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6. Kapitel
ОглавлениеAm darauffolgenden Tag erscheinen zwei SS-Soldaten auf dem Kahn. Sie führen einen Mann in ihrer Mitte, den Heinrich auf ein Alter von etwa fünfzig Jahren schätzt. Später stellt sich heraus, daß er noch keine vierzig ist. Nachdem der Schiffsführer die Überstellung des Kriegsgefangenen den beiden Männern quittiert hat, erhält er aus der Hand des Ranghöheren eine Pistole mit zwei Magazinen und dazu die strenge Anweisung, bei einem Fluchtversuch des Gefangenen unverzüglich von der Waffe Gebrauch zu machen. Für den Zwangsarbeiter wird ihm eine spezielle Lebensmittelkarte ausgehändigt, die viel geringere Rationen vorsieht.
Heinrich hat wieder einen zusätzlichen Mann an Bord, dem er erfreulicherweise keine volle Heuer zahlen muß. Aber eigentlich hat er sich jemanden ganz anderen vorgestellt, einen der jung, kräftig und im Idealfall aus der Branche stammt. Stattdessen steht eine ausgemergelte Gestalt in einer zerlumpten und verdreckten Uniform vor ihm. Als Hedwig den neuen Matrosen sieht, erschrickt sie heftig. Mit seinen tief liegenden Augenhöhlen, den stark hervortretenden Wangenknochen und dem kahl geschorenen Kopf, glaubt sie beinahe, einen Totenschädel vor sich zu haben. Aber aus diesem Totenschädel blicken sie zwei apathische Augäpfel an. Bei einer kurzen Befragung durch Heinrich und Hans stellt sich heraus, daß ihr neuer Mann aus Polen stammt. Er war bei Ende des Feldzuges in deutsche Gefangenschaft geraten und gezwungen worden, in einem Rüstungsbetrieb Sprengstoff in Granathülsen einzufüllen. Weil er in seinem früheren zivilen Leben auf der Weichsel als Fischer seinen Lebensunterhalt verdient hatte und ein paar Brocken Deutsch spricht, hat man ihn für diesen neuen Arbeitseinsatz vorrangig ausgewählt. Hedwig, deren anfänglicher Schreck in Mitleid für die geschundene Kreatur umgeschlagen ist, ergreift als Erste die Initiative. Auf der Stelle kocht sie für den Polen eine nahrhafte Suppe. Während sie ihm anschließend dabei zusieht, wie er genußvoll die heiße Brühe in sich hineinlöffelt, beschleicht sie der Verdacht, daß der Mann seit seiner Gefangennahme wahrscheinlich keine einzige anständige Mahlzeit mehr erhalten hat. Sie spricht mit ihrem Mann: „Hans, ich würd´ Janusz gern ein altes Hemd und eine alte Hose von dir geben, wenn du damit einverstanden bist.“ „Wer ist Janusz?“, fragt Hans verblüfft. „Unser neuer Matrose“, gibt Hedwig Auskunft. „Als er mit der Suppe fertig war, hab´ ich ihn ein wenig ausgefragt“, fährt sie mit ihren Erklärungen fort. „Er hat radebrechend von einer Frau und einem kleinen Sohn erzählt, von denen er, soweit ich das richtig verstanden hab´, seit über einem Jahr nichts mehr gehört hat.“ „Gib ihm die Sachen“, meint Hans. „Ich denk´, sobald er bei uns etwas zu Kräften gekommen ist, werden sie ihm sogar passen“, fügt er noch witzelnd hinzu.
Heinrich hat Erbarmen mit dem Polen und unterstützt Hedwigs Bemühungen um das leibliche Wohl von Janusz. Hinzu gesellt sich bei ihm aber auch ein nüchterner Gedanke; nur ein starker, wohlgenährter Matrose ist auf dem Kahn eine echte Hilfe. Janusz lernt schnell. Er ist froh, der Hölle der lärmenden Fabrikhalle, samt seinem sadistischen Vorarbeiter, lebendig entronnen zu sein und merkt bald, daß seine neuen Herren ihre Herzen auf dem rechten Fleck tragen. Nach einigen Tagen, während Heinrich die geladene Pistole, wie ihm befohlen worden war, immer brav bei sich getragen hat, wird ihm das Ding langsam lästig. Er gewinnt die Überzeugung, Janusz vertrauen zu können und verstaut die Waffe samt Munition eines Morgens gleich nach dem Aufstehen in der untersten Schublade seiner Schlafzimmerkommode. Bald darauf hat er das Schießeisen vergessen.
Knapp zwei Wochen danach besuchen Hedwig und Hans, zusammen mit ihrem Töchterchen, Henriette. Der Abstecher bietet sich an, weil die ´Minerva´ aufgrund des Niedrigwassers in der Nähe vor Anker gehen muß. Heinrich bleibt mit Kobold auf dem Kahn zurück. Er ist sicher, der polnische Matrose würde auch in seiner Abwesenheit keinen Fluchtversuch wagen, jedoch bekäme er immense Schwierigkeiten, falls die Wasserschutzpolizei bei einer Kontrolle feststellte, daß er den Kriegsgefangenen allein auf dem Schiff zurückgelassen hätte.
Nach einer lustvoll verbrachten Nacht stehen Hedwig und ihr Mann nicht allzu früh auf. Aber Henriette ist längst auf den Beinen. Sie bereitet in der Küche das Frühstück zu. Ilse, die schon wach ist und von Henriette die strenge Anweisung erhalten hat, ihre Eltern ungestört zu lassen, möchte unbedingt helfen. Also darf sie Henriette beim Decken des Tisches zur Hand gehen. Behutsam trägt sie eine Tasse nach der anderen von der Küche zum Eßtisch. Anschließend wird ihr die Zuckerdose anvertraut. Ilse hat inzwischen mehr Zutrauen in ihre Fähigkeiten gewonnen, läuft mit der Dose in der Hand zügiger ins Wohnzimmer. Dort wird dem Kind aber eine Falte im Teppich zum Verhängnis, es stolpert. Zum Glück fängt die Kleine sich wieder. Die gefüllte Zuckerdose entgleitet allerdings ihren Händchen und saust in Richtung Fußboden. Der weiche Teppich mildert den Aufprall, die Dose aus Porzellan bleibt heil. Der Zucker hingegen verstreut sich weit über Teppich und Boden. Ilse fängt vor Schreck an zu weinen. Henriette eilt aus der Küche herbei, sieht die Bescherung und nimmt Ilse in die Arme. „Ilschen wein´ nich´, schau her, die Dose ist doch gar nich´ zerbrochen. Ich hol´ gleich aus der Küche die Kehrschaufel und dann machen wir alles zusammen gründlich sauber.“ Mit diesen Worten beruhigt sie ihren kleinen Liebling. Die Kindertränen versiegen rasch und Ilse beteiligt sich ungeschickt, aber mit Feuereifer an den Reinigungsarbeiten.
Als die Zeiger der alten Standuhr fünf vor acht markieren, sitzen alle vergnügt am Tisch. Die Sonne wirft ihre Strahlen durch das Ostfenster und malt helle Streifen auf die Tapete der gegenüberliegenden Wand. Hedwigs Blick streift den Volksempfänger. „Seid ihr einverstanden, wenn ich das Radio einschalte? Vielleicht bringen sie nette Musik.“ Weder Hans noch Henriette äußern irgendwelche Einwendungen. Hedwig steht auf, läuft zum Gerät und schaltet es ein. Schlagerliedchen trällern durch den Raum. Kaum sitzt sie wieder auf ihrem Stuhl, wird der harmlose Gesang unterbrochen, eine markig klingende Stimme ertönt aus dem Lautsprecher: „Achtung, Achtung, wir unterbrechen unser Programm für eine wichtige Sondermeldung. Heute Morgen hat die Wehrmacht auf Befehl des Führers die Grenze zu Rußland überschritten. Sie ist damit einem gegnerischen Überfall zuvorgekommen. Unsere Panzerspitzen befinden sich im schnellen Vormarsch. Die Luftwaffe fliegt pausenlos Einsätze und vernichtet den fliehenden Feind. Die bolschewistische Soldateska ergibt sich an allen Frontabschnitten … “ Während der Radiosprecher weiter euphorisch seinen Text verliest, hat sich die Stimmung am Tisch gedreht. „Ich hab´ ein ganz schlechtes Gefühl“, meint Henriette betrübt. Hans sagt: „Als ich meine Finger verlor, dacht´ ich noch, das sei ein großes Unglück. Jetzt bin ich beinah´ froh d´rüber, denn als halben Krüppel werden sie mich wohl kaum in den Kampf schicken.“ Er blickt nachdenklich auf seine kaputte Hand. Hedwig, die neben ihm sitzt, folgt seinem Blick, ergreift seine Handfläche und drückt sie fest. „Wo ist Rußland?“, fragt Ilse wißbegierig. „Bitte Hans, sei so nett, hol´ aus dem Wohnzimmerschrank den Atlas. Er liegt in der obersten Schublade unterhalb der mittleren Glastür.“ Hans hat keine Mühe das Kartenwerk zu finden. Weil den Erwachsenen sowieso der Appetit gründlich vergangen ist, räumen Hedwig und Henriette alle Teller und Tassen beiseite, derweil Hans im Register des Atlanten nach der passenden Seite sucht, aufgeschlagen legt er ihn in die Tischmitte. Alle beugen sich neugierig über die farbig markierte eurasische Landmasse. Hans fährt mit dem Finger die Grenzen der Sowjetunion ab. Danach deutet er auf Deutschland. Ilse macht große Augen. „Weiß denn der Führer wie riesig Rußland ist?“, fragt Henriette erstaunt. „Wir können´s nur hoffen“, antwortet Hedwig und blickt dabei skeptisch auf beide Länder.
In den Monaten darauf stoßen die deutschen Soldaten, ergänzt um etliche Freiwilligenverbände aus europäischen Nachbarländern, rasch vor. Sie besetzen ganz Weißrußland und große Bereiche der Ukraine. Die kämpfenden Fronttruppen werden in diesem Teil des Vielvölkerstaates oftmals als vermeintliche Befreier begrüßt.
Ende November erreicht die Familie Schmid auf der ´Minerva´ ein Brief. Als Heinrich, der wie üblich bei jeder Anlegestelle routinemäßig die Hafenmeisterei aufsucht und nach Post fragt, auf den Absender schaut, kann er es kaum erwarten, den Brief zu lesen. Weil der Umschlag aber an die ganze Familie adressiert ist, entscheidet er sich, ihn erst zu Mittag bei Tisch zu öffnen. Nach dem Hauptgang zieht er den Brief aus seiner Weste hervor. „Ratet mal, wer uns geschrieben hat.“ „Keine Ahnung“, sagt Hans. „Ich denk´, es ist Fritz“, läßt sich Hedwig vernehmen. „Richtig“, bestätigt Heinrich. Ein leicht skeptischer Blick wandert zu Hedwig hinüber, er stammt von Hans. Noch immer glimmt scheinbar ein Funke Eifersucht in seinem Innersten. Heinrich schlitzt den Umschlag des Briefes mit seinem Finger rasch auf. Er zieht zwei Bögen Papier heraus, entfaltet sie, setzt seine Brille auf und beginnt laut vorzulesen:
Liebe Familie Schmid,
endlich finde ich etwas Ruhe, um Euch von meinen Erlebnissen der letzten Monate zu berichten. Ich traf pünktlich bei meinen Eltern ein. Es blieb sogar noch Zeit, meine Großeltern im Nachbarort zu besuchen. Am nächsten Morgen meldete ich mich vorschriftsmäßig bei der Kommandantur. Zu meiner größten Freude teilte man mir mit, daß ich zur Kriegsmarine einberufen sei. Ich bekam eine Militärfahrkarte ausgehändigt und sollte sogleich nach Kiel abreisen. Vom dortigen Bahnhof brachten Laster all die frisch eingetroffenen Rekruten zu der befohlenen Kaserne. Als erstes verpaßten sie uns in der Kleiderkammer eine schicke Matrosenuniform. Dann wurden wir zum Duschen und Haare schneiden geschickt. Bei einigen Neuankömmlingen stellte man Läuse fest, ihr Kopf wurde kahl geschoren. Anschließend war Appell auf dem riesigen Kasernenhof, dazu mußten wir in Dreierreihen antreten. Da wir keinerlei Übung hatten, klappte das mehr schlecht als recht. Ein Maat mit hochrotem Kopf brüllte, was das Zeug hielt. Gleich darauf trat der Kasernenkommandant vor unsere Reihen. Er hielt eine zackige Rede, sprach von der Ehre in der Marine dienen zu dürfen und kündigte eine harte Ausbildung an, die aus uns verweichlichten Zivilisten disziplinierte Soldaten machen werde. Bis dahin war ich überzeugt, daß meine Lehre als Schiffsjunge auch kein Zuckerschlecken gewesen ist,
Heinrich räuspert sich vernehmlich. Hans und Hedwig schmunzeln. Heinrich liest weiter:
aber was ich in den folgenden Monaten in Kiel erlebte, ließ mir meine Lehrzeit wie ein Erholungsurlaub erscheinen.
Diesmal ist es an Heinrich zu schmunzeln.
Die Vorgesetzten schleiften uns so entsetzlich, daß einige meiner Kameraden zusammenbrachen und erst wieder im Krankenrevier aufwachten. Auch der Budenzauber war wenig lustig, den die dienstälteren Kameraden mit uns Frischlingen des Nachts veranstalteten. Dann kamen wir überhaupt nicht mehr zum Schlafen. Nach drei Monaten war diese Schinderei durchgestanden. Wir durften erstmals die Kaserne verlassen, uns Rekruten waren genau vierundzwanzig Stunden Ausgang genehmigt worden. Einige Kameraden ließen sich daraufhin dermaßen volllaufen, daß sie von den Kettenhunden, den Feldjägern, eingesammelt werden mußten und wegen militärunwürdigen Benehmens zu drei Tagen verschärftem Arrest verurteilt wurden. Da waren diejenigen besser beraten, die ihren Sold für Weiber ausgegeben hatten.
Hedwig errötet leicht. Hans und sein Vater werfen sich einen verständnisvollen Blick zu.
Nach meiner Ausbildung wurde ich zur U-Bootwaffe abkommandiert. Man verfrachtete mich nach Brest an die Atlantikküste und von hier aus schreibe ich Euch diesen Brief. Vier Tage nach meiner Ankunft lief unser U-Boot zu einer kurzen Erprobungsfahrt in die Biskaya aus, mit mir als dem Unerfahrensten an Bord. Dummerweise erzählte ich einem Kameraden, daß ich früher als Schiffsjunge öfters gekocht hätte. Kurz darauf wurde ich zu unserem Kaleu befohlen. Er empfing mich mit den Worten, er habe gehört, daß ich ausgezeichnet kochen könnte. Trotz meines Einwandes, mit meinen Kochkünsten sei es nicht weit her, wurde ich als Hilfskoch in die Kombüse gesteckt. Das war mir eine Lehre, ich habe gelernt, meinen Mund zu halten. Es ist beim Militär äußerst unklug viel zu reden. Aber es gibt auch Erfreuliches zu berichten. Wir gelangten auf meiner ersten großen Feindfahrt bis an die nordamerikanische Küste. Unser Kaleu und der Erste Offizier haben durch das Periskop sogar die Lichter von Manhattan gesehen! Die Fahrt war ein voller Erfolg. Wir versenkten fünf feindliche Handelsschiffe. Es war fast wie beim Hasen schießen. Unser U-Boot ist in den letzten Tagen gründlich überholt worden und hat neuartige Torpedos erhalten. Wir werden bald wieder auslaufen. Die Haarschleife von Ilse trage ich als Talisman immer bei mir.
Als Ilse hört, wie ihr Name und die Schleife erwähnt wird, fragt sie ihre Mutter: „Was iz ein Talisman? Kommt Fritz bald zurück?“ Hedwig ermahnt ihre Tochter ruhig zu sein, bis der Großvater den Brief zu Ende gelesen hat. Heinrich liest die letzten Zeilen vor:
Ich habe den Kameraden weisgemacht, daß die Schleife ein Geschenk meiner Freundin ist. Jetzt fällt mir vorerst nichts mehr ein, worüber ich noch schreiben könnte. Grüßt mir bitte alle, die mich kennen, auch Kobold.
Euer treuer Matrose
FRITZ
Sorgfältig faltet Heinrich die Briefbögen zusammen und legt sie neben sich auf den Tisch. „Ich fürchte, Fritz wird so bald nicht zu uns zurückkehren, der Krieg scheint sich langsam aber sicher über die ganze Welt auszubreiten.“ Während Heinrich diese Vermutung äußert, kratzt er sich nachdenklich am Kopf. „Der Pole ist tüchtig, mit dem halt´ ich´s ruhig noch eine ganze Weile aus“, meint Hans zuversichtlich. „Ich find´ es schlimm, wenn sie die Kriegsgefangenen so miserabel behandeln. Denen da oben sollte doch klar sein, daß auch unsere Soldaten in Gefangenschaft geraten können“, bemerkt Hedwig aufgebracht. „Krieg ist die scheußlichste Sache der Welt. Die Sieger fragt niemand nach Moral. Schuld am ganzen Schlamassel haben hinterher immer nur die Besiegten.“ Heinrich spricht leise, allein das Wort ´Moral´ betont er lauter. Zu weiteren philosophischen Betrachtungen bleibt keine Zeit, die Arbeit ruft. Heinrich schüttet sich den letzten Rest Bier aus seinem Glas in die trockene Kehle und steht abrupt auf.
Das Jahr endet ohne weitere besorgniserregende Ereignisse, wenn man einmal die unangenehmen Tatsachen beiseite läßt, daß einige Tage zuvor das Deutsche Reich den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärt hat und der Vormarsch deutscher Truppen in den endlosen Steppen Rußlands ins Stocken geraten ist.
Das neue Jahr bringt für Ilse eine einschneidende Veränderung mit sich, sie ist nun sechs Jahre alt und muß eingeschult werden. In den vorausgegangenen Monaten haben die Eltern mehrfach darüber diskutiert, ob sie während des Schuljahres ihr Töchterchen allein der Obhut Henriettes überlassen sollen. Aber allmählich macht sich das Kriegsgeschehen auch in Deutschland schmerzhaft bemerkbar. Immer häufiger tauchen feindliche Bomber über deutschen Städten auf. Am Niederrhein soll es gerüchteweise vereinzelt sogar Tieffliegerangriffe auf Flußschiffe gegeben haben. Hans ist besorgt, er ist überzeugt, daß seine Frau mit Ilse im Dorf besser aufgehoben ist als auf dem Kahn. Hedwig wird ihm zwar sehr fehlen, aber das beruhigende Gefühl, sie einigermaßen geschützt zu wissen, ist ihm allemal wichtiger, als täglich ein schmackhaftes Essen serviert zu bekommen. Hedwig selbst ist hin- und hergerissen, einerseits möchte sie Hans ungern im Stich lassen, andererseits rät ihr die pure Vernunft, daß es wohl sicherer wäre, wenn sie bis auf weiteres mit ihrer Tochter an Land bliebe. Aber noch eine andere Sache bewegt ihr Gemüt. Als Hedwig und Hans eines Tages nach dem Abendbrot kurzzeitig unter sich sind, will sie darüber nicht länger schweigen: „Ich find´, es wird langsam Zeit, daß Ilse ein Geschwisterchen bekommt.“ Hans erwidert skeptisch: „Wir sollten damit besser warten, bis der Krieg vorüber ist, wer weiß, was bis dahin noch alles auf uns zukommt.“ „Ich geb´ ja zu, dein Einwand ist kaum von der Hand zu weisen, allzu günstig wär´ der Zeitpunkt dafür jetzt nicht gewählt, aber niemand kann voraussehen wie lang´ der Krieg noch dauern wird“, gibt Hedwig zu bedenken. „Laß uns wenigstens bis zum nächsten Jahr damit warten. Dann haben wir sicherlich gesiegt und es herrscht endlich Frieden.“ Hans trägt seine Meinung sehr bestimmt vor. Hedwig schwankt: ´Vielleicht wär´s tatsächlich klüger noch abzuwarten´, überlegt sie. „Außerdem hat Vater vor kurzem anklingen lassen, daß er sich mit dem Gedanken trägt, mir in einem oder zwei Jahren den Kahn zu überlassen. Wir könnten dann in der Roef wohnen und hätten genügend Platz für ein zweites Kind.“ Dieses Argument läßt sich schwerlich entkräften. Hedwig stimmt seinem Vorschlag verstandesmäßig zu. Jedoch ihrem Gefühl nach würde sie lieber eine andere Entscheidung treffen.
Der Tag der Einschulung naht. Ilse ist aufgeregt. Die Mutter hatte ihr gesagt, bald beginne für sie der Ernst des Lebens. Noch kann sie sich darunter wenig vorstellen. Viel mehr beeindrucken die Sechsjährige die konkreten Gegenstände, die sie sehen und anfassen kann und davon gibt es neuerdings einige. Die Mutter kaufte ihr einen dunkelbraunen Lederschulranzen, der Ilse groß wie ein Koffer erscheint, dazu eine Schiefertafel mit Schwämmchen und einer Packung Kreidestifte. Außerdem bekam sie ein Buch, in dem zahlreiche Bilder von Häusern, Tieren, Pflanzen, Maschinen und Menschen abgebildet sind. Neben den Bildern stehen viele Zeichen, die sich oft wiederholen. Man hatte ihr erklärt, das seien Buchstaben, die sie alle erlernen müßte. Dafür besuche sie die Schule.
Am Morgen des ersten Schultages darf Ilse ihr Sonntagskleid anziehen. Nach einem kurzen Frühstück geht sie, geführt von der Hand der Mutter, den Weg zur Dorfschule. „Merk´ dir den Weg genau, in Zukunft mußt du ihn allein´ finden“, hatte ihr die Mutter mehrmals eingeschärft. Ilse paßt genau auf, denn sie hat eine höllische Angst davor, sich morgen zu verlaufen. Der Schulranzen hängt wie ein bleierner Klumpen am Rücken. Flehentlich bittet sie die Mutter, ihr den Ranzen abzunehmen, aber die Mutter bleibt hart. „Zukünftig mußt du deinen Ranzen sowieso selber tragen, also gewöhn´ dich schon jetzt daran“, bekommt Ilse zu hören. Die einzige Konzession, zu der sie die Mama bewegen kann, besteht darin, daß sie ihr die Schultüte abnimmt. Die Tüte war eine Überraschung gewesen. Gleich nach dem Aufstehen war Henriette in ihr Zimmer gekommen und hatte diese lang gestreckte, unten spitz zulaufende Tüte in den Händen gehalten, die oben mit Krepppapier verschlossen war. „Der Inhalt soll dir den Schulbeginn etwas versüßen“, hatte sie gesagt. Am liebsten hätte Ilse all die Leckereien auf der Stelle verschlungen. Niemals zuvor war ihr eine solche Menge an köstlicher Schokolade, süßen Keksen und herrlichen Lakritzestangen zum Geschenk gemacht worden. Aber die Mutter erlaubte ihr nur, ein einziges Stück auszuwählen, mehr dürfe sie erst nach der Schule essen.
Als die Zwei das Schulgelände endlich erreichen, sind bereits über ein Dutzend Kinder mit ihren Müttern dort versammelt. Nur drei der Jungen und Mädchen halten ebenfalls eine Schultüte in den Händen. „Da schau mal, Ilschen, wie gut´s dir geht. Willst du nicht den anderen Kindern von deinen vielen Süßigkeiten was abgeben?“, schlägt Hedwig vor. Schweren Herzens trennt sich Ilse von einem Teil ihres eßbaren Schatzes. Durch diese freigiebige Haltung zieht sie das Interesse ihrer Mitschüler auf sich und es gibt etliche, die gerne neben ihr in der dunkel gebeizten Schulbank Platz nehmen möchten. Die weißhaarige Lehrerin fragt mit strengem Blick alle Erstklässler nach ihren Namen. Jedes Kind steht artig auf, bevor es schüchtern Antwort gibt. Danach hält die Lehrerin den Mädchen und Knaben einen Vortrag. Sie ermahnt, allzeit mit gespitzten Ohren dem Unterricht zu lauschen und sich keinesfalls mit dem Banknachbar zu unterhalten. Sie erwähnt, daß die Schule geschaffen wurde, um aus ihnen tüchtige Menschen zu machen, damit sie als Erwachsene ihren Beitrag zum Wohle des Volkes leisten können. Anschließend soll jedes Kind ein Haus mit einem Baum auf seine Schiefertafel malen. Die Lehrerin geht durch die Reihen, schaut sich die Kreidezeichnungen genau an, gibt hier und da Ratschläge für Verbesserungen und einige besonders gelungene Ergebnisse lobt sie nachdrücklich. Ilses Gekritzel ist nicht darunter. Derweil stehen die jungen Mütter hinten in der Klasse, versuchen sich an ihren eigenen ersten Schultag zu erinnern. Viele von ihnen sind in dieser Gegend aufgewachsen, im selben Klassenzimmer, von derselben Lehrerin unterrichtet worden.
Nach einer Stunde dürfen die Kinder die Schule wieder verlassen. Mit der um einiges leichteren Schultüte im Arm tritt Ilse den Rückweg an. „Ich bin stolz auf dich, daß du den anderen Kindern von deinen Süßigkeiten etwas abgegeben hast“, lobt Hedwig ihre Tochter. Diese Anerkennung und die Tatsache, daß sie durch ihre selbstlose Tat offensichtlich zahlreiche Freundinnen gewonnen hat, entschädigen Ilse für den Verlust eines beträchtlichen Teils ihrer Leckereien. Da sie ihr bisheriges Leben fast vollständig auf dem Kahn zugebracht hat, gab es kaum Gelegenheiten, um mit gleichaltrigen Kindern Freundschaft zu schließen. Hingegen kennen sich die allermeisten Mitschüler, weil sie im Dorf oder seiner Umgebung aufgewachsen sind.
Im Laufe des Nachmittags verputzt Ilse trotz mütterlicher Ermahnungen alle ihre restlichen Süßigkeiten. In der Nacht befällt sie dann heftiges Magenweh. Sie traut sich aber nicht, die Mutter zu wecken, die würde sicher mit ihr schimpfen.
Hedwig hat sich im Dorf mühelos eingelebt. Die junge Frau ist sehr hilfsbereit und bei den Nachbarn beliebt. Weil sie sich mit Henriette hervorragend versteht, gibt es auch daheim keinerlei nennenswerte Reibereien. Die Schwester des Schiffsführers schätzt die neu erwachte Lebendigkeit im alltäglichen Einerlei. Ganz besonders freut sie sich aber über die Anwesenheit von Ilse. Die Frauen haben stillschweigend eine Arbeitsteilung gefunden, mit der beide Seiten ausgezeichnet leben können. Hedwig putzt die Räume des Hauses, geht meistens einkaufen und kümmert sich um den Garten. Henriette kocht und wäscht für alle. Gemeinsam kümmern sie sich um Ilse. Hedwig genießt die Gartenarbeit. Es macht ihr ungeheuren Spaß mit den bloßen Händen in der schwarzen Muttererde zu graben, wenn sie Setzlinge, die sie vorher in Blumentöpfen herangezogen hat, in die Beete verpflanzt. Im Frühjahr streut sie Blumensamen aus und sieht beinahe täglich nach, ob die Saat schon aufgegangen ist. Als die ersten grünen Spitzen die Erdkruste durchstoßen, ist Hedwig fasziniert, wie solch eine einfache Kombination aus Wasser und Erde diese komplexen Gebilde keimen lassen kann, obschon sie weiß, daß zum weiteren Gedeihen Licht als auch Wärme nötig sind. ´Nur das Feuer ist der Feind alles Lebendigen´, denkt sie. Jetzt erst merkt sie, was ihr auf dem Kahn gefehlt hat. Hedwig sieht sich wieder als Kind, wie sie auf dem Boden hockend mit einer kleinen Schaufel die Erde durchwühlt hatte. Dieses Leben mit und in der Natur, den Pflanzen, hat sie weitaus stärker geprägt, als ihr all die Jahre bewußt war. Aber der ausgedehnte Garten hinter dem Haus ist mehr als nur Zierde, er ist auch ausgesprochen nützlich. Auf den Beeten wachsen verschiedene Sorten an Salat, daneben Kohl und Möhren sowie jede Menge Kräuter. Das selbst gezüchtete Gemüse ist eine kostengünstige Ergänzung zum Speisezettel. Noch ahnt keiner in der Familie, daß es in wenigen Jahren zum überlebenswichtigen Teil der Ernährung werden wird.
Der Sommer vergeht, der Herbst zieht ins Land. Eines Tages bringt der im Rentenalter stehende Postbote einen schwarz umrandeten Brief ins Haus. Hedwig nimmt den Brief in Empfang, eine Absenderangabe fehlt. Mit zittrigen Händen öffnet sie den Umschlag. Heraus zieht sie eine Karte, auf ihr steht eingerahmt in großen gedruckten Lettern:
AM 19. OKTOBER 1942 FAND UNSER GELIEBTER
SOHN, BRUDER UND ENKEL
FRITZ REUTER
IN DEN FLUTEN DES ATLANTIKS SEIN NASSES
GRAB
„Oh Gott“, hört man Hedwig leise murmeln. In ihrer Erinnerung erscheint Fritz, wie er unbeschwert mit Kobold über das Deck der ´Minerva´ tollte. Sie meint, fast sein Lachen zu vernehmen. ´Er war so voller Optimismus für sein weiteres Leben´, fährt es ihr durch den Kopf. ´Ich muß seinen Eltern ein paar Zeilen der Anteilnahme schreiben, aber das wird schwierig. Leider ergab sich nie eine Gelegenheit, sie persönlich kennenzulernen.´ Während Frau Schmid noch grübelt, wie sie diesen Kondolenz-Brief möglichst einfühlsam formulieren kann, stürmt ihre Tochter zur Haustür herein. „Mama, Mama“, ruft sie laut. Sie sieht ihre Mutter im Wohnzimmer stehen und läuft auf sie zu. Der Schulranzen auf ihrem Rücken wippt auf und ab und sein Inhalt klappert vernehmlich. Ilse ist so auf ihre eigene Gedankenwelt fixiert, daß sie den Kummer im Gesichtsausdruck der Mutter nicht wahrnimmt, stattdessen plappert sie munter drauflos. „Mama, unsere Lehrerin hat mich vor der ganzen Klasse gelobt, wie sauber ich die Buchstaben schreib´.“ Mit einem mühsam aufgesetzten Lächeln erwidert Hedwig: „Na, da freu´ ich mich aber, setz´ dich gleich an den Eßtisch. Henriette hat deine Leibspeise gekocht. Vorher wasch´ dir aber noch gründlich die Hände.“ „Juchhu“, jauchzt Ilse. Gerade will sie sich umdrehen, um der Aufforderung ihrer Mutter brav Folge zu leisten, da bemerkt sie eine Träne auf ihrer Wange. „Hast du geweint, Mama?“, fragt sie besorgt. „Ja, ein bißchen“, gibt diese ehrlich zur Antwort. Ilse wendet sich wieder ihrer Mutter zu und umarmt sie zärtlich, möchte sie trösten. „Weshalb hast du geweint?“, Hedwig schluckt mehrmals heftig, bevor sie antwortet. Sie muß sich arg zusammenreißen, damit ihr beim Sprechen nicht erneut die Tränen in die Augen schießen. Hedwig setzt sich und nimmt die Tochter auf den Schoß, überlegt, wie sie ihr die furchtbare Nachricht möglichst kindgerecht beibringen soll. Zögerlich beginnt sie: „Vorhin hat der Postbote einen Brief gebracht, die Eltern von Fritz haben ihn geschickt.“ „Warum hat er uns nicht selber geschrieben? Ist Fritz krank?“, will Ilse ahnungslos wissen. „Nein, Fritz ist nicht krank, aber er kann uns leider nicht mehr schreiben.“ „Weshalb kann er uns denn nicht mehr schreiben?“, fragt Ilse verstört. „Du weißt doch Ilschen, daß Fritz mit einem großen Boot, das tauchen kann, über das Meer gefahren ist. Das Boot ist gesunken und Fritz ist ---- ertrunken.“ Erneut schimmert es in den Augen von Hedwig verräterisch feucht. Mit dem Wort ´ertrunken´ kann Ilse etwas anfangen, denn seit klein auf hat sie stets die mahnenden Worte ihrer Eltern und ihres Großvaters in den Ohren: ´Ilschen, paß auf, fall´ nicht über Bord, sonst ertrinkst du.´ Ilse weiß also, daß das Ertrinken etwas ganz Schlimmes ist. „Und wenn jemand ertrinkt, dann stirbt er“, fährt Hedwig mit ihren Erklärungen fort. Betroffen blickt Ilse ihre Mutter an. „Ist Fritz jetzt im Himmel? Kann er uns von oben sehen?“ „Ich glaub´ schon, daß der Herrgott unseren Fritz zu sich in den Himmel geholt hat. Vielleicht kann er uns sogar von dort aus beobachten“, antwortet Hedwig. „Darf uns Fritz besuchen?“, fragt Ilse mit kindlicher Logik. „Ich fürcht´, Ilschen, das geht nich´ so leicht.“ „Warum geht das nich´, erlaubt´s der liebe Gott nicht?“, will Ilse hartnäckig wissen. Hedwig gerät langsam in Erklärungsnot, was soll sie darauf bloß antworten. „Ich glaub´, Gott würd´s ihm schon erlauben, wenn er wollte, aber sicher gefällt´s Fritz im Himmel so gut, daß er da gar nicht mehr weg will.“ Hedwig ist mit ihrer Antwort äußerst zufrieden und erleichtert, daß ihr spontan diese einleuchtende Erklärung eingefallen ist. Ilse befriedigt die Antwort hingegen weniger. „Nicht mal ´nen Tag will er uns besuchen?“, insistiert sie mit weinerlicher Stimme. Hedwig ist ratlos, was soll sie ihrer Tochter darauf bloß erwidern. „Das is´ so“, beginnt sie umständlich, „wenn jemand stirbt und in den Himmel aufsteigt, dann muß er seinen Körper auf der Erde zurücklassen, denn der is´ ja viel zu schwer für den weiten Weg.“ Ilse hört aufmerksam zu. „Hat der liebe Gott auch keinen Körper?“, unterbricht sie die Ausführungen ihrer Mutter. „Richtig, Gott hat keinen Körper. Deshalb is´ er ja für uns Menschen unsichtbar.“ „Also is´ Fritz jetzt auch unsichtbar!“, folgert Ilse messerscharf. „Ganz genau! Du könntest Fritz gar nicht seh´n, selbst wenn er uns besuchen würd´.“ Das leuchtet Ilse ein, doch da kommt dem kindlichen Gehirn ein neuer Gedanke. „Aber Fritz kann doch bestimmt noch sprechen und wir könnten ihn zumindest hören.“ Hedwig gehen die Argumente aus. In ihrer Not greift sie zu einer kühnen Behauptung: „Achte genau auf das Rauschen der Blätter im Wald, Ilschen, oder das Plätschern der Wellen im Bachlauf, dann kannst du möglicherweise die Stimme von Fritz vernehmen.“ Sofort möchte Ilse zum nahen Dorfbach laufen, denn allein dort kann sie dem Hinweis ihrer Mutter nachgehen, weil die Bäume zu dieser Jahreszeit fast keine Blätter mehr tragen. Die Mutter erlaubt es nicht, da Henriette mit dem Essen wartet.
Am Mittagstisch zeigt Hedwig Henriette die gedruckte Todesmitteilung. „Im Krieg trifft´s immer die Jüngeren zuerst“, meint Henriette traurig und fährt fort: „Im Dorf haben wir bereits zwei Mütter und eine junge Frau, die Schwarz tragen. Ich befürcht´, bis zum Ende werden´s noch Einige mehr sein.“ Ganz leise fügt sie, zu Hedwig gewandt, hinzu: „Man munkelt hinter vorgehaltener Hand, daß es an der Ostfront nicht zum Besten bestellt sei und unsere Soldaten in immer verlustreichere Kämpfe verwickelt werden.“ „Die Lehrerin hat gesagt, daß wir uns an der Tapferkeit der Soldaten ein Beispiel nehmen sollen und der Sieg von uns allen Opfer verlangt“, meldet sich Ilse altklug zu Wort. Hedwig blickt finster vor sich hin und schimpft halblaut: „Ich glaubte bisher, daß die Lehrerin euch Kindern das Rechnen, Lesen und Schreiben beibringt und nicht solch einen Unsinn.“ „Psst“, entfährt es Henriette erschrocken, „sag´ so was nich´ zu dem Kind. Denk´ dran, Ilse könnt´ deine Worte unbedarft in der Schule wiedergeben. Heutzutage wird man wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung schnell denunziert.“