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Feuer oder das Tetraeder
ОглавлениеSeit Hedwigs Berliner Reise sind einige Monate vergangen. Den einzigen Trost, den die Familie in dieser Zeit fand, ist ein Schreiben des Internationalen Roten Kreuzes aus Genf, das Frau Mühlberger vor rund drei Wochen erreichte. Darin wird ihr mitgeteilt, daß der Unteroffizier Walter Mühlberger lebt und in sowjetische Gefangenschaft geraten ist. Von Kurt gibt es dagegen keinerlei Nachrichten. Die Behörden hüllen sich in eisernes Schweigen. Henriette hat eine Bekannte, deren Mann wegen angeblicher Sabotage zeitweise in ein Arbeitserziehungslager eingeliefert worden war, und bittet sie, den Ehemann über dessen Haftzeit auszufragen. Zwei Tage darauf treffen sich die Frauen beim Einkaufen wieder. Henriette will wissen, was ihre Bekannte in Erfahrung bringen konnte. „Leider kann ich dir gar nichts sagen“, erklärt sie und zuckt mit den Schultern. „Inständig hab´ ich meinen Mann gebeten Einzelheiten zu schildern, aber er weigerte sich beharrlich. Bei seiner Entlassung hätt´ man ihm unmißverständlich klar gemacht, er würd´ sofort wieder in das Lager gesteckt werden, falls er auch nur ein Sterbenswörtchen über die Haftbedingungen draußen verlauten ließ´. Mein Mann hat furchtbare Angst, er möcht´ um alles in der Welt nich´ noch mal in so´n Lager gesteckt werden.“
Das Jahr neigt sich dem Ende zu, als Ilse Schneider, der Mutter von Hedwig und Sieglinde, ein amtliches Schreiben zugestellt wird, es ist ein Einschreiben. Solche förmlich zugestellten Schriftstücke einer Staatsmacht verheißen selten Gutes. Ilse kramt in ihrer Kittelschürze nach der Brille und beginnt zu lesen. Beim Lesen werden ihr die Knie weich. Kraftlos sinkt sie auf den nahen Küchenstuhl. Das Schreiben entgleitet ihren Händen und flattert zu Boden. „Mutter Gottes Maria, sag´ was haben wir dir angetan, daß du uns so hart strafst“, murmelt sie mehrmals vor sich hin. Erst nach einigen Stunden ist sie in der Lage einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Sie zieht ihren Mantel an, setzt sich einen Hut auf, nimmt ihre Handtasche und steckt das Behördenschreiben ein. Anschließend verläßt sie das Haus Richtung Bahnhof. Eine Stunde später steht sie bei Sieglinde vor der Haustür. „Mutter! Was is´ passiert?“, entfährt es Sieglinde bei ihrem Anblick erschrocken. Die Mutter ist totenbleich im Gesicht. „Da lies“, sagt sie tonlos und nimmt das Schreiben aus ihrer Handtasche. Sieglinde beginnt zu lesen:
Standesamt Weimar
Außenstelle Lager Buchenwald
Betreff: Kurt Schneider, geboren 10.5.1882
Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihr Mann am 30. Oktober 1943 nach kurzer schwerer Krankheit verstorben ist.
Die Beerdigung findet am 5. November 1943 um 15 Uhr in Buchenwald statt.
„Das ist ja bereits morgen!“, stellt Sieglinde schockiert fest. In ihrem Gehirn überschlagen sich die Gedanken. „Wir müss´n uns beeilen, du gehst gleich zur Post und telegraphierst Hedwig, dann kehrst du nach Haus´ zurück. Währenddessen bring´ ich die Kinder zum Schwiegervater und komm´ so bald als möglich nach. Morgen in aller früh fahren wir gemeinsam nach Weimar.“
Ilse macht alles, was die Tochter ihr aufgetragen hat. Im Zug starrt sie unentwegt aus dem Abteilfenster, aber sie nimmt nicht die untergehende Sonne und die schnell länger werdenden Schatten wahr, sondern ganz andere Bilder. Vor ihren Augen steigt erneut die Szene von Kurts Verhaftung empor. Es war kurz nach neun Uhr abends gewesen, als die Glocke an der Haustür energisch schellte. Sie hatten sich noch darüber gewundert, wer zu so fortgeschrittener Stunde zu ihnen wollte. Kurt war in die Diele hinausgetreten, um die Tür zu öffnen. Von der Wohnstube aus hatte sie einen erregten Wortwechsel vernommen, beunruhigt war sie ihrem Mann gefolgt. In der Diele waren zwei Männer mittleren Alters gestanden, ein größerer und ein kleinerer. Sie hatten Ledermäntel angehabt. Die Verhaftung war rasch vonstatten gegangen. Da die Polizeibeamten in Zivil es für überflüssig hielten, daß sie ihrem Mann einige Toilettenartikel und Wäsche zum Wechseln mitgab, hatte sie an keine längere Trennung geglaubt, geschweige denn an einen Abschied für immer. Ilse steht deutlich die kräftige Gestalt Kurts vor Augen, wie er sich ein letztes Mal umdrehte und ihr beschwichtigend zurief, sie möge sich nicht ängstigen, er werde bald zurück sein. Dann hatten ihn die Beamten in den Fond ihrer Limousine gezwängt.
Am Abend holt Frau Schneider die schwarze Bluse und den schwarzen Rock aus dem Schrank hervor. Zuletzt hatte sie die Trauerkleidung auf der Beerdigung ihres Vaters getragen. Das war vor fast vierzehn Jahren gewesen. Sie probiert beide Teile an und stellt beruhigt fest, daß sie immer noch passen. Ilse hängt die Kleidungsstücke ins Freie, denn der Stoff riecht arg muffig. Sie macht des Nachts kein Auge zu, wälzt sich im Ehebett von einer Seite auf die andere. Sieglinde, die im Zimmer nebenan liegt, findet ebenfalls keinen Schlaf. Sie hing sehr am Vater, obwohl der ihre Schwester stets vorgezogen hatte. Gegen vier Uhr Morgens stehen die Frauen auf, kleiden sich an, trinken schweigend eine Tasse Malzkaffee und machen sich in der Finsternis zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Zur selben Stunde ist auch Hedwig auf den Beinen. Das Telegramm hatte sie gestern am Abend erreicht. Um erst zu ihrer Mutter zu fahren, war es zu spät gewesen, also hatte sie sich kurzerhand entschieden auf direktem Wege nach Weimar zu reisen, wo sie hofft, auf Mutter und Schwester zu stoßen.
Zehn nach zwölf dampft Hedwigs Zug in den Bahnhof von Weimar. Vom Bahnhofspersonal erfährt Frau Schmid, daß man den nächsten Schnellzug aus Frankfurt am Main kommend fahrplanmäßig in einer Viertelstunde erwarte. In diesem Zug müßten Mutter und Schwester sitzen, um noch rechtzeitig einzutreffen. Hedwigs Vermutung stellt sich als richtig heraus und zu ihrer großen Erleichterung entsteigen beide dem pünktlich eintreffenden D-Zug. Die Frauen haben es eilig, sie müssen schleunigst herausfinden, wo sich dieses Buchenwald befindet. Das ist leichter gesagt als getan. Die ersten Passanten, denen sie begegnen und die sie nach dem Ort fragen, kennen kein Buchenwald. Erst eine ältere Dame weiß Bescheid. „Sie meinen wohl die Kaserne und das Lager auf dem Ettersberg“, sagt sie. „Da geh´n sie zuerst die Paulinenstraße hinunter und biegen dann nach rechts ab in die Ettersburger Straße.“ Die Dame deutet mit ausgestrecktem Arm in die angegebene Richtung. „Nach ungefähr drei bis vier Kilometern gelangen Sie zu einer Abzweigung, linker Hand folgen Sie dem Weg durch den Wald, so kommen Sie direkt zum Lager.“ Müde erreichen die Drei gegen vierzehn Uhr dreißig die vor dem Lager liegende SS-Kaserne. Am Tor melden sie sich an. Sie übergeben das Schreiben des Weimarer Standesamtes dem Wachhabenden und werden in ein Gebäude geleitet, das sich direkt neben dem Eingangstor befindet. Kaum haben sie in einem ihnen zugewiesenen Zimmer Platz genommen, das außer einigen Stühlen und zwei Tischen völlig leer ist, hören sie draußen ein lautes Rufen, Schreien und das eilige Getrampel vieler genagelter Stiefel. Nach geraumer Zeit betritt ein SS-Offizier das Wartezimmer. Er erklärt ihnen kurz und bündig, daß laut den einschlägigen Vorschriften Angehörige von im Arbeitslager verstorbenen Häftlingen nicht der Beerdigung beiwohnen dürfen. Aber ausnahmsweise würde man ihnen aufgrund ihrer weiten Anreise gestatten, noch einen letzten Blick auf den Toten zu werfen. Zwei SS-Männer begleiten die Witwe und ihre beiden Töchter zum Aufbewahrungsort des Leichnams. Dazu müssen sie über das Kasernengelände und durch ein zweites Tor in den Bereich des Lagers marschieren. Sie laufen an unzähligen Baracken vorbei, deren Fensterläden dicht geschlossen sind. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Eine unnatürliche Ruhe herrscht überall. Sie erreichen ein langgestrecktes Gebäude, das Ähnlichkeit mit einem Pferdestall besitzt. Die beiden Bewacher führen die Frauen hinein. In einem der Räume liegt auf einem massiven Metalltisch, unter einem verschmutzten weißen Laken verborgen, eine Gestalt. Einer der SS-Leute schlägt das Tuch halb zurück. Ein bläulich aufgedunsenes Gesicht, an das sich ein abgemagerter Körper anschließt, kommt zum Vorschein. Ilse erkennt ihren Mann kaum wieder, auch die Töchter sehen wenig Ähnlichkeit zu ihrem Vater. Verstört und befremdet drehen sie sich um, wollen wieder gehen. Auf dem Weg zurück zum Tor beginnt Ilse, die beiden SS-Soldaten auszufragen. Sie wendet sich zuerst an den Älteren: „Sagen Sie mir doch ehrlich, woran mein Mann gestorben ist.“ „Das ist doch schnurzpiepegal. Ich würd´ mir an ihrer Stelle eher Gedanken darüber machen, ob man ihnen unter den gegebenen Umständen überhaupt eine Witwenrente bewilligt“, antwortet der Ältere kaltschnäuzig. Der zweite SS-Soldat überläßt dem Ranghöheren die Wortführung und bleibt auffallend schweigsam. Am Lagertor wird der Zyniker von einem Offizier wegbefohlen. Ilse unternimmt einen letzten Versuch, den verbliebenen SS-Mann zum Sprechen zu bewegen. „Sie könnten mein Sohn sein, so jung, wie Sie sind“, dringt sie auf den schwarz Gewandeten ein. „Erbarmen Sie sich bitte, erzählen Sie uns um Himmels willen, wie mein Mann zu Tode gekommen ist. Ich hab´ in meinem Leben schon ein paar Leichname geseh´n, jedoch so schlimm wie dieser hat davon keiner ausgeseh´n.“ Hedwig schätzt den SS-Bewacher auf höchstens zwanzig. Er wird unter den bohrenden Fragen ihrer Mutter immer blasser im Gesicht. Plötzlich kullern ihm Tränen über die Wangen, die er sich mit dem Ärmel seiner Uniformjacke verstohlen wegwischt. „Hören Sie auf zu fragen“, beginnt er leise, aber eindringlich zu reden, „ich darf ihnen nichts sagen. Vor zwei Jahren hab´ ich mich freiwillig zur SS gemeldet. Hätt´ ich auch nur im Entferntesten geahnt, auf was ich mich da einließ, glauben Sie mir, ich wär´ hundertmal lieber an die Front gegangen. Im Lager geschehen grausame Dinge, falls ich aber auch nur das Geringste darüber verlauten laß, sperren sie mich selber ein.“ Den letzten Satz flüstert er fast, dabei ängstlich sich umschauend. Einige Minuten später schließt sich das Kasernentor hinter den Frauen und sie treten den Rückmarsch an. Die ganze Zugfahrt hindurch sprechen Mutter und Töchter kaum ein Wort miteinander, jede versucht das eben Erlebte für sich zu verarbeiten.
Das Christfest naht mit Riesenschritten. Es ist die zweite Kriegsweihnacht, die kaum noch Anlaß zur Freude bietet. Viele Familien müssen das Fest ohne ihre Männer feiern. Obendrein wird die allgemeine Situation immer bedrohlicher. Die Wehrmacht wurde in ganz Ost- und Südeuropa in die Defensive gedrängt und muß nun Kilometer für Kilometer erobertes feindliches Territorium preisgeben, wobei die Propaganda das verschämt als Frontbegradigung ausgibt. Derweil tobt am Himmel über Deutschland ein gnadenloser Luftkrieg. Der Staat beginnt seine Reserven zu mobilisieren, immer mehr Männer werden aus dem Wirtschaftsleben abgezogen und müssen an die Front. Die Lücken werden zügig durch Arbeitskräfte aus dem besetzten Ausland gefüllt. Die allerwenigsten Fremdarbeiter kommen freiwillig. Während Hedwig vor noch gar nicht allzu langer Zeit bei den Behörden auf völliges Unverständnis stieß, als sie eine Ausbildung zum Rheinmatrosen begann, hat sich der Wind für die Frauen im Reich unerwartet gedreht. Nicht mehr nur Mutter und Hausfrau ist das erklärte Leitbild der Herrschenden, jetzt sind die Qualitäten des weiblichen Geschlechts auch an der Werkbank gefragt. Alle erwachsenen Frauen bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahr müssen sich zu diesem Zweck amtlich registrieren lassen. Doch scheinbar behagt in diesen Zeiten den Volksgenossinnen das Hausfrauendasein wesentlich mehr. Der größte Teil der verheirateten Frauen findet zwingende Gründe, daheimbleiben zu müssen. Auch Hedwig sowie Sieglinde beantragen die Zurückstellung vom Arbeitsdienst.
Sieglinde kündigt im Januar ihre Wohnung. Im April zieht sie mit den beiden Kindern in das Haus ihrer Mutter. Hedwig hilft der Schwester beim Packen. Das geht nur, weil Sieglindes bisheriger Wohnort nicht mehr als hundert Kilometer von Hedwigs eigenem Zuhause entfernt liegt, denn seit Neuestem sind private Eisenbahnfahrten über längere Distanzen verboten. Die Schienenwege sollen für kriegswichtige Güter freigehalten werden, so die amtliche Begründung.
Hans sieht seine Frau und seine Tochter nur noch selten. Er ist mit seinem Vater beinahe ununterbrochen auf dem Rhein unterwegs, unermüdlich transportierten sie mit ihrer `Minerva` Kohle und Erz vom und ins Ruhrgebiet. Die Geschäfte liefen für Partikuliere und Reeder noch nie so hervorragend. Heinrich verdient eine Menge Geld. Allerdings gibt es nur sehr beschränkte Möglichkeiten, die Gewinne wieder auszugeben. Aus diesem Grund steigt das Reichsmarkguthaben Heinrichs bei seiner Bank kräftig an. Unterdessen macht das Gerücht unter den Partikulieren die Runde, die großen Reedereien schmuggelten Teile ihrer Einnahmen angeblich über Basel in die Schweiz und würden dort ihre Reichsmark heimlich in Franken umtauschen. Offiziell sind solche Transaktionen strengstens verboten. Die Bestimmungen erlauben keine Ausfuhr nennenswerter Reichsmarkbeträge. Überdies verbietet ein Gesetz allen Staatsbürgern des Deutschen Reiches den Besitz von Devisen.
Anfang Juni war die seit längerem erwartete und befürchtete Invasion der alliierten Streitkräfte in der Normandie erfolgt. Unmittelbar davor hatten die Luftangriffe der Amerikaner und Engländer auf Wohngebiete und Industrieanlagen im Reich merklich nachgelassen. Dafür wurden nun nordfranzösische Verkehrsknotenpunkte um so heftiger von den Alliierten attackiert. Zahlreiche französische Zivilisten verloren durch dieses Bombardement ihr Leben.
Jetzt Mitte Oktober, nachdem sich die feindlichen Armeen durch Frankreich, Belgien und Holland gekämpft haben und vor den Toren des Reiches stehen, fallen erneut Tag und Nacht Abertausende von Tonnen Spreng- und Brandbomben auf deutsche Städte.
Heinrich liegt mit seinem Kahn im Duisburger Hafen, es ist Samstagabend, tagsüber hatten sie Steinkohle übernommen. Morgen früh soll die ´Minerva´ mit ihrer Ladung nach Köln geschleppt werden. Hans, Heinrich und ihr polnischer Matrose Janusz sind hundemüde, jeder verkriecht sich nach dem schweigend eingenommenen Abendbrot in seine Koje. Während Heinrich vor dem Einschlafen darüber nachdenkt, ob er einen zweiten Kahn kaufen soll, der ihm letzte Woche relativ günstig angeboten worden war, denken Hans und Janusz an ihre Familien daheim. Kobold hat sich an Deck in eine windgeschützte Ecke verkrochen und leckt sich die Pfoten. Bald sind Mensch und Tier eingeschlafen. Kurz nach Mitternacht heulen die Sirenen. Fliegeralarm! Fluchend springt Heinrich aus dem Bett, schlüpft eilig in Hemd und Hose. Als er oben an Deck ankommt, steckt Hans gerade seinen Kopf aus dem Niedergang im Vorschiff, dicht hinter ihm erscheint das verschlafene Gesicht von Janusz. Die Männer eilen von Bord. Kobold, der sich freudig den Schiffern anschließen möchte, wird von Heinrich auf den Kahn zurückgeschickt. Das Ziel der Gruppe ist der Hochbunker beim Hafen, Tiere sind dort nicht erlaubt. Nach ungefähr zehn Minuten erreichen sie die dicke Stahltür des schützenden Bollwerks. Drinnen drängen sich dicht an dicht, bunt gemischt, Schiffsführer, Matrosen, Leute aus der Hafenverwaltung, Frauen, verstörte Kinder, wimmernde Säuglinge sowie zahlreiche Schauerleute. Viele der Schauerleute tragen auf der Brust ein weißes Stoffabzeichen mit den schwarzen Buchstaben OST, das weist sie als ukrainische oder weißrussische Zwangsarbeiter aus. Auf dem Hemd von Janusz ist ebenfalls ein Abzeichen aufgenäht, darauf ist der Buchstabe P gemalt, P bedeutet Pole. Nun beginnt das zermürbende Warten. Einige spielen im fahlen Licht einer nackten Glühbirne Karten, um sich abzulenken. Die Mehrheit kauert auf dem Boden, döst vor sich hin. Einige wenige Glückliche haben eines der aufgestellten Feldbetten ergattert und können ihre müden Glieder darauf ausstrecken. Die Luft wird bald stickig. Die Ausdünstungen der vielen Leiber verdichten sich zu einem unangenehmen stechenden Geruch. Nach ungefähr einer halben Stunde beginnt draußen ein Inferno, dumpf hallen die unzähligen Einschläge der niedersausenden Bombenflut durch die meterdicken Betonwände. Dazwischen hört man gedämpft das verbissene Hämmern der Flak, die auf dem Flachdach des Bunkers postiert ist. Wenn eine Detonation besonders nah ist, erzittern Wände, Decken und Böden des Betonkolosses. Die Insassen ziehen dann unwillkürlich ihre Köpfe ein, während feiner Zementstaub von oben herabrieselt, sich, wie ein grauer Schleier, auf Haare und Kleider legt. Den Kartenspielern ist die Lust an ihrer Beschäftigung vergangen, sie sitzen jetzt regungslos da, lauschen der vom Himmel herabstürzenden tödlichen Fracht. Das Bombardement scheint eine Ewigkeit zu dauern. Als endlich Entwarnung gegeben wird, strömen die Männer, Frauen und Kinder erleichtert, aber völlig übermüdet aus ihrer Schutzbehausung. Der Nachthimmel flimmert hell im Widerschein des Flammenmeeres. Die Stadt brennt lichterloh. An einigen Stellen des Hafenkais klaffen riesige Löcher, dort waren Sprengbomben eingeschlagen. Heinrich, Hans und Janusz laufen im Zickzack um diese Krater herum. Plötzlich explodiert nicht weit von ihnen entfernt eine der heimtückischen Zeitzünderbomben. Der enorme Luftdruck schleudert sie zu Boden. Hans rappelt sich hoch und blickt sofort zu seinem Vater zurück, der unmittelbar hinter ihm lief, als es krachte. Erleichtert sieht er, wie sich Heinrich schwerfällig aufrichtet. Hans redet auf ihn ein, doch sein Vater versteht ihn kaum. Später wird sich herausstellen, daß dem Schiffsführer beide Trommelfelle geplatzt sind. Er hilft dem Vater auf die Füße. „Wo ist Janusz?“, fragt Heinrich, kaum das er wieder aufrecht steht. Der polnische Matrose war nach dem Verlassen des Bunkers, aus einer Mischung von Unachtsamkeit und Müdigkeit, heftig gegen einen geborstenen Eisenträger gestoßen und hatte sich das Schienbein lädiert. So konnte er den beiden anderen Schifferleuten nur humpelnd folgen, weshalb er nicht besonders schnell vorangekommen war. Hans und sein Vater hasten zurück in Richtung Bunker. Hinter dem aufgeworfenen Rand eines Kraters hört Hans ein Röcheln, da liegt Janusz ausgestreckt auf der Erde. Vater und Sohn knien sich nieder, richten ihn vorsichtig auf. An Janusz Oberschenkel klafft eine große Wunde, ihr entströmen in pulsierenden Schüben enorme Mengen an Blut. „Ein herumfliegender Splitter muß seine Beinschlagader getroffen haben“, stellt Hans entsetzt fest. Heinrich nickt atemlos. „Wir müssen die Blutung irgendwie stillen, sonst stirbt er“, ergänzt Hans. Während er verzweifelt, unter Verwendung des Daumens, sein Taschentuch auf die Verletzung preßt, rennt Heinrich los, um Hilfe zu holen. Auf dem Hafengelände herrscht ein unbeschreibliches Chaos, zahlreiche Lagerschuppen brennen. Löschtrupps versuchen verzweifelt, das Feuer einzudämmen, aber das ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Heinrich stolpert über einen fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannten menschlichen Körper. Bald trifft er auf einen Sanka, in den Verwundete gehievt werden. Die Rotkreuzhelfer winken genervt ab, als Heinrich um Hilfe für Janusz bittet. Sie müßten sich vorrangig der etlichen Schwerverletzten annehmen, die gerade aus einem der verschütteten Keller geborgen werden, erwidern die überlasteten Samariter. Der Partikulier bleibt hartnäckig, er beschreibt die Stelle, wo sein Matrose verletzt wurde und ringt den Männern nach einigem Hin und Her das Versprechen ab, so bald als möglich die Unglücksstelle aufzusuchen. Als Heinrich schließlich ohne einen Helfer zurückkehrt, liegt Janusz bereits bewußtlos in Hans Armen. Noch immer sickert unaufhörlich Blut aus der Wunde. Das Taschentuch seines Sohnes hat sich in einen nassen roten Klumpen verwandelt. Hans war es nicht gelungen, den Blutverlust nennenswert zu verringern. Da rumpelt ein Sanitätsfahrzeug auf sie zu, aber nicht jenes, auf das Heinrich vorhin gestoßen war. Es hält, die Sanitäter steigen aus und beugen sich über den Bewußtlosen. Ein fachmännischer Blick genügt. „Hier ist nichts mehr zu retten“, stellt einer der Männer trocken fest, „seine Beinschlagader wurde zerfetzt, der is´ so gut wie hin.“ Diese nüchtern ausgesprochene Diagnose trifft die Schifferleute wie ein Keulenschlag, benommen nehmen sie das Gesagte zur Kenntnis und gemeinsam tragen sie den leblosen Körper zum Fahrzeug. Zuvor hatte einer der Helfer Janusz noch hastig einen Verband angelegt. Die Samariter notieren akkurat den Namen des tödlich Verletzten, dann fahren sie davon. Hans und sein Vater setzen tief deprimiert ihren Weg zum Schiff fort. Als sie den Kahn erreichen, erwartet sie das nächste Unheil. Die ´Minerva´ ist am Bug erheblich beschädigt, an der Steuerbordseite gähnt ein großes schwarzes Loch. Wasser ist in den Kahn eingedrungen. In der Unterkunft von Hans und Janusz steht das trübe Rheinwasser kniehoch. Ein Blechtopf schwimmt Heinrich entgegen, als er vom Niedergang aus den Schaden inspiziert. „Hast du Kobold geseh´n?“, fragt Heinrich seinen Sohn. „Nein“, antwortet dieser. Sie beginnen, nach dem Hund zu suchen. Heinrich ruft und pfeift abwechselnd nach ihm. Jede Ecke des Kahns wird durchforstet. Kobold bleibt spurlos verschwunden. Der Morgen dämmert heran, als die beiden Schiffer erschöpft ihre Suche aufgeben. Sie haben das komplette Hafengebiet durchkämmt. Schmutzig und unrasiert sitzen sie am Tisch in der Küche der Roef. „Wahrscheinlich hat die Luftmine, die auch das Loch ins Schiff gerissen hat, Kobold über Bord gefegt. Im Wasser is´ der Hund dann ertrunken, falls ihm nich´ schon vorher der Luftdruck der Detonation die Lungen zerstört hat“, mutmaßt Hans. Heinrich sagt nichts, denkt aber: ´Hätt´ ich doch bloß damals nicht zugestimmt, den Hund zu behalten.´ Ihm ist schrecklich elend zumute.
Um neun Uhr morgens erscheint ein Beamter der Hafenbehörde. Er begutachtet eingehend den Schaden und protokoliert alles auf das Genaueste, macht jedoch dem Partikulier keinerlei Hoffnung, daß in absehbarer Zeit genügend Material zur Verfügung stehen werde, um das Schiff einigermaßen reparieren zu können. Der Beamte sorgt jedoch dafür, daß die ´Minerva´ geleichtert wird. Im Laufe des Vormittags geht ein zweiter Kahn längsseits und die wertvolle Kohle wird umgeladen. Anschließend schleppt man die ´Minerva´ vom Kai weg, um Platz für unbeschädigte Boote zu schaffen. Jetzt liegt Heinrich mit seinem Kahn ganz am Rande des Duisburger Hafens. „Von diesem Abstellgleis kommen wir so bald nich´ wieder runter“, meint er resignierend zu seinem Sohn.
In den folgenden Tagen muß sich Hans Schmid im stehengebliebenen Rest des Duisburger Rathauses melden. Dort wird dem Schiffer formlos mitgeteilt, daß man ihn als Luftschutzwart verpflichte, weil der Kahn, auf dem er bisher als Matrose fuhr, nicht mehr einsatzfähig sei. In der Kleiderkammer im Keller des Rathauses verpassen sie ihm eine schlecht sitzende Uniform. Er untersteht ab sofort dem örtlichen Luftschutzkommando. Heinrich Schmid bleibt ein solcher Dienst erspart. Er ist vor gut einem Monat fünfundsechzig Jahre alt geworden und damit offiziell im Rentenalter. In der Zwischenzeit setzt er alle Hebel in Bewegung, um zu erfahren, was aus Janusz geworden ist. Auf Umwegen erhält er die Auskunft, daß sein polnischer Matrose, so wie es die Sanitäter prophezeit hatten, gestorben war. Wo und wie er beerdigt wurde, kann ihm seine Informationsquelle leider nicht angeben, vermutlich in einem Massengrab.
Von allen diesen Geschehnissen ahnen Hedwig und Henriette nichts. In ihrem Dorf am Rhein verläuft der Alltag beinahe friedlich. Man sieht und hört zwar die Bomberströme am Himmel, aber die Dörfer auf dem Land werden von ihnen weitgehend verschont. Nur einmal herrscht im Ort helle Aufregung, als auf einem nahe gelegenen Acker ein getroffenes feindliches Jagdflugzeug notlanden muß. Die Dorfbewohner rotten sich zusammen, ihre Wut ist groß, da schon mehrmals der eine oder andere Bauer bei der Feldbestellung von Tieffliegern gejagt und aus Bordkanonen beschossen worden war. Fast wäre der verletzte Pilot gelyncht worden, wenn nicht der Pfarrer seine Schäfchen eindringlich ermahnt hätte, als Christenmenschen sich keinesfalls einer solchen Freveltat schuldig zu machen.
Am Abend des einundzwanzigsten Oktobers muß ein Sprecher im Rundfunk zugeben, daß die erste größere deutsche Stadt, und zwar Aachen, nach einigen Tagen heftigster Gegenwehr, in die Hände der Amerikaner gefallen ist. Hedwig und Henriette sitzen im Wohnzimmer, als die Nachricht über den Äther kommt, Ilse schläft bereits. „Wie lang´, meinst du, wird´s noch dauern?“, fragt Henriette. „Ich hoff´, daß es schnell geht, den verdammten Krieg können wir sowieso nicht mehr gewinnen. Diese Wunderwaffen, von denen dauernd gefaselt wird, sind doch reine Hirngespinste der Parteibonzen. Hitler ist ein Verbrecher und gehört baldmöglichst hinter Gitter.“ „Aber Stalin ist genauso schlimm“, wirft Henriette ein und meint: „Ich bin nur froh, daß bei uns im Westen die Amis oder die Tommies einmarschieren werden.“ Die Frauen wenden sich erneut ihren Stopf- und Flickarbeiten zu, hören dabei Musik. Für den Rest des Abends wird nicht mehr viel gesprochen.
Am nächsten Tag spaziert Heinrich unverhofft zur Tür herein. Die Behörden hatten ihm für diese private Fahrt eine Sondergenehmigung erteilt und eine Bahnfahrkarte ausgestellt. Auf dem Kahn in Duisburg auszuharren, wäre unter den gegebenen Umständen ziemlich sinnlos gewesen. Überdies hatte ihn der Anblick seiner waidwunden ´Minerva´ von Tag zu Tag mehr bedrückt. Einzig der Gedanke, daß in seiner Abwesenheit der Kahn wenigstens nicht völlig unbeaufsichtigt bleibt, da sein Sohn die Roef als Wohnung nutzt, beruhigte ihn etwas.
Währenddessen versieht Hans seinen Dienst als Luftschutzwart. Sobald Fliegeralarm gegeben wird, ist es seine Pflicht mitzuhelfen, die nicht gehfähigen Patienten eines Krankenhauses in die Luftschutzkeller zu tragen und nach der Entwarnung wieder zurück in ihre Betten. Eine andere Aufgabe ist da erheblich weniger schön. Nach heftigen Bombennächten muß der Trupp, dem er zugeteilt ist, in der Stadt ausschwärmen und Leichen einsammeln. Häufig sind die Opfer gräßlich verstümmelt, manchmal finden sie nur noch abgerissene Füße, Beine, Hände oder einzelne Köpfe. Diese menschlichen Reste werden dann in Kübeln gesammelt, fortgeschafft und verbrannt. Jeder Luftschutzwart erhält dafür eine Extraration Schnaps. Viele von ihnen sind während ihrer grausigen Arbeit betrunken, denn nüchtern läßt sich das auf Dauer schwerlich ertragen.