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5. Kapitel
ОглавлениеWährend der nächsten zwölf Monate fließt der Zeitstrom für Hedwig, Ilse und Heinrich gemächlich dahin. Jeder erledigt seine Aufgaben, seine Arbeiten wie in einem gut funktionierenden Uhrwerk. Das Staatsschiff Bundesrepublik Deutschland gleitet ebenfalls durch ruhige Gewässer. Einzig die von der Regierung und den westlichen Siegermächten ins Auge gefaßte Aufstellung einer neuen deutschen Armee, als Teil einer westeuropäischen Allianz, ruft in manchen Kreisen der Gesellschaft erheblichen Unmut hervor.
Übermorgen ist Silvester. Die ´Minerva´ und ihre Besatzung verbringt das Jahresende im Hafen von Karlsruhe. Dort liegt am Einunddreißigsten auch die ´Helena´ am Kai. Der Partikulier Herr Stark, dem dieser kleine Schleppkahn gehört, ist seit über zwei Jahrzehnten mit der Familie Schmid befreundet, sieben Jahre jünger als Heinrich, hat er spät geheiratet. Die Ehe ist kinderlos geblieben, seine Frau, die auch aus einer Schifferfamilie stammt, hatte mehrere Fehlgeburten gehabt. Als Hedwig erfuhr, daß man zur gleichen Zeit im selben Hafen liegen würde, lud sie spontan zu einem gemeinsamen Silvesterfest ein. Nach Jahren, in denen es kaum Anlässe zum Feiern gab, ist sogar Heinrich einem fröhlichen Beisammensein nicht abgeneigt, zumal sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse langsam aber stetig stabilisieren. Hedwig hatte am Vormittag zahlreiche bunte Luftschlangen, diverse Hütchen aus Pappe, einige Tüten Erdnüsse und Salzstangen als auch Bier, Wein, Limonade sowie eine Flasche Sekt gekauft. Zu dem bevorstehenden geselligen Abend lädt sie auch Herrn Carsten und dessen Sohn ein. Die Zwei wären ansonsten Silvester allein. Frau Carsten war während der Weihnachtsferien diesmal zuhause geblieben, da ihr jüngstes Kind wegen einer fiebrigen Erkältung das Bett hüten muß.
Es ist acht Uhr am Abend, als drei Generationen bestens gelaunt im Wohnzimmer der Roef um den großen Tisch versammelt sind, schwatzend, trinkend und an Salzigem knabbernd. Heinrich, Herr Stark sowie seine Frau gehören noch zu der Generation, die bewußt zwei Kriege durchzustehen hatte. Hedwig als auch Herr Carsten repräsentieren ein Zeitalter schmerzhafter politischer Brüche. Hingegen vertreten Sven und Ilse die ungewisse Zukunft einer gerade neu begründeten föderalen Republik, mit erheblich eingeschränkter Souveränität und bescheidenen historischen Wurzeln.
Jedem der Feiernden wurde am Beginn des Abends von Hedwig eines der gekauften Hütchen aufgestülpt und Luftschlangen um den Hals geschlungen. Tochter Ilse ist aufgekratzt, der erste Silvesterabend, den sie bis zum Ende mitfeiern darf. Ihre ausgelassene Stimmung wird obendrein gesteigert durch die Aussicht auf ein Glas Sekt. Es wäre zwar nicht der erste Tropfen Alkohol in ihrem Leben, denn bereits früher hatte Ilse einmal heimlich Schnaps aus Opas sogenanntem Giftschrank probiert, der jedoch überaus gräßlich geschmeckt, einen Hustenanfall verursacht und minutenlang im Hals gebrannt hatte. Daher ist es nicht so sehr das perlende Getränk, das Ilse reizt, als vielmehr die Tatsache, daß sie sich mit dem Sektglas in der Hand als halbe Erwachsene fühlen darf. Der stille Sven ist inzwischen etwas aufgetaut und beteiligt sich an der regen Unterhaltung. „Hast du dich auf dem Rhein schon eingelebt?“, will Ilse von ihm wissen. „Auf der Oder gefiel´s mir besser“, kommt zögerlich die Antwort. „Warum?“, hakt Ilse nach. „Ging gemütlicher zu“, erwidert er bedächtig. „Willst du eines Tages auch mal Schiffsführer werden?“, fragt Ilse höflich weiter. „Darüber hab´ ich nicht nachgedacht, macht außerdem keinen Sinn zu planen, kommt sowieso meißtens anders, als man will.“ Mit diesem Satz ist für Sven das Thema erledigt, aber Ilse möchte ihn aus der Reserve locken und tönt selbstbewußt: „Ich will die mittlere Reife mit guten Noten bestehen, und falls es Mutter erlaubt, anschließend eine höhere Schule besuchen. Ich lern´ gern, es macht mir Spaß.“ Ihr Großvater hat diesen Satz gehört und unterbricht sein Gespräch mit Herrn Stark. Zu seiner Enkelin gewendet sagt er: „Was hast du nur für wunderliche Flausen im Kopf. Ein Mädchen sollte lieber Freude am Kochen und Nähen haben. Ein tüchtiger Mann schätzt keine belesene Frau ….“ „Na, na“, fällt Herr Stark ihm ins Wort, „Heinrich, du mußt akzeptieren, daß sich die Zeiten geändert haben. Unsere Frauen haben nach dem Krieg, als ihre Männer gefallen oder in Gefangenschaft waren, sehr viel geleistet. Sie haben bewiesen, daß mehr in ihnen steckt, als nur eine tüchtige Hausfrau zu sein.“ Sven schüttelt den Kopf und betont mit altkluger Miene: „Ich find´ Herr Schmid hat vollkommen Recht, ein Mann muß seine Familie ernähren, während seine Frau sich hauptsächlich um Küche und Kinder kümmern sollte.“ „Sven was red´st du da! Wenn mein Schwiegervater solch eine Überzeugung vertritt, kann ich das noch verstehen, doch ein junger Mann wie du, der sollt´ den Frauen nun wirklich etwas mehr zutrauen“, tadelt ihn Hedwig heftig. Sven schweigt, hält es für opportun seine Ansichten nicht weiter zu verteidigen. Er möchte es sich mit Hedwig nicht völlig verscherzen. Schon gleich, nachdem er zum Arbeiten auf das Schiff gekommen war, hatte er ihre Antipathie verspürt. Derweil unterhalten sich Herr Carsten und Frau Stark über das neulich vom Parlament verabschiedete Lastenausgleichsgesetz für Flüchtlinge und Vertriebene. „So wie´s aussieht, werd´ ich wahrscheinlich bald eine Teil-Entschädigung für meinen verlorenen Kahn vom Staat erhalten.“ „Nein, nein nicht vom Staat“, erwidert Frau Stark aufgebracht. „Wir aus dem Westen, denen der Krieg noch etwas unzerstörten Besitz gelassen hat, müssen die Zeche bezahlen. Der Bundestag hat dazu extra eine Sonderabgabe beschlossen.“ Herr Carsten widerspricht: „Meiner Ansicht nach haben aber die im Westen enorm viel Dusel gehabt, denn sie wurden nicht wie jene im Osten enteignet. Neuerdings hilft uns der Ami mit seinem Marshall-Plan und pumpt Dollars in den Aufbau Westeuropas, davon profitieren wir doch alle.“ „Aber die Dollars sprudeln nur deshalb, weil Adenauer die Bundesrepublik zu einem engen Verbündeten der USA gemacht hat. Wär´ dagegen Kurt Schumacher von den Sozialdemokraten zum Bundeskanzler gewählt worden, hätt´ er Westdeutschland für neutral erklärt, um so angeblich die Chancen auf eine Wiedervereinigung zu wahren“, sagt Frau Stark und fügt erleichtert hinzu: „Da is´ mir der Geldsegen von Onkel Sam jedoch lieber.“ Herr Carsten nickt und meint: „In meiner Heimat Schlesien sitzen nun die Polen, auch ein vereintes Deutschland würd´ daran vermutlich nichts mehr ändern.“ „Da pflichte ich ihnen absolut bei“, bekräftigt Frau Stark die Worte von Herrn Carsten. An diesem Punkt mischt sich Hedwig in das Gespräch ein. „Heut´ ist ein viel zu schöner Tag, um über die häßliche Politik zu reden. Ich hab´ gehört, Elisabeth, du hast bei einem Preisausschreiben gewonnen.“ Frau Starks Augen beginnen zu leuchten. „Ja stell´ dir bloß vor, ich hab´ einen elektrischen Mixer gewonnen, nur haben wir dummerweise immer noch keinen Strom auf dem Kahn.“ „Das geht uns leider genauso. Ich würd´ zu gern auf dem Schiff manchmal Radio hören“, erwidert Hedwig. „Was meinst du Heinrich, lohnt sich´s auf unseren Kähnen Dieselgeneratoren zu installieren?“, fragt Herr Stark, als er hört, was seine Frau und Hedwig miteinander reden. „Ich hatt´ mal großartige Pläne, der Krieg hat sie mir alle genommen. Ich mag nich´ mehr. Mein Nachfolger soll sich drum kümmern“, resümiert Heinrich resignierend. „Denkst du ans Aufhören?“, fragt Herr Stark. „Eventuell in zwei oder drei Jahren“, antwortet Heinrich und ein vielsagender Blick streift Herrn Carsten. Dieser lächelt still vor sich hin, als er murmelt: „An mir soll´s nicht scheitern.“ Im Verlauf des weiteren Abends, mit zunehmendem Alkoholpegel bei den Erwachsenen, werden die Gespräche unernster, die Stimmung ausgelassener. Herr Stark unterhält die Anwesenden mit einigen anzüglichen Witzen, bis es seiner Frau zu viel wird. Sie ermahnt ihn zu bedenken, daß auch eine sehr junge Dame mit am Tisch sitzt. Hedwig schaut auf die Uhr. „Oh, in zehn Minuten is´ schon Mitternacht“, wirft sie ein. Alle erheben sich von ihren Stühlen. Heinrich entkorkt die teure Sektflasche, schenkt der Reihe nach ein und Punkt Zwölf prostet sich die Runde lautstark zu. Auch Ilse hält voller Stolz ihr halb gefülltes Sektglas in die Höhe. In der Stadt beginnen die Kirchenglocken zu läuten, man vernimmt das Krachen von Böllern.
Im neuen Jahr schafft Ilse mit Bravour die mittlere Reife auf der Ursulinen-Schule. Obzwar ihr Großvater heftig dagegen opponiert, setzt sie es mit Hilfe ihrer Mutter durch, daß sie in Mannheim bleiben darf, um dort das Moll-Gymnasium zu besuchen.
Bald nach diesem Schulwechsel erhält die Familie Schmid die Einladung zu einer Hochzeit. Die Braut heißt Hildegard Mühlberger, die Nichte und das Patenkind von Hedwig Schmid. ´Mir kommt´s so vor, als sei´s g´rad erst gestern gewesen, daß ich Hildegard als Säugling über das Taufbecken gehalten hab´, denkt Hedwig, nachdem sie die Einladungskarte gelesen hat. Der Tag der Trauung ist auf Samstag, den dreißigsten August terminiert. Der glückliche Bräutigam heißt Jim Warner. Er ist amerikanischer Soldat im Range eines Sergeanten, der bei den Besatzungsstreitkräften Dienst tut. Der GI ist in sein deutsches Fräulein über alle Maßen verliebt. Darum machte Jim seiner Freundin auch spontan einen Heiratsantrag, als er den Marschbefehl zurück in die Staaten erhielt, und Hildegard zögerte keine Sekunde, seinen Antrag anzunehmen. Sie brauchte aber mit ihren achtzehn Jahren, als noch Minderjährige, die Zustimmung der Eltern. Ihre Mutter Sieglinde stellte sich nicht quer, im Gegenteil, sie war ob des Ansinnens hocherfreut. Die Meinung des Vaters konnte nicht gehört werden, nach wie vor befindet er sich in russischer Kriegsgefangenschaft.
Während Hildegards Bruder schon vor einem Jahr, gleich nach Beendigung der Hauptschule, im Nachbarort eine landwirtschaftliche Lehre begonnen und den mütterlichen Herd verlassen hatte, war es mit Hildegard dagegen nicht so glattgegangen. Zwar hatte sie bereits vor drei Jahren ihre Pflichtschulzeit beendet, danach aber keine Lehrstelle oder Arbeit gefunden. Ihre Mutter behauptete seitdem beharrlich, daß dies allein der vom Vater ererbten Faulheit geschuldet sei. Deswegen war Hildegard notgedrungen zu Hause wohnen geblieben und mußte der Mutter als bessere Dienstmagd zur Hand gehen.
Sergeant Warner hat sich nicht lumpen lassen und einen ganzen Monatssold für die Festivität hingeblättert. Im Ort mietete er den gleichen Saal, der schon die Hochzeit von Sieglinde und Hedwig gesehen hatte. Außerdem läßt er die beste Kapelle aufspielen, die im weiten Umkreis für Geld zu haben war. Essen und Trinken gibt es soviel wie das Herz begehrt und der Magen verträgt. Die Brautmutter renommiert auf der Hochzeit mit ihren teuren nahtlosen Nylonstrümpfen, Made in USA, die ihr der angehende Schwiegersohn, aus Dankbarkeit für die Zustimmung zur Vermählung, vor einigen Tagen überreicht hatte. Auch findet man an ihrer Seite Herrn König, den Mann, den Hedwig anläßlich ihres ersten Besuchs nach dem Krieg in ihrem Elternhaus kennengelernt hatte. Frau Mühlberger macht mittlerweile keinen Hehl mehr daraus, daß dieser Herr nun zu ihrem Leben gehört und es ist ihr vollkommen egal, ob Nachbarn und Verwandte das unerhört finden. Großmutter Ilse ist gerührt. Die Tatsache, daß ihr erstes Enkelkind heiratet, veranlaßt sie des Öfteren ein Taschentuch zu zücken. Deutlich hört so mancher Hochzeitsgast, was sie mehrmals vor sich hinmurmelt: „Wenn das noch mein Kurt erleben könnt´.“ Als Tante und Patin der Braut plagt Hedwig das schlechte Gewissen. ´Ich hätt´ mich um Hildegard mehr kümmern sollen. Sie ist ja praktisch ohne Vater aufgewachsen und von meiner Schwester hat sie nie eine nennenswerte Unterstützung erfahren´, macht sie sich im Stillen Selbstvorwürfe, während die Braut mit vom Tanzen geröteten Wangen neben ihr sitzt und sich überschwenglich für das großzügige Hochzeitsgeschenk bedankt, ein goldgerändertes sechsteiliges Kaffeeservice. „Kannst du dich noch an deinen Vater erinnern?“, fragt Hedwig unvermittelt in den Wortschwall ihrer Nichte hinein. Verdutzt bricht Hildegard ihre Dankesrede ab, verstummt für einige Sekunden, bevor sie antwortet. „Deutlich kann ich mich nur an eine einzige Begebenheit mit ihm erinnern. Vater stand in der Küche und Mutter zankte wie üblich mit ihm. Er trug seinen guten Anzug. Ich glaub´ sie erwarteten Gäste. Meine Mutter schabte mit einer Reibe Äpfel für einen Kompott. Ganz plötzlich riß sie die Reibe hoch und schleuderte das Ding mit einem Wutschrei nach meinem Vater. Ich hab´ noch sein fassungsloses Gesicht vor Augen. Einen Augenblick lang blickte er sprachlos drein, während der Brei von seiner Anzugsjacke tropfte. Dann drehte er sich gelassen um, wischte seelenruhig einen Klecks Apfelmus von seiner Jacke, steckte den Finger in den Mund und meinte beim Hinausgehen: ´Du solltest dem Kompott noch etwas mehr Zucker beigeben.´ Diese Reaktion imponierte mir mächtig.“ „Deine Mutter war immer schon sehr temperamentvoll“, erwidert Hedwig lachend. „Erzähl´ mir bitte was von meinem Vater, Mutter redet kaum über ihn und wenn, dann nur abfällig.“ Hedwig lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, schlägt die Beine übereinander, bevor sie zu erzählen beginnt: „Dein Vater war, wie du vielleicht weißt, vor dem Kriege Vertreter für Weine und Spirituosen. Die Leut´ mochten ihn, er war um einen kessen Spruch selten verlegen, ohne je verletzend zu sein. Walter hatte lockige Haare und ein lustiges Grübchen am Kinn, manchmal trank er etwas zuviel, aber aggressiv wurde er dabei nie. Ich fand ihn …“ Hedwig bricht mitten im Satz ab, da Sieglinde auf sie zutritt. „Na, worüber unterhaltet ihr euch denn so angeregt?“, fragt sie teils spöttisch, teils neugierig. „Tante Hedwig erzählt mir von früher“, antwortet Hildegard schnell. „Ach, laßt doch die ollen Kamellen, gestern ist gestern und heut´ feiern wir deine Hochzeit“, entgegnet ihre Mutter vergnügt, bevor sie Hedwig mit sich fortzieht. „Du solltest dich unbedingt mal mit Hubert unterhalten. Er hat letzten Herbst aus den Trauben unseres oberen Südhangs eine ausgezeichnete Beerenauslese fabriziert. Dieser Wein ist neulich sogar prämiert worden.“ Während sich Hedwig widerwillig von ihrer Schwester entführen läßt, kommt Ilse auf ihre Cousine zu. Die Musiker machen mal wieder eine längere Pause, um sich am kalten Buffet zu stärken, derweil die Hochzeitsgäste umherspazieren oder redend und rauchend herumsitzen. An einem der Nachbartische amüsiert man sich gerade köstlich, dort klärt der muskulöse Bräutigam in seinem drolligen, gebrochenen Deutsch einige Gäste über die geheimnisvollen Ingredienzien einer dunkelbraunen Flüssigkeit auf, die es seit geraumer Zeit auch in Europa zu kaufen gibt. Das pappsüße Getränk nennt sich Coca-Cola.
Ilse fällt erschöpft auf den leeren Stuhl neben Hildegard. Sie tupft sich gutgelaunt mit einem seidenen blaßrosa Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn, ehe sie der Cousine eine Frage stellt, die ihr schon den ganzen Abend auf der Zunge liegt: „Hast du denn gar keine Angst, bald weit weg, unter völlig fremden Menschen zu leben, deren Sprache du kaum verstehst?“ „Ach woher, nich´ die Spur! Jim vergöttert mich. Er hat versprochen, daß wir drüben in einem eigenen Haus wohnen werden, in dem´s eine elektrische Waschmaschine und sogar einen Fernseher geben wird. Jim möcht´ schnellstmöglich ein Auto kaufen und ich darf den Führerschein machen. Merk´ dir eins, man muß nur den richtigen Mann erwischen, wo du dann mit ihm lebst, is´ völlig egal.“ In ihrer Stimme schwingt ein deutlich belehrender Ton gegenüber der um zwei Jahre Jüngeren mit. „Ich werd´ niemals heiraten! Zuerst muß ich das Abitur schaffen, danach möcht´ ich eine Banklehre absolvieren. Männer interessieren mich ehrlich gesagt nich´ sonderlich. Ja als Kind, da hab´ ich mal für unseren Schiffsjungen und späteren Matrosen Fritz geschwärmt, aber das is´ unendlich lang´ her. Fritz ist tot.“ Ob dieser Äußerung Ilses schwankt Hildegard zwischen zwei Reaktionen: Soll sie nun in Gelächter ausbrechen oder ihre Cousine eher bemitleiden. Letztendlich entscheidet sie sich aber dann für einen neutralen Gesichtsausdruck. „Kindchen, du wirst schon sehen, irgendwann kommt auch für dich der Richtige, dann überleg´ nich´ lang´.“ Ilse ärgert sich, von ihrer Cousine nicht für voll genommen zu werden, selbstbewußt erwidert sie: „Ich werd´ immer mein eigenes Geld verdienen! Ein Beruf ist mir allemal wichtiger als alle Männer dieser Welt zusammen.“ Jetzt muß Hildegard doch noch schallend lachen. „Wart´s ab“, meint sie prustend. Gleich darauf wird die Braut zum nächsten Tanz aufgefordert. Die Kapelle spielt, frisch gestärkt, einen Walzer.
Drei Wochen nach dem Hochzeitsfest, am selben Tag, an dem der berühmte Schauspieler Charlie Chaplin für immer die USA verläßt, schiffen sich Hildegard und ihr Mann in Bremerhaven ein, um in das Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten zu gelangen.
Hildegards Vater tritt ein Jahr darauf ebenfalls eine lange Reise in den Westen an, bei ihm führt sie jedoch über Land. Er wird zusammen mit etlichen tausend anderen Kameraden, auf endlosen Fahrten in Güterwagons, von Sibirien zurück nach Deutschland verfrachtet. Die Freilassung verdanken die Männer den neuen Machthabern im Kreml. Diese haben nach dem Tod von Stalin freundlicherweise beschlossen, ein etwas abgemildertes Regime zu führen.
Nach einem Monat erreicht der ehemalige Spirituosenvertreter und Ex-Unteroffizier Walter Mühlberger erschöpft, aber überglücklich, das Durchgangslager Friedland in Niedersachsen. Neu eingekleidet, bestens verpflegt und mit sechshundert Mark Startkapital in der Tasche, kann er es kaum erwarten, endgültig nach Hause zu fahren und seine Familie zu sehen. Daß diese Familie nur noch auf dem Papier besteht, seine Kinder längst eigene Wege gehen, seine Frau einen anderen Mann hat, ahnt er nicht. Auf seinem Weg quer durch Westdeutschland nimmt er staunend das geschäftige Treiben der Menschen, die zahlreichen Autos, die rauchenden Fabrikschlote wahr. Er sieht in den Städten, durch die er mit der Eisenbahn fährt, die langsam verheilenden Kriegsnarben, welche die Bombenflut der Sieger hinterlassen hat. Da wird ihm langsam klar, wie lang das Bild seines Landes und die Zeit selbst, in der Kälte Sibiriens eingefroren waren. Am Abend erreicht Walter seine alte Wohnung. Er erfährt von Nachbarn, daß sein Vater gestorben und Sieglinde mit den Kindern zu ihrer Mutter gezogen sei. ´Macht nichts´, denkt er. ´Ich hab´ so viele Jahre auf ein Wiedersehen warten müssen, da kommt ´s auf ein paar zusätzliche Stunden jetzt auch nicht mehr an.´ Weil es für eine Weiterreise zu spät geworden ist, sucht er sich eine billige Pension. In der Nacht findet er kaum Schlaf, die Vorfreude ist einfach zu groß.
Nach dem Aufstehen betrachtet Walter sein Gesicht prüfend im Spiegel, das Resultat verunsichert ihn erheblich. Das Spiegelbild hat nur noch geringe Ähnlichkeit mit einem Walter Mühlberger von vor zehn Jahren. Sein Haar ist weiß und tiefe Falten durchziehen die Haut. Er frühstückt, danach zögert er den Aufbruch hinaus und fährt erst gegen Mittag zum Dorf seiner Schwiegereltern. Als er am Nachmittag vor dem Haus steht, pocht sein Herz heftig, die Hand zögert, bevor sie die Klingel drückt. Die Schwiegermutter öffnet die Tür. Er hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. „Sie wünschen?“, fragt sie den vor ihr stehenden Herrn. „Ich bin´s, Walter“, antwortet er. Ilse beäugt ihn mißtrauisch, dann huscht ein zaghaftes Lächeln über ihre Lippen. „Walter, bist du´s wirklich!“, äußert sie skeptisch. „Hab´ ich mich denn so verändert?“, fragt er mehr rhetorisch, als wirklich überrascht, denn die Reaktion der Schwiegermutter verwundert ihn keineswegs. Er selbst würde seinem Spiegelbild nicht trauen, wenn er es nicht besser wüßte. „Nun ja“, meint sie zögerlich, „an uns allen nagt leider der Zahn der Zeit. Komm´ herein. Sieglinde is´ nich´ da. Sie is´ heut´ morgen in die Stadt gefahren, um einige Besorgungen zu machen.“ Ilse geht voran in die Wohnstube. Walter betrachtet sich die Einrichtung und bemerkt: „Es hat sich nicht viel geändert, die Vase dort stand schon damals an der gleichen Stelle.“ „Ja richtig“, erwidert Ilse lebhaft, „sie war das Geschenk einer Base zu meiner Hochzeit.“ „Das Photo von Schwiegerpapa hing aber vor zehn Jahren noch nicht an der Wand“, stellt Walter fest. Wehmütig betrachtet Ilse das Bild, bevor sie leise sagt: „Kurt war´n braver Mann.“ „Oh, ist er schon verstorben?“ „Schon lang´, die Gestapo hat ihn abgeholt und in ein Lager gesteckt, bald darauf war er tot.“ „Das tut mir leid.“ Ilse sieht Walter betrübt an und sagt dann vieldeutig: „Jeder muß sein eig´nes Kreuz tragen, auch unser Heilland trug´s in Demut.“ Ilse bekreuzigt sich. „ Setz´ dich, ich werd´ uns einen frischen Bohnenkaffee machen.“ Sie geht hinaus und Walter nimmt auf dem geblümten Sofa Platz. Als seine Schwiegermutter auf einem Tablett das gute Kaffeegeschirr hereinträgt, fragt er nach den Kindern. „Alfred macht auswärts eine landwirtschaftliche Lehre. Er is´ ein tüchtiger Junge. Hildegard hat letztes Jahr einen Ami geheiratet und is´ mit ihm nach Amerika gezogen. Sie schrieb uns vor drei Monaten, es ginge ihr blendend.“ Walter schüttelt ungläubig den Kopf. „Und ich stell´ sie mir immer noch als Kinder vor! Hast du von ihnen Photographien aus neuerer Zeit?“ „Ja, ein paar.“ Ilse holt aus der Schublade des Eichenbuffets eine von einem ausgeleierten Gummiband provisorisch zusammengehaltene Mappe heraus. Betulich breitet sie die darin steckenden Aufnahmen vor ihrem Schwiegersohn aus. Walter nimmt ein Photo nach dem anderen in die Hand und betrachtet andächtig die Gesichter, immer wieder schüttelt er leicht den Kopf dabei. Schweigen herrscht. Ilse geht nochmals hinaus, den versprochenen Kaffee aufzubrühen. Nach zehn Minuten kommt sie mit der gefüllten Porzellankanne, um deren Ausgußöffnung ein Tropfenfänger gespannt ist, den ein Plastikschmetterling ziert, ins Zimmer zurück. Walter ist nach wie vor in den Anblick seiner Kinder versunken. Gerade schenkt Ilse ihrem Schwiegersohn eine Tasse ein, als schwungvoll die Tür geöffnet wird und ein Mann die Stube betritt. „Hoppla, Sie haben ja Besuch“, wendet er sich gutgelaunt aber erstaunt an Frau Schneider. Die Angesprochene richtet sich verlegen auf und sagt förmlich: „Darf ich vorstellen, das is´ Herr König. Er betreut unsere Weinberge.“ Walter steht auf und die Männer schütteln sich die Hände. „Angenehm, ich bin der verloren gegangene Ehemann von Frau Mühlberger“, verkündet er flapsig. „Hallo, das ist aber eine Überraschung“, entfährt es Herrn König, wobei man seinem Tonfall durchaus entnehmen könnte, daß er die Überraschung für nicht besonders erfreulich hält. Doch Walter ist viel zu arglos, um irgendeinen Verdacht zu schöpfen. „Hoffentlich will meine Frau mich nach all den Jahren überhaupt noch haben“, fügt er scherzend hinzu. Ilse, die bisher nichts dazu gesagt hat, räuspert sich vernehmlich. „Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee?“, fragt sie Herrn König distanziert. „Warum nicht“, entgegnet dieser und setzt sich auf einen freien Sessel. Es entspinnt sich zwischen den Männern eine Unterhaltung über diverse Vorzüge der verschiedenen Rebsorten. Herr König äußert dabei die optimistische Ansicht, aus den Trauben des aktuellen Jahrgangs, einen exzellenten Wein zu keltern, vorausgesetzt, das Wetter spiele weiterhin mit. Ilse bleibt derweil auffallend still. Plötzlich vernimmt man ein Geräusch im Flur, unmittelbar darauf tritt Sieglinde durch die Wohnzimmertür. Die Männer erheben sich gleichzeitig. Bevor aber Walter, Ilse oder Herr König nur einen Ton sagen können, läuft Sieglinde schon auf Hubert zu und küßt ihn vertraulich auf den Mund. Erst nachdem Herr König diese Intimität nicht wie üblich erwidert, stutzt Sieglinde. Hubert deutet auf Walter, dem Sieglinde bisher kaum Beachtung geschenkt hat und erklärt: „Hier steht dein Mann.“ Walter ist wie vom Donner gerührt, hat das Gefühl der Boden unter seinen Füßen schwankt. Sieglinde erblaßt, geschockt stottert sie: „Hall´ hallo Walter, hab´ habe dich gar nicht erkannt.“ „Offensichtlich“, erwidert dieser tonlos. „Bitte setzt euch“, sagt Ilse beinahe flehentlich. Zögerlich sinkt Walter wieder auf das Sofa hinab, auch Hubert und Sieglinde nehmen Seite an Seite Platz. Nach dem Austausch einiger belangloser Floskeln macht Sieglinde ihrem Mann ein Angebot: „Du kannst gern´ die nächsten Tage hier wohnen, bist du was Neues gefunden hast. Das Zimmer von Hildegard steht leer.“ Walter lehnt die Offerte seiner Frau kategorisch ab. Er besteht darauf, sich ein Zimmer im Gasthof zu mieten. „Wie du willst“, meint Sieglinde gleichgültig, die sich rasch wieder gefangen hat. Schnell verabschiedet sich Walter und wird von Ilse an die Tür begleitet. „Mach´s gut Junge, wenn du irgendwas brauchst, meld´ dich“, sagt sie mütterlich und drückt ihm zum Abschied teilnahmsvoll beide Hände. Als Walter auf die Straße tritt, verschwindet gerade die Sonne als großer roter Feuerball hinter dem Horizont. ´Und ausgerechnet heut´ ist mein Geburtstag, nicht mal daran hat Sieglinde gedacht´, stellt er deprimiert fest, während er seinen Hut tiefer ins Gesicht zieht. Er schlägt den Mantelkragen nach oben, ihn fröstelt. Ob dies an dem aufkommenden kühlen Wind oder seiner inneren Verfassung liegt, wüßte er selbst nicht zu sagen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelingt es ihm endlich, sich eine Zigarette anzustecken, seine Hände zittern wie Espenlaub. Im Gasthof haben sie Zimmer frei. Walter sitzt auf einem wuchtigen Bett, fühlt sich komplett leer, wie ausgebrannt. Er vergräbt den Kopf in seinen schwieligen Händen. Lange hockt er in dieser Haltung regungslos da. Im Zimmer wird es langsam finster, ihm ist das egal. Er knipst das Licht nicht an.
Am nächsten Tag läßt sich Herr Mühlberger bis zum Mittag nicht in der Gaststube blicken, auch auf das intensive Klopfen der Wirtsleute reagiert er nicht. Irgendwann entschließt man sich, die Türe mit einem Zweitschlüssel zu öffnen. Der Wirt betritt zuerst das Zimmer und bleibt wie angewurzelt stehen. Der Gast hat sich mit seinem nagelneuen Schlips erhängt. Vier Tage später wird er beerdigt. Der Pfarrer des Dorfes weigerte sich strikt, Herrn Mühlberger mit dem Segen der Kirche zu Grabe zu tragen oder wenigstens eine Messe für den Toten zu lesen, denn nach der katholischen Lehre ist Selbstmord eine Todsünde und wird von Gott unweigerlich mit der Hölle bestraft. Deshalb fällt die Bestattungszeremonie entsprechend spartanisch aus. Ilse Schneider rang tagelang mit ihrem Gewissen, ob sie sich nicht möglicherweise durch die Teilnahme an dem Begräbnis versündigt. Selbstverständlich sieht sich Walters Witwe aus Gründen der Pietät genötigt, anwesend zu sein, als der Sarg der Erde übergeben wird. Aber sie fühlt sich verdammt unwohl dabei, um so mehr, als sie auf den Beistand ihres Lebensgefährten verzichten muß, der es vorzieht, dieser Beerdigung fern zu bleiben. Ein einziger Mensch am Grab trauert vorbehaltlos, es ist Alfred Mühlberger. Er hat seinen Vater all die Jahre arg vermißt, obwohl er sich nur schemenhaft an ihn erinnern kann. Außer diesen drei Familienangehörigen und den Totengräbern steht nur noch das Wirtsleuteehepaar am offenen Grab. Sie hielten eine Teilnahme für unumgänglich, schließlich war Herr Mühlberger in einem ihrer Gästezimmer aus dem Leben geschieden.
Kaum ist das obligatorische Trauerjahr vorbei, wird aus der Witwe Mühlberger die Ehefrau König. Die frischgebackene Frau König hatte sich zwischenzeitlich mit dem Gedanken getröstet, daß ein Scheidungsprozeß vermutlich länger gedauert hätte.
Im Kreise unserer Schiffer ereignet sich 1954 nichts, was der Erwähnung bedürfte. Einzig die im Juli stattfindende Fußballweltmeisterschaft versetzt Herr Carsten und seinen Sohn Sven eine ganze Woche lang in einen Freudentaumel. Immer wieder diskutieren sie den Verlauf des Endspieles und besonders deren zweite Halbzeit, in der es der deutschen Nationalmannschaft nicht nur gelungen war den doppelten Torrückstand aufzuholen, sondern zusätzlich das entscheidende dritte Tor zu schießen. Sie sind sich einig, der Sieg grenze fast an ein Wunder. Jedoch haben Wunder oftmals eine recht profane Erklärung, wie auch in diesem Fall. Etliche Zeit danach verdichtet sich nämlich das Gerücht, daß dem Wunder von Bern mit Doping etwas nachgeholfen wurde, was ein Spieler in späteren Jahren sogar mit seinem Leben bezahlen muß.
Im Jahr darauf besteht Ilse mit Glanz und Gloria ihr Abitur. Sie ist die Erste in einer langen Familientradition, die zu einem höheren Bildungsabschluß gelangt. Zwar ist Heinrich nach wie vor der Überzeugung, so ein Abitur sei reine Verschwendung an Energie und Zeit, besonders für Mädchen, aber insgeheim ist er trotzdem stolz auf seine Enkelin. Ilse bewirbt sich bei der Raiffeisenbank der nächstgelegenen Stadt. Falls sie dort eine Lehrstelle erhielte, könnte sie zu Hause wohnen bleiben und täglich mit dem Zug zur Arbeit fahren. Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten, zumal ihr Großvater der Bank als Kunde wohlbekannt ist. Fräulein Schmid wird prompt zu einem Vorstellungstermin gebeten und zwei Wochen darauf hält sie den gewünschten Lehrvertrag in Händen, den die Mutter unterschreiben muß, weil Ilse mit ihren neunzehn Jahren noch nicht mündig ist. Die Banklehre soll am ersten September beginnen, so wurde es im Ausbildungsvertrag festgelegt. Da es aber jetzt erst Anfang Juni ist, kann die frischgebackene Abiturientin noch volle drei Monate ihre Freiheit genießen. Ilse wird den ganzen Sommer auf dem Kahn ihres Großvaters verbringen, man hatte dies wie selbstverständlich beschlossen. Es wird zwar erwartet, daß sie auch gelegentlich mit anpackt, ansonsten darf sich Ilse jedoch erholen. Darüber hinaus hegt ihr Großvater die heimliche Hoffnung, seine Enkelin könnte sich in dieser Zeit vielleicht doch noch für Sven Carsten erwärmen.