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Kapitel 2

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Die ambulance wartete schon am Polizeianleger im Hafen von Arcachon. Die Sanitäter stützten Pierre Lascasse, während er mühsam vom Boot stieg.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Lieutenante Giroudin, als Luc wieder auf der Barkasse war und der Krankenwagen Richtung Centre Hospitalier d’Arcachon davonraste.

»Er wird wohl den Tag über zur Beobachtung bleiben müssen«, antwortete der Commissaire, »ich besuche ihn dann später. Und wir«, er bemühte sich um ein Lächeln, »fahren einfach wieder hinaus. Wir können das Boot von Monsieur Lascasse abholen, und mein Vater kann den Sonnenaufgang doch noch sehen …«

Alain Verlain stand am Heck des Bootes und prüfte mit dem Oberbootsmann die beiden Yamaha-Motoren. Die beiden lachten und fachsimpelten, dass es Luc in die Glieder fuhr vor Rührung. Er freute sich auf den Sonnenaufgang – mit seinem Vater. Aber er wollte auch noch mal hinaus auf das Bassin, um zu prüfen, ob nicht doch andere Züchter auf Booten unterwegs waren, die etwas gesehen haben konnten.

Oberbootsmann Diallo löste die Leinen und stieß das Boot vom Anleger ab, und schon steuerte Lieutenante Giroudin es mit sicherer Hand wieder aus der engen Rinne. Dann drehte sie sich um und rief durch das offene Fenster hinaus: »Monsieur Verlain, möchten Sie das Steuer übernehmen? Dann kann ich mir mal einen Kaffee einschenken.«

Es dauerte keine drei Sekunden, schon stand Lucs alter Herr freudestrahlend am Steuerrad und manövrierte das Gendarmerieboot am kleinen Leuchtturm vorbei und hinaus auf das Bassin.

»Merci, Madame«, sagte Luc, als er neben Lieutenante Giroudin auf der weiß gestrichenen Truhe mit den Schwimmwesten im Bug saß. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«

Sie goss dampfenden Kaffee aus ihrer Thermoskanne in zwei Becher, reichte Luc einen und trank sofort den ersten heißen Schluck.

»Ich möchte mir den Moment nicht mal vorstellen, an dem ich nicht mehr hinaus aufs Meer kann. Und für alte Seebären wie Ihren Vater und mich gibt es eben nichts Besseres als reichlich Wasser unterm Kiel.«

Sie lächelte sanft. Auch Luc nahm einen Schluck aus seinem Emaillebecher, der starke Kaffee belebte ihn augenblicklich.

»Sie sind ein eingespieltes Team«, bemerkte Luc. »Das fühlt sich sicher gut an …«

»Wir sind das halbe Jahr über jede Nacht bis in den Morgen hier draußen, auch dann, wenn es so kalt ist wie heute – zum Glück ist es selten so kalt«, sagte sie lachend, »und da hilft es in der winzigen Kabine, wenn man sich gut versteht. Und nicht zu viele Worte wechseln muss, nur um etwas zu sagen. Und die Männer …«, sie stockte, »akzeptieren mich.«

»Warum sollten sie es auch nicht?«, fragte Luc. »Sie sind eine erfahrene Bootsführerin und eine bemerkenswerte Frau.«

Sie schwieg und sah auf den Horizont, auf die Spitze des Cap Ferret, wo es langsam immer heller wurde.

»Noch zehn Minuten«, sagte sie, »dann beginnt der Tag. Riecht nach Schnee.«

»Das hab ich auch schon gedacht«, antwortete Luc. »Sagen Sie, das war eigenartig vorhin. Meinen Sie, Monsieur Lascasse war wirklich draußen, um seine Austern zu holen?«

»Möglich«, antwortete sie. »Wenn die Lager knapp werden, müssen die Züchter manchmal schnell reagieren. Denn sie haben ja nur die beiden Chancen am Tag, wenn Ebbe ist. Sonst kommen sie nicht an ihre Austern. Andererseits …«

Luc sah sie aufmerksam an.

»Andererseits war da etwas in seiner Stimme, er klang merkwürdig. Na ja, war vielleicht nur der Schock …«

»Oder er wollte Austern stehlen?«

Sie zuckte die Schultern.

»Möglich. Wir werden ja sehen, was sich auf seinem Boot findet. Seine Austern, fremde Austern, on verra

»Wie steht es denn um die Austerndiebe? Wird immer noch so viel geklaut?«

»Ach, Commissaire … Sie wissen ja: Die Austernzüchter sind selbst das größte Problem – denn sie sind es, die sich gegenseitig beklauen. Wir haben eine Videoüberwachung für das Bassin vorgeschlagen, damit wäre das Problem gelöst worden. Doch die Wahl hätte einstimmig ausfallen müssen, wegen dieser lausigen Datenschutzverordnung. Und Sie ahnen schon, wie die Wahl unter den Züchtern ausging – sie haben abgelehnt, die große Mehrzahl hat gegen die Kameras gestimmt. Sie sehen, hier schützen sich alle gegenseitig. Und wir von der Gendarmerie, wir haben dieses kleine Boot – auf diesem riesigen Teich, wir können nicht überall gleichzeitig sein. 155 Quadratkilometer Bassin gegen sechs Quadratmeter Boot – Sie können sich’s ja vorstellen …«

Luc nickte und blickte kurz nach hinten, wo, das Steuerrad fest in Händen, sein Vater stand. Die Sonne erhob sich in diesem Augenblick hinterm Cap Ferret über das Land und tauchte die Kabine und das Boot und die kleinen Wellen ringsum in ein strahlendes gelbes Licht – ein gleißendes Bonjour des Wintermorgens.

Sein Vater, das Fernglas im Anschlag, steuerte das Boot mit mittlerer Geschwindigkeit in Richtung Banc d’Arguin, dorthin, wo das Boot von Pierre Lascasse immer noch vor Anker lag.

Luc sah ihn an den beiden Cabanes tchanquées vorbeilenken, den Holzhütten auf Stelzen, die mitten im Wasser standen und von denen aus man früher die Austernparks bewacht hatte. Heute waren sie nicht mehr in Benutzung, waren aber als Sehenswürdigkeiten stehen gelassen worden. Vor ihnen lag nur noch der Austernpark von Mimbeau, dann ging es hinaus aufs offene Meer.

Luc trank noch einen Schluck Kaffee.

»Na, wir werden ja sehen, was Monsieur Lascasse uns nachher erzählen …«, sagte er, als er von seinem Vater unterbrochen wurde, der ganz anders klang als sonst: »Lieutenante Giroudin, Luc …«, rief er, »dort, seht, dort vorne …«

Die Kapitänin sprang auf, und Luc folgte ihr hinein in die kleine und völlig überhitzte Kabine, wo Alain immer noch mit der Hand Richtung Austernpark zeigte: »Dort … seht … dort ist …«

Er gab Lieutenante Giroudin das Fernglas.

Luc konnte mit bloßem Auge beim besten Willen nicht erkennen, was sein Vater meinte – er sah nur die Austerntische, die eben in der Flut verschwanden und die hölzernen Pfähle, die in dem riesigen Park die Grenzen zwischen den einzelnen Austernzuchten zogen.

»O Gott«, rief Lieutenante Giroudin und schlug sich die Hand vor den Mund, »das ist ja …«

Sie reichte das Fernglas an Luc weiter. Der blickte in die Richtung, die sie ihm wies. Nun sah er die Austerntische ganz klar und deutlich, und suchte langsam von links nach rechts das Gebiet ab.

»Dort, an den Pfählen«, sagte Alain.

Und dann sah auch Luc es.

»Mon Dieu«, sagte er, leise, während er spürte, wie die Lieutenante das Steuer wieder übernahm und das Boot noch mal beschleunigte, um in Richtung Austernpark zu rasen.

»Wir müssen uns beeilen«, rief er, »gleich sind sie unter Wasser …«

Das kleine Boot pflügte nun mit großer Heckwelle durchs Wasser, der Bug stand hoch, und erst kurz vor dem Austernpark nahm die Lieutenante den Gashebel langsam zurück.

»Gibt es Wathosen?«, fragte Luc.

»Hinten«, sagte die Lieutenante.

Der Commissaire ging zu Oberbootsmann Diallo, der ihm sofort eine Hose reichte, bevor er selbst eine anzog.

»Los, wir müssen sie dort rausholen …«

Sie gingen längsseits nahe der Pfähle vor Anker, und sofort ließen sich Luc und der Schwarze ins Wasser runter, indem sie sich mit den Händen am Boot festhielten, um nicht gleich unterzugehen. Die eisige Kälte des Meeres nahm Luc den Atem, er spürte, wie das Wasser ihn von allen Seiten umschloss, spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte, aber nun galt es, schnell zu sein. Dann hatte er Boden unter seinen Füßen, das Wasser ging ihm bis knapp über die Schultern. Die beiden Pfähle waren etwa zehn Meter entfernt.

»Los, halten wir uns aneinander fest«, rief Diallo, und Luc gab ihm seine Hand. Zusammen wateten sie schwerfällig auf die beiden Pfähle zu, auf die beiden bleichen Köpfe, deren Kinne das Wasser schon erreicht hatte, aber noch waren die Münder frei, die Nasen, die Augen. Luc konnte in die Augen des einen Mannes sehen – und nun wusste er, dass er sich nicht mehr beeilen musste. Die Augen waren weit aufgerissen.

Er erreichte den Mann, Diallo ging zu dem anderen, der drei Meter neben ihm am anderen Pfahl im Wasser stand. Luc tauchte nun auch mit dem Kopf unter, schloss die Augen aus Reflex, öffnete sie dann aber sofort wieder und sah die Taue um den Körper des Mannes, dünne Seemannstaue – jemand hatte ihn an den Pfahl gefesselt, um ihn der Flut zu überlassen.

Er tauchte hinter den Pfahl, versuchte, die Knoten zu lösen, aber sie waren fest, sie schienen unter Wasser noch fester geworden zu sein, sich enger zusammengezogen zu haben. Luc tauchte wieder auf.

»Messer«, rief er zum Boot hinüber, »ein Messer …«

Alain griff zu einem Bootsmesser und warf es in hohem Bogen genau in Lucs Hand. Der tauchte wieder unter und fing an, das Tau aufzuschneiden, es brauchte drei Anläufe. Dann riss das Seil, und der Körper löste sich, bekam sofort Auftrieb und glitt an die Wasseroberfläche, Luc stützte ihn, spürte, wie leicht er war, tauchte wieder auf und sah, dass auch Diallo seinen Mann schon losgemacht hatte. Er trug ihn auf seinen Händen. Die Flut stieg immer höher. Schon war auch Lucs Hals unter Wasser. Sie mussten sich beeilen. Zudem zehrte die Kälte an ihrer Kraft.

Luc sah zu Diallo. »Lebt er?«, rief er hinüber.

»Keine Ahnung. Wir müssen machen, dass wir hier rauskommen.«

Sie mühten sich ab, und endlich war da das Boot, und mit Hilfe von Bootsmann Arnoult schafften sie es, die beiden Männer an Bord zu hieven, dann reichte Alain seinem Sohn die Hand und zog ihn hinauf, Luc wiederum half Diallo.

Erschöpft sank er an Bord zu Boden, aber sein Vater rief: »Sofort die Hose aus, alle Klamotten aus, eine Minute in die Kabine … Sonst holst du dir den Tod.«

Doch statt den Worten direkt Folge zu leisten, stand Luc auf und ging zu dem zweiten jungen Mann. Er kniete sich hin und fühlte den Puls, betrachtete die blauen Lippen, die fahle Haut, die längst einen lila Schimmer angenommen hatte. Er schüttelte den Kopf, sah Diallo an. Dann stand er mit letzter Kraft auf und ging zur Kabine. Die Hitze dort drinnen traf ihn wie ein Schlag, seine Haut begann zu kribbeln, er rieb seine Hände aneinander, dann sank er auf der kleinen Sitzbank zusammen, und ihm schwanden die Sinne.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er als Erstes seinen Vater, der mit dem Flachmann vor seinen Augen herumwedelte.

»Na, da bist du ja wieder, Junge. Ich wollte mir schon Sorgen machen. Hier, trink.«

Luc nahm einen kräftigen Schluck und sah an sich herab. Offenbar war es sein Vater gewesen, der ihm die nassen Sachen ausgezogen und ihn in eine Decke gehüllt hatte.

»Wie lange war ich weg?«

»Ach, vielleicht zehn Minuten.«

»Ganz normal«, sagte Lieutenante Giroudin, »die Kälte raubt einen aus. Dort liegt eine Uniform der Gendarmerie – wenn Ihr Dienstherr es erlaubt, können Sie die anziehen, sobald Sie Ihre Finger wieder spüren.«

Luc verkniff sich ein Lächeln. Der Dienstherr der Police Nationale, der Innenminister, und der oberste Gendarmerie-Heeresführer, der Verteidigungsminister, waren sich traditionell nicht grün – es war ein ständiges Kompetenzgerangel. Darauf hatte sie angespielt, und dennoch musste Luc in dieser Sekunde eher darüber nachdenken, ob sie ihn nackt gesehen hatte. Kindischer Gedanke, schalt er sich, er wäre fast erfroren dort unten. Als er sich nach Minuten wieder ganz bei Kräften fühlte, sagte er: »Papa, hältst du das Boot in der Rinne, bitte? Lieutenante Giroudin, kommen Sie mit hinaus?«

Sie traten in die kalte Luft des nun hellen und sonnigen Morgens, gingen zu den beiden Männern, die am Boden lagen, lang ausgestreckt, das Wasser tropfte aus den Sachen, die Augen schauten leer in den Himmel.

Luc kniete sich hin und betrachtete die Männer. Er hatte sich in ihrem Alter geirrt, die Kälte, das heranströmende Meer, es hatte die Gesichter verzerrt.

»Sie sind sehr jung. Jugendliche fast.«

Lieutenante Giroudin nickte. Sie wies auf den rechten der beiden. »Er kommt mir bekannt vor«, sie kratzte sich am Kopf, »aber ich komme gerade nicht auf seinen Namen.«

»Keine sichtbaren Verletzungen. Ich rufe gleich die Spurensicherung. Die müssen sich alles genau ansehen.«

»Sollen wir in den Hafen fahren?«

»Nein. Wir müssen hier draußen bleiben. Ich will hier alles absichern lassen. Wir machen die Untersuchungen hier draußen. Und Lieutenante Giroudin: Halten Sie absolute Funkdisziplin. Keine Ansagen à la ›Mord auf dem Bassin‹. Ich will, dass nichts nach außen dringt. Wer weiß, wozu es gut ist.«

»D’accord, Commissaire.«

Luc scheute die Öffentlichkeit, bevor er nicht mehr wusste. Er hatte in Paris gelernt, dass es oft half, Ermittlungsdinge für sich zu behalten. Er wandte sich zur Kabine.

»Papa?«

»Oui?«

Alain trat hinaus und kam zu ihnen. Luc wies auf die beiden Jungs. Sein Vater betrachtete sie, kniete sich neben seinen Sohn, berührte den rechten der Jungen kurz, dann beugte er sich zu dem linken und schloss in einer schnellen Geste dessen Augen. Luc ließ ihn gewähren.

»Das ist Vincent Pujol aus Gujan-Mestras. Und das ist François Labadie, sein Vater hat eine Hütte im Port de Larros. Herrgott.« Seine Augen röteten sich mit einem Mal. »Gute Jungs. Du, Luc, hast sie nicht mehr kennengelernt. Obwohl doch, Vincent vielleicht, er war noch ein kleines Kind, als du nach Paris gegangen bist. Er müsste jetzt … neunzehn … gewesen sein.«

Natürlich hatte sein Vater die Jungs gekannt – Luc hatte keinen Zweifel gehabt.

»Herrgott«, sagte Alain noch einmal, »die beiden waren die besten Freunde. Ein Herz und eine Seele, wirklich. Wie …« Dann versagte Lucs altem Herrn die Stimme.

Der Commissaire stand auf und griff zum Telefon. Sieben Uhr durch. Er wählte, sie antwortete sofort, klang vergnügt.

»Ciao caro«, sagte sie, und als er ihre sanfte Stimme hörte, vergaß er für einen Moment das Bild, das sich ihm hier bot. »Wie war die Fahrt mit deinem Dad? Ich geh gerade zum ersten Kaffee hinunter zu Jean, wann kommst du zurück? Ich freu mich so auf dich …«

»Wir werden uns sehr bald sehen, aber du musst zu mir kommen. Wir haben zwei Leichen auf dem Bassin gefunden.«

»Ihr habt was?«

»Sie waren an zwei Pfähle gebunden, im Austernpark. Zwei junge Männer, mein Vater hat sie eben identifiziert. Bring alle mit, Hugo, die Spurensicherung, alle. Nehmt ein Boot im Hafen von Arcachon und dann rast hierher. Und kein Wort zu irgendwem. Absolute Funkstille.«

»Herrjeh, Luc. Wo du aufschlägst, ist aber auch wirklich immer was los.«

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