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Hochhaussiedlung Les Canibouts, Nanterre, westlich von Paris
Le samedi 28 novembre, 17:35
ОглавлениеDiffus fiel das spärliche Licht des trüben Winterabends durch das kleine Wohnzimmerfenster, das mit einem Laken verhängt war, weil es so zog.
Karim trat durch die Balkontür hinaus und zündete sich den Joint an, den er eben geradezu ehrfurchtsvoll gerollt hatte. Ein langer Zug, noch einer, ganz tief saugte er den würzigen Qualm in seine Lunge. In der Hoffnung, dass seine Stimmung gleich, wenn das Licht gänzlich verschwunden war, endlich besser würde. Wobei der Blick nach unten keinerlei Anlass für gute Stimmung gab. Die Funzeln dort auf der Rue de l’Agriculture waren immer noch nicht eingeschaltet. Die verdammten Wichser in der Stadtverwaltung sorgten sich stets darum, dass die Innenstadt von Nanterre glitzerte wie ein Weihnachtsbaum, aber hier in der Banlieue durften sie ruhig im Düstern in die kleinwagengroßen Schlaglöcher stolpern.
Die Hochhäuser jenseits der Straße waren wie ein Spiegelbild zu seinem eigenen, auf dessen baufälligem Balkon in der elften Etage er stand. Grauer Beton mit schmalen Sehschlitzen, die woanders Fenster wären. An allen Balkonen riesige Satellitenschüsseln, die nach Nordafrika wiesen. Wäsche trocknete in der feuchtkalten Luft, eine einsame Trikolore hing im zweiten Stock gegenüber wie Hohn.
Eine ganze Weile ließ Karim dieses Beinahe-Stillleben auf sich wirken: die Flagge, die sich im leichten Wind immer mal wieder aufblähte, die Neonleuchten in den Wohnungen gegenüber, die eine nach der anderen angingen und der Dunkelheit trotzten, der ausgebrannte Renault Clio die Straße runter, das übliche Ergebnis einer Freitagnacht. Seine kleine Welt.
Er hatte lange gebraucht, um zu erkennen, wie klein diese Welt war.
Als Kind – denn natürlich hatte er schon immer hier gewohnt, quasi von Geburt an, nachdem ihn seine Eltern mit seinen gerade mal zwei Lebenstagen aus dem Hôpital Max Fourestier in ihre winzige Wohnung gebracht hatten –, als Kind jedenfalls hatte er diese Welt für riesig und unüberschaubar gehalten. Die hohen Häuser, die verwinkelten Straßen, der Blick nach drüben, dorthin, wo in der Ferne der hellrote Lichtschein der Hauptstadt zu erkennen war, wie eine Verheißung.
Wie wohl fast jedes Kind liebte er Orte wie den staubigen Bolzplatz die Straße runter, den Treppenaufgang mit den Dutzenden anderen Kindern, die alle irgendwie so aussahen wie er selbst. Und auch damals fand sich nach beinahe jedem Wochenende ein frisch abgefackeltes Autowrack im Viertel. Damals konnten seine Freunde und er das wenigstens noch als rußigen Abenteuerspielplatz gebrauchen.
Vor fünf oder sechs Jahren kam ihm erstmals die Idee, dass hier etwas nicht stimmte. Und vor zwei Jahren wurde diese Idee zur Gewissheit. Dass man ihn hier vergraben hatte. Dass man wollte, dass er hier war. Damit er nirgendwo anders sein konnte. Und dass das – wenn er nicht bald einen radikalen Entschluss fasste – für sein Lebtag so bleiben sollte. Wer war »man«, hatte sich Karim lange gefragt: seine Lehrerin in der école primaire, die nicht mal versucht hatte, ihn und die anderen beurs als ambitionierte Schüler wahrzunehmen? Die flics der CRS, die ihn filzten, wann immer er und sein Roller ihren Weg kreuzten – am liebsten am Boden liegend, die Hände auf dem Rücken, um dann seine Taschen mit harter Hand zu durchsuchen und wieder nichts zu finden als zwei Gramm Gras? Oder war »man« einfach die société fermée, die geschlossene französische Gesellschaft, die für Typen wie ihn schlicht keinen Platz hatte – zumindest keinen Platz an den Futtertrögen?
Eine Zeit lang hatte er versucht, zu akzeptieren, dass es so war. Hatte hier ein bisschen gedealt und dort ein wenig gehehlt, war auch mal mitgefahren zu einem kleinen Bruch im 16. Arrondissement. Aber drei Wochen im Gefängnis von Porcheville hatten ihn gelehrt, dass es nichts brachte, bei den kleinen Fischen mitzuspielen. Denn die kleinen Fische rutschten in Frankreich nicht durchs Netz. Nein, sie wurden als Einzige gefischt und, um im Bild zu bleiben, nie wieder vom Haken gelassen. Im Knast hatten sie ihm von allen Seiten zugesetzt: Die Justizangestellten hassten die beurs, dabei waren sie oft selber welche. Dann gab es selbst im Jugendknast schon Intensivverbrecher, denen man ansah, wie viel Spaß es ihnen bereitete, hier drinnen Angst und Schrecken zu verbreiten. Und es gab die Dschihadisten, die scheinbar freundlich eine Lösung anboten: den Weg zu Allah, dem einzigen Freund, der einem Kid aus der Banlieue blieb. Doch Karim war nicht doof, er wollte nicht gehirngewaschen und mit einer Sprengstoffweste bekleidet irgendwo auf einem Marktplatz enden. Auch keine Alternative.
Das Angebot seines Freundes – war Islah sein Freund? – war ihm wie ein Wunder erschienen. Islah hatte einen Auftraggeber, einen Franzosen. Ein richtig dicker Fisch, der in so vielen Teichen obenauf mitschwamm: Bau, Import, Export, Sicherheit. Und dieser Franzose baute gerade eine Truppe auf. Ein Spezialauftrag. Für einen sehr reichen Mann, ebenfalls Franzose. Eine alte, angesehene Familie, irgendwo am Meer. Karim war noch nie am Meer gewesen. Merkwürdig, wo das Meer gerade einmal zwei Stunden von hier entfernt war.
Er hatte nicht lange gezögert. Hatte Islah zugesagt. Und der hatte ihm aufgetragen, sich bereit zu machen für einen richtigen Job. Keinen Scheiß mehr zu bauen, sich von allen Bullen fernzuhalten, regelmäßig zu trainieren, um seine ohnehin ansehnlichen Muskeln zu vervollkommnen. Und so ging Karim jetzt jeden Tag in das schäbige Fitnessstudio im Zentrum von Nanterre und pumpte, was das Zeug hielt. Nur vom Gras konnte er nicht die Finger lassen, aber irgendwie musste man ja klarkommen.
In zwei Wochen sollte es losgehen. Wie lange hatte er darauf gewartet. Auf diesen Moment. Maman hatte er von alledem noch nichts erzählt. Er wollte einfach abhauen, mit seinem Rucksack voller Klamotten. Um dort unten großen Erfolg zu haben. Und in ein paar Wochen einen Scheck zu schicken, zusammen mit einem Brief, der erklärte, wo er war und was er tat – und mit Zugtickets, die auch seiner Mutter und seinen zwei kleinen Schwestern erlauben würden, das Meer zu besuchen.
Er schmiss den Joint vom Balkon, griff zu seiner kunstledernen Geldbörse und entnahm ihr das zusammengefaltete Billett, das er hütete wie einen Schatz. Er entfaltete es und las, was er ohnehin auswendig konnte:
13 décembre
6:52 Abfahrt am Gare Paris Montparnasse
8:56 Ankunft in Bordeaux Saint Jean, Umstieg
9:58 Ankunft am Bahnhof von Arcachon
Karim faltete das Ticket wieder zusammen. Bald würde sie beginnen, seine Zukunft. Endlich. Finalement.