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Prolog Miniatures Galeries Lafayette, Boulevard Haussmann, Paris 9e Le samedi 28 novembre, 16:48
ОглавлениеSie war einfach unglaublich. Diese Kuppel.
Jetzt zur blauen Stunde leuchtete sie lila. Die Glasfenster schienen förmlich zu glühen. Und die grauen Streben teilten diesen unwirklich schönen Anblick in fassbare Abschnitte.
Julie sah entzückt hinauf, wie jedes Mal, wenn sie das Erdgeschoss des Kaufhauses betrat und erst einmal innehielt, um sich überwältigen zu lassen.
Um sie herum liefen schick angezogene Kundinnen kreuz und quer, die Arme tütenbehangen.
Doch Julie stand da wie angewurzelt und beobachtete, wie das Licht die Emporen und Balkone der oberen Etagen in einen ganz besonderen Glanz tauchte.
Endlich besann sie sich auf ihren eigentlichen Plan: Nur hier durchhuschen, schließlich wollte sie ins Nachbargebäude. Sie durfte nicht in Versuchung geraten, noch ein Kleid für das Weihnachtsfest zu erstehen oder ein neues Parfum. All das kostete viel Geld, das sie nicht hatte. Das sie brauchte, um ihre kleine, völlig überteuerte Wohnung in Saint-Germain zu bezahlen.
Sie hatte sich ans Prioritätensetzen gewöhnen müssen. Ihr Vater hatte gesagt: »Natürlich kannst du in Paris studieren. Wir zahlen dir das schon. Aber nicht mit allem Schnickschnack.« Studieren und Miete und neue Klamotten, das würde nicht gehen. Und ihr Großvater hatte immer gesagt: Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
Doch einen Luxus gönnte sie sich immer noch – und das war der Luxus, auf den sie jetzt zusteuerte.
Schließlich war morgen der erste Advent. Und den würde sie mit ihren Freunden angemessen begehen, in ihrer kleinen Wohnung im zweiten Stock der Rue de Buci Nr. 54. Die Freunde hatten versprochen, den Champagner mitzubringen. So weit musste das Geld reichen.
Dafür war es an ihr, der Tochter des Austernzüchters, für das leibliche Wohl zu sorgen. Sie lief die Rolltreppe hinab, immer tiefer den feinen Düften entgegen.
Unten war Glitzerzeit, Weihnachtszeit, Hochzeit der Genüsse. Die schwarzen Trüffel aus dem Périgord waren auf einem eigenen Tisch ganz am Anfang der Gourmetabteilung ausgelegt. Knapp dahinter hatte die Champagnermarke Taittinger einen Werbestand aufgebaut.
Ein Vertreter der Gänsestopfleberproduzenten aus der südlichen Gascogne strich seine ausgesuchte Ware auf krosse Baguettescheiben, zum Probieren für die Pariser Kunden – die Tierschützer hatten in Frankreich einen schweren Stand.
Doch Julie ließ sich nicht beirren, sie wusste, wonach sie suchte, und ihr Gang war zielstrebig: zur Kühltheke, hinter der zwei Männer mit weißen Fischverkäuferschürzen warteten. Der eine, ein dicker, gemütlicher, lächelte sie freundlich an.
»Mademoiselle, was darf ich Ihnen Gutes tun?«
Sie betrachtete die Kisten mit einem Lächeln, weil sie diese Zeremonie des Suchens und Aussuchens so liebte.
»Alors«, fuhr der Verkäufer fort, »wir haben die Belon-Austern aus der Südbretagne, außerdem ganz frisch heute Morgen reingekommen die platten Austern aus Cancale, die werden Sie lieb…«
Er brach ab, als er sah, wie sie den Kopf schüttelte und auf die Kiste neben ihm zeigte.
Les Huîtres d’Arcachon stand in gelben Lettern auf schwarzem Grund auf deren oberem Rand. Da lagen sie, fein säuberlich übereinandergeschichtet. An manchen klebte noch ein wenig Seegras, einige hatten im Meer bizarre Formen angenommen.
Der Geruch von Salzwasser war plötzlich so intensiv, dass sie sich für einen Moment nach Hause versetzt fühlte, obwohl der Ozean doch weit weg war. Julie überlegte, dass sie denjenigen, der die Felsenaustern aus den poches, den Austernsäcken, geholt hatte, sicherlich kannte, wahrscheinlich von Kindesbeinen an.
»Aus welchem Betrieb stammen die?«, fragte sie, und die beiden Verkäufer tauschten einen raschen Blick.
»Chevalier, aus Arcachon«, sagte der Dicke, ohne zu zögern.
Julie nickte. Chevalier. Der Platzhirsch. Der bedeutendste Austernzüchter am Bassin. Zehnmal so viele Tonnen Produktion wie ihre eigene Familie. Vielleicht sogar zwölfmal so viele. Letztes Jahr hatte er schon wieder einen Betrieb aufgekauft. Ihn sich einverleibt, wie die Leute am Bassin raunten.
»Wollen Sie probieren, Mademoiselle?«
»Non, merci«, gab sie zurück, »haben Sie noch Austern von anderen Betrieben aus der Gegend?«
Der Verkäufer schüttelte den Kopf.
»Die kommen erst kurz vor Weihnachten. Im Moment haben wir aus der Aquitaine nur diese.«
Sie zog eine Augenbraue hoch.
»D’accord. Dann geben Sie mir sechs Dutzend creuses aus der Bretagne, s’il vous plaît.«
Der Verkäufer wechselte wieder einen raschen Blick mit seinem Kollegen, dann griff er nach der Holzkiste mit den flachen Austern aus Cancale und begann, sie vorsichtig übereinanderzulegen.
Julie Labadie verehrte die Austern aus Arcachon, sie zog sie allen anderen vor und hielt die bretonischen Meeresfrüchte für gnadenlos überschätzt. Und dennoch würde sie sich eher mit dem Austernmesser die Hand aufschlitzen – was ansatzweise ohnehin schon oft genug passiert war –, als Bertrand Chevalier auch nur einen Euro hinterherzuwerfen.