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Kapitel 3
ОглавлениеDer Pathologe beugte sich zu den Toten herunter, die immer noch an Bord des Gendarmeriebootes lagen. Bei dem Wetter bestand keine Gefahr, dass die Verwesung schnell einsetzte, hier war es kälter als im Leichenschauhaus.
Luc kannte den jungen Mediziner von seinem ersten Fall in der Aquitaine, ein eitler Gockel, der von Anfang an ein Auge auf Anouk geworfen hatte – nein, der Commissaire mochte den Pathologen nicht sonderlich.
»Schwierig zu sagen«, murmelte der in das Geräusch der kleinen Wellen, die am Boot leckten, »der Körper lag unter Wasser, der Kopf aber nicht, das macht die Temperaturmessung schwierig. Ich würde sagen, der Todeszeitpunkt war irgendwann zwischen drei und fünf Uhr am Morgen.«
Anouk stand dicht neben Luc, und allein dieser Umstand sorgte dafür, dass der Commissaire nicht mehr so stark fror. Nur unwesentlich lag es auch an der Sonne, die mittlerweile hoch am Himmel stand und die Szenerie unwirklich erscheinen ließ: die Umrisse der Halbinsel Cap Ferret, das sonnengeflutete Bassin d’Arcachon, die kalte klare Luft, und dann all die Polizisten auf diesem Boot, der Pathologe in seiner weißen Schutzkleidung und die beiden Leichen an Deck – Schönheit und Grauen so nah beieinander.
»Sehen Sie hier«, sagte er, und Anouk und Luc traten näher heran, auch Lieutenante Giroudin lugte über Lucs Schulter. »Ich kann es noch nicht mit Gewissheit sagen, aber ich würde mein Cabrio darauf verwetten, dass bei diesem jungen Mann diese Wunde die Todesursache war.«
Der Commissaire sah genauer hin. Er hatte den Kopf vorhin nicht eingehend untersucht. Aber richtig. Dort, am Hinterkopf war eine kreisrunde Wunde, in der Mitte war die Haut aufgerissen, dort war Blut ausgetreten.
»Ein Schlag?«, fragte Luc.
»Wahrscheinlich.«
»Ein Schlag auf den Hinterkopf …«
Vincent hatte seinen Mörder also vermutlich nicht kommen sehen.
»Und was hat den anderen Jungen getötet?«
»Den muss ich auf dem Tisch haben«, antwortete der Pathologe. »Hier am Kopf ist auch irgendetwas nicht in Ordnung, aber ich kann es in dieser verdammten Kälte wirklich nicht sagen.« Der junge Mann stand auf und rieb sich die kalten Hände. »Also, wann bringen Sie die Männer zu mir nach Bordeaux?«
»Wir warten auf Niedrigwasser, ich will die Szenerie darstellen, so wie wir sie vorhin vorgefunden haben.«
»Gut. Dann nehme ich das Boot zurück und warte auf Ihre beiden Klienten. Aber im Warmen.«
Luc nickte, und der Mann nahm seinen Koffer und kletterte vom Gendarmerieboot auf das der Brigade nautique der Police Nationale.
Alain Verlain trat zu Anouk und Luc und betrachtete die beiden jungen Männer nachdenklich.
»Furchtbar, Monsieur Verlain, dass Sie das hier mitansehen müssen«, sagte Anouk.
»Ich kannte diese beiden Jungs schon, als sie noch in ihren Kinderschuhen steckten«, antwortete Lucs Vater, »und nun – wo eigentlich ich dran sein sollte, diese Welt zu verlassen, gehen sie noch vor mir. Das ist wirklich nicht fair.«
Er schraubte die Flasche mit dem Calvados auf und bot Anouk davon an. »Nicht mehr viel drin, Mademoiselle, nehmen Sie nur …«
Anouk nahm die Flasche und trank einen großen Schluck.
»Es bringt mich beinahe um den Verstand, mir vorzustellen, wie ihr nachher zu den Labadies gehen müsst – François war ihr ein und alles. Und dann auch noch die Pujols, mein Gott, was müssen die alles mitmachen.«
»Ist Fred Pujol nicht dieser alte Griesgram, der seine Austern schwarz verkauft?«, fragte Luc. Er erinnerte vage, sich vor dem riesenhaften Züchter mit dem grauen Vollbart als Kind immer gefürchtet zu haben.
»So könnte man Fred beschreiben, wenn man ihm unrecht tun will«, gab Alain Verlain zurück. »Oder man könnte sagen, dass er ein Mann ist, dem das Glück nun wirklich noch nie in seinem Leben zugefallen ist. Aber das hier …«, er zeigte auf den toten Vincent, »ist wirklich die Katastrophe schlechthin.«
Luc legte den Arm um die Schultern seines Vaters. »Ach, Papa. Dass wir an diesem Tag in eine solche Tragödie schlittern …«
»Die Welt ist ein verrückter Ort«, gab Alain zurück und wischte sich über die Augen. »Aber nun geh ich wieder ins Warme und lasse euch eure Arbeit machen, Kinder. Seht, das Wasser geht schon zurück.«
Er hatte recht. Die Strömung hatte umgedreht, nun wurde das Wasser wieder aus der Bucht herausgedrückt, in Richtung Atlantik, so, wie es sich alle zwölf Stunden wiederholte. Anderswo, in der hektischen Welt von Paris, galt es, den Tag in Termine aufzuteilen, die einem der Kalender des Smartphones mitteilte. Hier draußen auf dem Bassin herrschte der Rhythmus, den einem der Mond vorgab, indem er Ebbe und Flut produzierte, in sechsstündigem Wechselspiel, fein säuberlich und gut planbar nach dem Gezeitenkalender.
»Noch zwei, vielleicht zweieinhalb Stunden«, sagte Luc, »dann können wir endlich da runter auf die Austernbank und nachgucken, ob die Spurensicherer hier etwas finden können.«
»Und dann müssen wir die Eltern informieren. Herrjeh«, sagte Anouk. »Kannst du dir vorstellen, was die hier draußen wollten?«
Als sie die Frage stellte, blitzte bei Luc eine Erinnerung auf.
»Mein Gott, das habe ich ja völlig vergessen.«
»Was denn, Luc?«
»Bevor wir die Leichen gefunden haben, an den Pfählen, da haben wir einen Austernzüchter gerettet, der niedergeschlagen worden war, draußen auf der Sandbank von Arguin. Irgendwer hat ihn zurückgelassen, ohne sein Boot, er wäre dort ersoffen, wenn wir nicht gekommen wären. Nun, mit den beiden Toten, steht das noch mal in einem anderen Licht da.«
»Ich hab über Funk gar nichts davon gehört.«
»Wir konnten noch keinen Bericht absetzen, wir waren gerade auf dem Weg, sein Boot zu holen, als wir die beiden fanden.«
Anouk runzelte die Stirn.
»Ein Verrückter, der auf dem Bassin Jagd auf Austernzüchter macht?«
»Ja, du hast recht. Klingt nicht sehr wahrscheinlich. Aber egal, kannst du bitte in Arcachon anrufen, damit sie einen Gendarmen vor die Tür des Austernzüchters setzen? Er liegt dort im Krankenhaus.«
»Klar, das mache ich.«
Anouk ging in Richtung der kleinen Kabine, die nun voller Menschen war, die ersten Mitarbeiter der Spurensicherung, Alain, die Lieutenante.
Luc sah ihr nach. Sie war hinreißend in ihrer Winterkluft, mit der dicken Wollmütze, unter der ihre dunkelbraunen Haare hervorblickten, dem grauen Schal, der dicken Jacke.
Doch dann wandte er sich wieder den beiden jungen Männern zu und erschauderte. Was war hier passiert, in dieser Nacht?