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Kapitel 6

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Anouk und Luc traten auf die überdachte Terrasse, auf der drei große Heizpilze eine so angenehme Wärme schufen, dass Luc sogar seine dicke Jacke öffnete. Hier draußen standen Dutzende Tische, und sie alle waren mit Menschen besetzt, die vor sich große Teller hatten, auf denen Austern, Crevetten und reichlich Eis lagen.

»Wow, die sind ja ausgebucht«, sagte Anouk. Aber das war noch nicht alles: Bis ins Innere des Ladens reichte die Schlange der Besucher, die darauf warteten, Austern zum Mitnehmen zu erwerben. Die Ersten kamen schon wieder heraus, entweder mit Tüten voller Austern oder großen hölzernen Kisten, in denen gleich mehrere Dutzend Platz hatten.

Hûitres Labadie – c’est délicieux stand auf dem Schild über dem Eingang.

Luc wollte sich eben an den Massen vorbeidrängeln, um hineinzugelangen, als ein junges Mädchen mit einem Tablett auf sie zukam. Sie verteilte Probieraustern an die Wartenden.

»Merci, Mademoiselle«, sagte Luc und nahm sich eine, dazu ein Stück Zitrone und ein kleines Brot, das bereits mit Butter bestrichen war, Anouk tat es ihm nach. »Sagen Sie, wir würden gerne mit Madame oder Monsieur Labadie sprechen.«

»Sie sehen ja, was hier los ist«, antwortete das Mädchen lachend, »alle wollen zu meinen Eltern. François ist irgendwie versackt, deshalb gibt’s alle Hände voll zu tun. Maman ist gerade in die Stadt gefahren, um mehr Baguettes zu kaufen. Und Papa ist in der Produktionshalle. Gedulden Sie sich noch einen Moment, ja? Dann sind Sie dran.«

»Merci, Mademoiselle.«

Dann enteilte sie. François’ Schwester.

»Das wird schlimm«, sagte Luc.

Anouk nickte und sah nachdenklich auf die Auster in ihrer Hand. »Und was machen wir nun hiermit?«

»Na, keine Frage.«

»Ich bin ja nun nicht gerade der größte Austernfan der Welt«, sagte sie und lächelte, »obwohl ich das wohl nicht sagen darf, jetzt, wo ich einen Freund habe, der Sohn eines ostréiculteur ist, was?«

»Dann hast du aber sicher noch nie die Austern direkt hier am Bassin gegessen, oder?«, fragte Luc zurück.

»Nein, eigentlich habe ich die immer nur in Paris probiert.«

»Weißt du«, sagte Luc, »ich hab das als Kind auch furchtbar gefunden, dieses glibbrige Etwas, das nach nichts schmeckt. Und dann, als ich mal eine ganze Nacht auf dem Bassin war und die Heidenarbeit der Züchter mitangesehen habe, da habe ich danach noch mal ganz anders probiert. Sozusagen die Auster als Reliquie. Danach war es um mich geschehen. Echt. Klingt jetzt kitschig, ist aber so. Du musst sie übrigens kauen, nicht nur schlürfen. Dann kriegst du den ganzen Geschmack ab. Na los, probier.« Luc war geradezu aufgeregt.

Er gab etwas Zitrone auf die Auster, strich dann mit der Gabel am Muskelrand entlang und siehe da: Sie bewegte sich. Die lebende Delikatesse. Dann löste er sie, schlürfte sie aus der Schale und biss ganz sanft zu. Das Salzwasser legte sich auf seine Zunge und bereitete sie vor auf das feste Fleisch des Tieres, den Geschmack aus Meer und Tiefe, aus Jod und Salz, Frische und Leichtigkeit. Diese Auster schmeckte unglaublich, sehr herb, sehr fest. Dann biss er von dem dunklen Brot ab, das die Würze neutralisierte.

Endlich löste auch Anouk ihre Auster und schlürfte sie. Sie verzog das Gesicht, aber nur kurz, dann entspannten sich ihre Züge, und sie lächelte. »Hm, lecker«, sagte sie, »ja, das ist wirklich etwas ganz anderes als in Paris.«

»Sie haben die Austern eben nicht einmal quer durch die Republik gekarrt. Sie sind gestern genau hier aus dem Bassin gezogen worden. Das ist wirklich allererste Güte.«

»Ich würde gerne den ganzen Tag mit dir Austern essen. Aber ich glaube, wir müssen, hm?«

Luc nickte und wies hinüber zu der Cabane, die neben der Terrasse stand und aus der Motorengeräusche drangen. Anouk ging voraus und trat durch das halbgeöffnete Holztor in die Halle, die im Dämmerlicht lag. Es war sehr laut hier drinnen. Mit dem Geräusch von spritzendem Wasser schlug Luc der Geruch seiner Kindheit entgegen. Für einen Moment schloss er die Augen und sog ihn tief ein.

Dann betrachtete er Monsieur Labadie bei seiner Arbeit. Er hätte all die Arbeitsschritte benennen können, selbst wenn ihn jemand nachts um drei geweckt hätte. Eben war der Austernzüchter dabei, die Austern noch in den poches abzuspritzen, damit Algen und andere Muscheln weggewaschen wurden – die immerhin drei Jahre Zeit gehabt hatten, sich an den Säcken und den Meeresfrüchten festzusetzen.

Monsieur Labadie sah auf und drehte das Wasser ab, dann hob er abwehrend die Hand. »Würden Sie bitte wieder hinausgehen? Sie dürfen nicht hier drinnen sein, verzeihen Sie. Hygienegründe. Gehen Sie bitte wieder zur Verkostung.«

Er wandte sich um und hob einen der schweren Säcke an, um ihn gleich darauf in einen der riesigen Wassertanks zu legen. Darin mussten die Austern nun einen Tag baden, in Salzwasser, das mit UV-Strahlen gefiltert wurde, um die Bakterien des Bassins abzutöten und die Muscheln genießbar zu machen. Luc kannte einige Fälle schwerster Vergiftungen, bei denen Spaziergänger wilde Austern vom Strand gegessen hatten.

Anouk trat näher an den Züchter heran, sodass der seine Arbeit unterbrach.

»Bitte, haben Sie nicht verstand…«

»Monsieur Labadie, wir sind von der Police Nationale in Bordeaux. Mein Name ist Anouk Filipetti und das ist Commissaire Luc Verlain.«

Der Mann stutzte. »Verlain? Etwa Luc, Alains Sohn?« Sein Gesicht hellte sich auf. »Mein Gott, Monsieur Verlain, wie geht es Ihrem Vater?«

Luc senkte den Blick. »Merci der Nachfrage, Monsieur Labadie, gerade heute geht es ihm ganz gut. Aber wir sind hergekommen, weil wir …«

Das Holztor flog auf, und herein kam eine hübsche Frau Anfang fünfzig, die im Arm eine riesige Tüte hielt, aus der über ein Dutzend mehlbestäubte Baguettes ragten.

»Arnaud, ich bin wieder hier«, rief sie, und ihr breites Lachen zeigte ihre Lebensfreude. Luc wurde es ganz bang ums Herz. Sie blieb stehen und blickte die beiden Beamten fragend an.

»Chérie, das sind zwei Polizisten«, erklärte Monsieur Labadie, und seine freundliche Stimme verriet, dass er nichts ahnte.

»Wir sind hergekommen«, wiederholte Luc, und automatisch spürte er, wie er leiser wurde, wie die Last der Nachricht seine Stimmbänder niederdrückte, »um Ihnen zu sagen, dass wir Ihren Sohn … dass wir François aufgefunden haben. Es tut mir sehr leid – Ihr Sohn ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.«

Die längsten Sekunden im Leben eines Polizeibeamten.

Madame Labadie prüfte sein Gesicht, suchte nach Spuren des Irrtums, nach einem Lächeln, nach einem Grinsen, einer Spur von Ironie – und als sie nichts davon fand, stand sie da, bereit zum Sprung, wie eine Löwenmutter und dann, nur eine Sekunde später, zerbrach die ganze Freundlichkeit, die ganze Lebensfreude. Die Tüte mit den Baguettes fiel zu Boden, und Madame Labadie sank hinterher, sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut und heftig, und ihr Mann rannte zu ihr und kniete sich hin, richtete sie wieder auf und drückte sie eng an sich.

»François«, rief sie, »François«, und Monsieur Labadie blieb still und drückte sie immer wieder fest an sich, in Intervallen, flüsterte ihr beruhigend zu: »Chérie, calme-toi, chérie …«

Irgendwann verstummte sie für einen Moment, sah von unten tränenüberströmt hinauf zu Anouk und Luc, die nähergetreten waren.

»Wie … wie ist es passiert? Sind Sie sich …«

Sie beendete die Frage nicht. Sie hatte Lucs Sätzen angehört, dass es keinen Zweifel gab.

Monsieur Labadie half seiner Frau auf, die sich gegen das Sortierband stützte. Noch immer war es in der Cabane ohrenbetäubend laut, und endlich legte der Austernzüchter den Schalter des Beckens um, sodass sofortige Stille eintrat.

Luc kam seine eigene Stimme sehr hohl vor, als er sagte: »Wir haben François draußen im Austernpark gefunden. Er hatte eine große Wunde am Kopf. Wir nehmen an, dass er überfallen wurde.«

Diesmal war es Monsieur Labadie, der ungläubig nachfragte. »Draußen? Auf der Austernbank? Wer sollte denn dort François überfallen?«

Anouk sprach sanft und leise. »Ihr Sohn war nicht allein draußen. Vincent Pujol war bei ihm. Er ist auch ums Leben gekommen.«

Die beiden Eheleute sahen sich an, Madame Labadie stand der Mund offen.

»Vincent auch? Aber wie …«

»Die Untersuchungen stehen noch aus«, sagte Luc, »wir kennen die endgültige Todesursache noch nicht. Wir geben Ihnen natürlich sofort Bescheid, wenn wir mehr wissen.«

»Wer … wer hat das getan?«, fragte sie und begann wieder zu schluchzen.

Luc schüttelte den Kopf.

»Es tut mir sehr leid, Madame Labadie, aber wir wissen ehrlich gesagt noch gar nichts. Wir haben Ihren Sohn gerade erst gefunden. Ihre Tochter sagte, er sei nicht nach Hause gekommen …«

»Sie haben Julie schon davon erzählt?«, fragte sie und wollte hinausstürmen.

»Nein, Madame, keine Sorge, wir haben nur nach Ihnen gefragt, und Ihre Tochter hat uns gesagt, dass Sie in der Stadt waren – und dass François derzeit nicht im Betrieb ist.«

»Ja, François war heute Morgen nicht da. Wir haben uns nichts dabei gedacht. Eigentlich.«

»Wieso eigentlich?«

»Er geht nachts eigentlich nur dann zum Party machen nach Bordeaux, wenn nicht viel zu tun ist. Im Herbst. Aber jetzt, im Winter, ist Hauptsaison. Da hilft er uns in der Regel jeden Tag.« Sie biss sich auf die Lippe. »Er half uns …«

Monsieur Labadie legte wieder den Arm um die Schultern seiner Frau und zog sie zu sich heran.

»Was kann er nachts um drei oder vier gewollt haben, draußen auf dem Bassin? Gibt es dort etwas zu tun?«

Der Austernzüchter lachte bitter.

»Und das fragen Sie, Commissaire? Alain Verlains Sohn? Ja, ganz recht, chérie, das ist der Sohn vom alten Alain aus dem Port de Larros. Sie wissen es doch ganz genau. Hier ist immer etwas zu tun. Die Jungs arbeiten oft zusammen, manchmal brauchen wir Hilfe, dann hilft uns Vincent. Und manchmal brauchen die Pujols Hilfe, dann hilft François. Wo war es, sagen Sie? Wo war es genau?«

»Auf dem Weg zur Banc d’Arguin, im großen Austernpark an der Mündung.«

»Dort haben wir beide einen Park, Monsieur Pujol und auch wir«, sagte Monsieur Labadie schnell.

Luc nickte.

»Gut, Monsieur. Wir werden jetzt Familie Pujol informieren, und dann werden wir Sie noch einmal aufsuchen müssen. Wohnen Sie hier?«

»Nein, wir haben ein kleines Haus in Pyla. Dort wohnen wir alle.«

»Gut. Wir werden uns dort François’ Zimmer ansehen müssen. Obwohl ich denke, dass die Ursache für den Überfall draußen auf dem Wasser zu suchen …«

Das Tor flog ein weiteres Mal auf, und – genau wie ihre Mutter vor zehn Minuten – diesmal sprang Julie hinein, den Kopf hochrot vor Erregung und Anstrengung.

»Maman, Papa, draußen ist die Hölle los, wir brauchen Brot, ich brauche Hilfe, die Gäste rennen uns die Bude ein.«

Madame Labadie sah ihre Tochter mit bleichem Gesicht an.

»Maman, was ist denn? Du …« Sie sprach nicht weiter. Es war ihr anzusehen, dass sie bereits das Schlimmste ahnte.

»François ist tot. Er wurde ermordet«, sagte Madame Labadie leise.

Julie stand nur da. Einen langen Moment sah sie ihre Mutter an, dann machte sie kehrt und rannte aus der Cabane, warf die Tür zu, und Madame Labadie fing wieder an zu schluchzen.

Winteraustern

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