dem engen Bett vorne am Bug des Kahns, schliefen sie bereits nach kurzer Zeit erschöpft ein. Außer sie waren damit beschäftigt, ihr frisches Verlangen füreinander zu befriedigen. Weil aber der Schiffsjunge Fritz unmittelbar gegenüber in seiner Koje lag, einzig getrennt durch zwei dünne Sperrholzwände, widmete sich Hedwig nur ungern mit Leidenschaft der Liebe. Sehr zum Leidwesen ihres Ehemannes.

Heute, in der niedrigen Kammer unter dem Dach des Hauses, sind die Eheleute noch etwas länger wach. Glücklicherweise schläft ihr Töchterchen fest und friedlich in einer Wiege am Fußende des Bettes, nachdem sie zwei Tage zuvor, des Nachts, unentwegt gegreint hatte. Der von den verzweifelten Eltern zu Rate gezogene Doktor hatte aber beruhigt und nur schmerzhafte Blähungen diagnostiziert. Hedwig schmiegt ihren Kopf mit den dichten braunen Haaren an die blanke Brust von Hans. „Weißt du“, beginnt sie leise, “mich plagt da so´n schreckliches Gefühl, daß es bald zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. In den letzten Wochen hab´ ich ausgiebig Zeit gehabt, Radio zu hören. Dieser Minister Goebbels wetterte dauernd gegen den jüdischen Bolschewismus und das Ausland, das dem deutschen Volk seinen Lebensraum verweigert, wie er sich ausdrückte.“ Hans lächelt überlegen in das Dunkel hinein und meint: „Das is´ doch bloß Propaganda. Der Goebbels möcht´ halt das Volk beeindrucken und gleichzeitig die ausländischen Regierungen einschüchtern. Ich hab´s längst bemerkt, mein Schatz, du bist sehr ängstlich. Allein wieviel Gedanken hast du dir schon während der Schwangerschaft gemacht, ob unser Kind auch ja gesund zur Welt kommt. Dann deine ständige Furcht, wir könnten vielleicht mit unserem Boot kentern. Oder deine Sorge, daß ich bei Glatteis auf dem Gangbord des Kahns ausrutsch´, über´s Besteck fall´ und ins Wasser stürze.“ Hedwig läßt sich durch solcherlei Reden mitnichten beruhigen. Sie hebt leicht den Kopf, schaut ihrem Mann in die Augen und wendet mit Nachdruck ein: „Du bist aber tatsächlich einmal ausgerutscht und wärst um Haaresbreite in den eisigen Fluß gestürzt, ich hab´s genau gesehen und einen riesigen Schreck bekommen.“ Hans merkt, daß sich seine Frau auf diese Weise nicht beschwichtigen läßt und versucht, die Sache etwas geschickter anzupacken. „Natürlich freu´ ich mich, wenn du so um mich besorgt bist. Wär´s anders, müßt´ ich ja befürchten, du liebtest mich gar nicht. Aber meinst du nich´, wir sollten diesen schönen Tag erfreulicher ausklingen lassen? Und uns nich´ durch düstere Gedanken die Stimmung versauen.“ „Hast ja recht“, lenkt Hedwig ein. Ihr Kopf sinkt auf seine Brust zurück. „Der Tag war wirklich wunderbar. Bitte verzeih´, aber ich werd´ die Angst vor einem neuen Krieg einfach nicht los, ich weiß auch nicht warum.“ Nach kurzem Schweigen, währenddessen Hans versucht seine Frau durch Liebkosungen abzulenken, unterbricht Hedwig abrupt die Stille: „Da fällt mir übrigens eine Geschichte aus meiner Schulzeit ein. Wir hatten damals einen Lehrer, von Anfang an war der mir nicht geheuer. Warum, hätt´ ich nicht mal erklären können, denn zu uns Schülern war er eigentlich immer recht nett. Ich hatt´ sogar mal einen Albtraum wegen ihm, worin er mir als Vampir erschien. Plötzlich tauchte der Lehrer von Heut´ auf Morgen nicht mehr auf, seinen Unterricht übernahm ein anderer. Die Erwachsenen taten völlig ahnungslos, als ob sie nicht wüßten, was passiert sei. Aber nach und nach bekamen wir Schüler alles heraus. Der Lehrer hatte seine Frau samt seinen drei Kindern mit einer Pistole erschossen, die er aus dem Krieg mitgebracht haben soll.“ Hans fröstelt, er will unbedingt das Thema wechseln. Mit gespielter Fröhlichkeit beginnt er: „Hab´ ich dir schon mal von meinem Jugendtraum erzählt, Automobilmechaniker zu werden?“ Hedwig hebt erneut den Kopf und blickt ihren Mann erstaunt an. „Wie bist du denn auf diesen Wunsch verfallen?“, fragt sie. „Damals, in meinem Schifferinternat, gab´s einen technikbegeisterten Pfarrer, der mit einem wohlhabenden Kaufmann befreundet war. Dieser Kaufmann besaß als einer der Ersten im Ort ein eig´nes Automobil. Der Pfarrer überredete seinen Freund, uns Schülern die Benzinkutsche mal vorzuführen. Ich hab´ mir den Motor ganz genau angeschaut, dann den Mann gefragt, ob er ihn auch reparieren könne. Der Kaufmann schüttelte seinen Kopf und erklärte lachend, hierfür gäb´s doch Spezialisten, sogenannte Automobilmechaniker. Da beschloß ich, eines Tages Mechaniker zu werden. Als ich in den nächsten Ferien aus dem Schifferkinderheim auf unseren Kahn zurückkehrte und freudig mein Berufsziel kundtat, versetzte mir Vater eine schallende Ohrfeige. Dann meinte er, ich soll´ mir solch dumme Flausen schleunigst aus dem Kopf schlagen.“ „Und, hast du versucht, ihn umzustimmen, als du mit der Schule fertig warst?“, will Hedwig wissen. Hans lacht ein wenig bitter. „Du kennst doch meinen Alten, das wär´ völlig zwecklos gewesen. Überdies fühlte ich mich, kaum daß ich die Schiffsjungenzeit hinter mich gebracht hatte, für unseren Kahn mitverantwortlich. Außerdem wär´ Vater, nach dem Tod von Großvater, finanziell nich´ über die Runden gekommen, wenn er zwei fremde Matrosen hätt´ beschäftigen müssen.“ „Also bist du eigentlich ungern Rheinschiffer?“, meint Hedwig betrübt. „Das möcht´ ich so keineswegs behaupten. Das Schifferleben hat seine Vorzüge. Wir kommen viel rum. Du kannst den ganzen Tag in meiner Nähe sein. Und in einigen Jahren, wenn der Kahn uns gehört, bin ich sogar mein eigener Herr.“ „Mir gefällt´s auch, wenn wir ständig zusammen sind“, erwidert Hedwig. „Was machen wir aber, wenn Ilse in die Schule geht? Ich mag gar nicht daran denken, unsere Tochter in ein Schifferkinderheim stecken zu müssen. Das paßt mir überhaupt nicht! Jedoch kaum weniger schlimm fänd´ ich´s, mit Ilse an Land zu bleiben und dich dann nur noch alle paar Wochen zu sehen.“ Hans atmet tief durch. „Das kannst du glauben, mir würdest du genauso fehlen, denn die Trennung schlüge mir mächtig auf´s Gedärm, der Schiffsjunge hat während deiner Abwesenheit ´nen Saufraß zusammengekocht“, versucht Hans die Unterhaltung ins Spaßige zu ziehen. Hedwig lächelt süß-säuerlich. „Ja, darauf bin ich stolz, das mit dem Kochen hab´ ich tatsächlich schnell hingekriegt. Ich hätt´ nicht gedacht, wie viel schwieriger das auf´m Schiff is´. Allein schon die Planung der Einkäufe, dauernd überlegen zu müssen, wo man welche Sachen günstig erwerben kann. Dann die Schlepperei der Lebensmittel zum Kahn. Die Geschäfte in den Städten liegen ja meist weit weg von den Häfen. Das alles is´ wirklich mühselig und zeitraubend. Ich hab´ mir schon überlegt, ob es nicht ´ne große Erleichterung wär´, wenn wir uns ein Fahrrad anschaffen würden. Ich könnt´ auf dem Rückweg die vollen Einkaufstaschen an den Lenker hängen und die schweren Kartoffelsäcke auf dem Gepäckträger transportieren.“ Hans, stets bemüht die Wünsche seiner Frau ernst zu nehmen, stimmt zu. Darüber hinaus zwackt ihn das schlechte Gewissen, sein grober Scherz von eben ist ihm noch etwas unangenehm. „Das is´ gar keine schlechte Idee, aber kannst du überhaupt Fahrrad fahren?“, will er skeptisch wissen. „Ich kann´s lernen, das wär´ sicher kein Problem.“ „In Ordnung, dann sprech´ ich bei nächster Gelegenheit mit Vater.“ Hedwig ist Hans für sein Verständnis dankbar. Jetzt wird sie langsam müde, sie gähnt herzhaft. Kurze Zeit später entschlummert sie in den Armen ihres Mannes und fährt im Traum stolz auf einem Fahrrad umher. Hans schläft ebenfalls ein, äußerst zufrieden mit sich und der Welt

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