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Le samedi 19 décembre – Samstag, der 19. Dezember Kaltes Erwachen Kapitel 1

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»Ist dir etwa kalt, Junge?«

Alain Verlains Stimme hatte diesen unverwechselbaren Klang, vordergründig war da nur Ironie, aber bei genauerem Hinhören schwang doch etwas Sorge mit – Luc kannte diesen Ton seit Kindertagen.

Sein alter Herr hatte natürlich beobachtet, wie er die Jacke ganz eng zugeschnürt und den dicken Schal noch mal neu gebunden hatte, als hätte er auch nur irgendeine Chance gegen die beißende Kälte, die über das Bassin wehte, gerade als das Boot den Hafen von Arcachon verließ. Vor einer halben Stunde, als Luc seinen Jaguar XJ6 unten auf dem großen Parkplatz abgestellt hatte, war es noch gänzlich dunkel gewesen. Nun aber machte sich hinten am Horizont, dort, wo das Bassin sich zum Ozean hin öffnete, eine Ahnung von Licht bemerkbar. In anderthalb, vielleicht zwei Stunden würde der Wintertag beginnen, und er sollte sonnig werden. Der klare Himmel machte die Luft noch beißender. Schneeluft. Eigentlich unmöglich, dachte Luc, so weit im Süden.

»Alles bestens. Wollte nur Weihnachten nicht mit einer fetten Erkältung im Bett liegen«, gab er zurück und sah, wie sein Vater scherzhaft mit den Augen rollte. Alain griff in seine Jackentasche und entnahm ihr das flache silberne Metallgefäß, das Luc so gut kannte.

»Was ist drin?«

»Calva…«

Bevor sein Vater das Wort beenden konnte, schraubte Luc schon die Flasche auf. Er nahm einen großen Schluck und spürte das brennende Gefühl, das der Apfelschnaps auf seiner Zunge hinterließ und das sich rasch im ganzen Körper ausbreitete. Feuer schlug Kälte. So ging das.

Der Calvados aus der Normandie war über zwanzig Jahre alt, sein Vater bekam ihn regelmäßig von einer alten Apfelbäuerin zugesandt, mit der er sich vor Jahrzehnten angefreundet hatte. Der Schnaps war ein Gedicht. Doch auch ohne ihn hätte Alain Verlain nicht gefroren. Niemals. Dafür war er zu oft hier draußen gewesen. Bei Nacht und Nebel. Sommers wie vor allem winters. Wenn hier draußen Hauptsaison war.

Wann immer Luc im frühesten Morgengrauen mit rausgefahren war – und er hatte das so oft wie möglich getan –, hatte er sich zusammenreißen müssen, um sich die Müdigkeit und das Frösteln nicht anmerken zu lassen. Selbst die drei Paar Socken, die er sich heimlich übereinander angezogen hatte, hatten nie geholfen. Bis Alain ihm dann im Alter von vierzehn Jahren zum ersten Mal den Flachmann weitergereicht und ihm die Jacke geschenkt hatte, die schon Lucs Großvater getragen hatte und die aus irgendeinem besonderen Material war, das unermüdlich Wind und Kälte abwies. Danach hatte er immer darauf hingefiebert, endlich wieder mit hinausfahren zu dürfen. Mithelfen, den Lebensunterhalt der Familie einzuholen.

Heute Morgen war es Alain gewesen, der der Abfahrt entgegengefiebert hatte. Schon ganz früh, zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit, hatte sein Vater draußen vor der Holzhütte gesessen und geraucht, neben sich eine Tasse seines unnachahmlich starken Kaffees. So hatte er minutenlang in die Dunkelheit geschaut. Luc hatte ihn durchs Fenster beobachtet und vor Rührung lächeln müssen.

Es war sein Versprechen an seinen Vater gewesen. Noch einmal gemeinsam hinauszufahren auf das Bassin und dort den Sonnenaufgang mitzuerleben. Im Winter, in der Vorweihnachtszeit, der Zeit, die Alain immer die liebste war. Keine Touristen, viel Arbeit. Das Bassin ganz leer, keine Segler, keine Motorboote, nur die Austernzüchter bei der Arbeit. Das hatte Alain noch einmal sehen wollen. Und derzeit ging es ihm so gut, dass es möglich war.

Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte gaben ihm noch ein halbes Jahr. Vielleicht neun Monate. Zuletzt war er zu einer zweimonatigen Kur gewesen, bis spät in den Oktober, oben in La Baule. Und nun standen sie hier draußen auf der Barkasse, die immer weiter hinaussteuerte auf das Bassin.

Alain klopfte von außen an die Kabine und zeigte fragend auf seinen Flachmann. Die anklappbare Scheibe wurde geöffnet, und ein heiteres Lachen erklang.

»Merci, Monsieur Verlain, aber das ist mir definitiv zu früh. Wenn Sie mögen, hier gibt es Kaffee.«

»Merci, Lieutenante«, sagte Alain, »wir kommen gleich hinein.« Dann wandte er sich wieder der Backbordseite zu, sein Fernglas fest in den Händen.

Luc war Lieutenante Giroudin unendlich dankbar. Es war beileibe keine Selbstverständlichkeit, dass die Gendarmerie den Kollegen von der Police Nationale einen Gefallen tat. Sie aber hatte sofort zugesagt, Alain und ihn mit hinauszunehmen, extra noch mal in den Hafen zu fahren, morgens um halb fünf, um sie an Bord zu nehmen, für die letzten drei Stunden ihrer Schicht. Klar, Alain, sein Vater, war hier draußen eine Legende. Sie waren eine der alteingesessenen Familien in der Austernzucht gewesen. Wobei die Firma nur noch aus Alain bestanden hatte, bis er sie vor vier Jahren an Bertrand Chevalier verkauft hatte.

Die Menschen hier entlang des Bassins kannten Alain Verlain. Sie mochten ihn. Luc liebte ihn. Er zog sich die Handschuhe aus, zündete sich eine Zigarette an und rieb sich die kalten Hände, während er den Rauch ausblies. Noch gab es nur die Fahrrinnen, durch die Lieutenante Giroudin ihr Boot steuern musste, aber die Flut begann langsam, das Wasser drückte zurück in das Bassin, flutete den Sand.

Die Patrouille der Gendarmerie war nur dann unterwegs, wenn Ebbe war – denn dann lagen die Austern in ihren poches, den schwarzen Säcken, frei zugänglich im Schlick. In zwei, drei Stunden aber würden sie vom Hochwasser bedeckt sein, was einen Diebstahl unmöglich machte, denn dafür hätte es schon einen Kran gebraucht, und der erregte in den Austernbänken zu viel Aufsehen.

Lieutenante Giroudin rief aus der Kabine: »Wir nehmen Kurs hinüber nach Andernos, wenn Ihnen das recht ist, Commissaire.«

Luc nickte. Sie steuerten nordwärts, dorthin, wo sich viele Austernbänke befanden. Die Plätze, wo die Austern wuchsen, waren auf die ganze Fläche des Bassins verteilt, überall dort, wo es viele und hohe Sandbänke gab, damit die Züchter bei Ebbe ungestört und trockenen Fußes an ihren Austern arbeiten konnten.

Luc gesellte sich wieder zu seinem Vater, der ganz vorne an der Spitze des Bootes stand und den Ausblick genoss. »Und, Papa?«

»Wunderschön«, sagte er und nahm ein Taschentuch, um sich zu schnäuzen. Der Commissaire legte einen Arm um die schmalen Schultern seines Vaters und hielt ihn. So standen sie da, minutenlang, während das Boot durch das tiefer werdende Wasser pflügte und am Horizont die ersten Sonnenstrahlen zu sehen waren.

»Es ist doch unglaublich, dass hier unter und neben uns all diese Schätze lagern, oder?«, fragte Alain. »Und wir sind nicht die Einzigen, die danach greifen wollen …«

Er machte sein verschwörerisches Gesicht, und Luc wusste, dass er nun ganz still sein musste, denn gleich würde sein Vater zum Austernzüchterlatein greifen und die spannendsten Geschichten aus der Zucht erzählen: von den Seesternen, die mit ihren Armen die Austern aufknacken und sie aussaugen, von den Schnecken, die Austernbohrer heißen – und von den Dieben, die es auf dem Bassin gab und die der Grund waren, warum sie hier heute Streife fuhren. Doch bevor Alain ansetzen konnte, hörte Luc instinktiv das piepende Funkgerät. Er wandte sich um, doch das Fenster zur Kabine war geschlossen, so sah er nur, wie sich Giroudins Mund bewegte.

Plötzlich legte sich das Boot auf die Seite, und Alain schaffte es gerade noch geistesgegenwärtig, Luc mit einem beherzten Griff festzuhalten, sonst wäre der Commissaire über Bord gegangen. Giroudin wendete und beschleunigte, die Bugwelle schlug nun hoch auf, und Luc und sein Vater stolperten in die Kabine.

»Was ist denn los?«, fragte Luc.

»Vielleicht ist es Schicksal, dass Sie hier sind. Es gibt einen Einsatz.«

»Wohin fahren wir?«

»Moment …«, sie griff nach dem Funkgerät und gab ihre Position durch, dann sagte sie: »Wir brauchen acht, neun Minuten bis da draußen. Melde mich dann. Wir haben einen Commissaire der Police Nationale an Bord, ihr braucht also niemanden zu schicken.«

»Wieso ist denn ein Commissaire an Bord?«, fragte die männliche Stimme, die durch das Funkgerät merkwürdig verzerrt war.

»Zufall. Erzähl ich dir später.«

Sie hängte ein, dann sah sie Luc ernst an.

»Ein Austernzüchter. Er hat einen Notruf abgesetzt. Er wurde überfallen. Liegt auf der Banc d’Arguin.«

»Überfallen? Im Wasser?«

»Ich habe nur diese Information. Er war offensichtlich verwirrt, als er die Kollegen an Land anrief.«

Sie blickte wieder hinaus, konzentrierte sich auf die schmale Fahrrinne, die gleich breiter werden würde, je näher sie der Ausfahrt aus dem Bassin kamen, wo es hinausging auf den offenen Atlantik.

Luc betrachtete seinen Vater, der nun ganz verändert aus dem Fenster sah, ernsthaft, professionell. In Alains Miene erkannte Luc sich selbst wieder.

»Haben Sie einen Namen?«, fragte sein Vater die Lieutenante.

»Nein, leider nicht. Er hat nur seine Position durchgegeben und gerufen: ›Überfall, Überfall!‹ Dann hat er aufgelegt.«

Sie drückte den Gashebel nun ganz durch, das Boot machte einen Satz nach vorn.

Zur Rechten kam weiß mit roter Spitze der Leuchtturm des Cap Ferret in Sicht, dessen Lichtkegel immer noch nervös durch die Bucht glitt. Und dann, als sie an der Spitze des Caps vorbeifuhren, schlugen auf einmal die Wellen von rechts ans Boot, der weite, endlose Atlantik lag offen vor ihnen, und zu ihrer Linken erhob sich gleichermaßen unendlich die Düne von Pilat, dieser weiße Berg aus Sand, auf dem Luc seinen ersten Fall in der Aquitaine aufgeklärt hatte.

110 Meter hoch und mehrere Kilometer lang, ein Monument aus Sand, vom Wind umtost, auch heute Morgen. Fast meinte Luc zu spüren, wie ihm die Körnchen ins Gesicht wehten.

Sie waren der Düne so nah, ein herrlicher Anblick, doch er gab sich einen Ruck und konzentrierte sich wieder auf die Banc d’Arguin, eine Sandbank, die nur bei Ebbe sichtbar war und die genau zwischen der Düne und dem offenen Meer lag. Hier draußen war ein Vogelschutzgebiet, normale Boote durften nicht ankern. Doch die Austernzüchter hatten auf der Banc einige Parks angelegt, auch sein Vater hatte einen Teil seiner Austernzucht hier draußen auf dem offenen Meer gehabt. Luc hatte es geliebt, die Brandseeschwalben zu beobachten, die hier ihren Winter verbrachten, oder im Herbst die Zugvögel anzuschauen, die auf der Sandbank Rast machten auf ihrer langen Reise in den Süden. Nur ein einziges Boot lag ein Stück von der Sandbank entfernt im tieferen Wasser. Ein Austernboot, kein Zweifel. Der schmale Aufbau mit der Kabine, der lange Rumpf, auf dem normalerweise die Austernsäcke lagerten, der dünne Boden mit minimalem Tiefgang, damit die Züchter auch bei Niedrigwasser vorwärtskamen.

Lieutenante Giroudin steuerte so dicht wie möglich am Boot vorbei.

»Niemand zu sehen«, sagte Luc.

Alain blickte durchs Fernglas, bewegte es suchend hin und her. Dann rief er: »Dort, dort auf der Bank, da sitzt einer.«

Die Gendarmin ließ sich das Fernglas geben, sah ebenfalls zu der Stelle und nickte. »Wir legen an«, rief sie nach hinten, und sogleich machte sich Oberbootsmann Diallo am Anker zu schaffen.

Giroudin wendete und fuhr das Boot rückwärts an die Bank, gerade so weit, dass sie noch etwas Wasser unterm Kiel hatten und dennoch trockenen Fußes auf die Bank kämen.

»Bootsmann Arnoult, Sie bleiben an Bord. Wenn das Wasser weiter aufläuft, halten Sie das Boot nahe an der Sandbank. Ich möchte hier keine nassen Füße kriegen, falls wir länger brauchen und die Springflut uns erwischt.«

»Jawohl, Lieutenante«, sagte er.

»Kommen Sie«, sagte sie, dann trat sie aus der Kabine, um mit ihren schweren schwarzen Stiefeln über die Reling in den noch nassen Sand zu springen.

Luc sprang hinter ihr her und half seinem Vater über die Kante, dann hob er ihn auf den Sand. Er war für einen Moment bestürzt darüber, wie leicht sein Vater geworden war. Früher war er ein Bär von einem Mann gewesen. Heute war er ein Leichtgewicht.

Oberbootsmann Diallo folgte ihnen. Sie gingen schnellen Schrittes Richtung Süden, dorthin, wo sie durch das Fernglas einen Mann gesehen hatten. Von hier aus und ohne Fernglas war er nur ein kleiner schwarzer Punkt, dem sie sich aber rasch näherten.

Luc schlug sich den Schal enger um den Hals. Verdammt, es war wirklich wahnsinnig kalt. Er hielt sich dicht neben Alain. Der Weg war anstrengend, der Sand unter den Füßen weich, und er wollte nicht, dass es zu viel wurde für seinen Vater. Aber der hielt sich erstaunlich gut, kein schweres Atmen, kein Zeichen von Schwäche.

Drei Minuten später standen sie vor dem Mann, der am Boden saß, regelrecht kauerte und so stark zitterte, dass Luc sofort wusste, dass er einen Schock hatte. Er trug nur eine Latzhose und einen dünnen Pullover. Die Lieutenante holte aus ihrer Tasche eine Rettungsdecke, kniete sich neben den Mann und legte sie ihm um.

»Monsieur, wir sind da, die Gendarmerie von Arcachon. Sie haben uns angeruf…«

»Pierre«, unterbrach Alain sie, trat auf den Mann zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der Mann betrachtete Lucs Vater, als sehe er einen Geist. Er war in den Fünfzigern, trug eine dicke Mütze, die Wangen waren rot, fast lila vor Kälte, er war schlank, beinahe dünn und trug einen graumelierten Oberlippenbart.

»Alain«, stöhnte er, »was machst du denn hier?«

»Zufall«, antwortete Alain, »purer Zufall. Aber Pierre …«

Als er merkte, wie Lieutenante Giroudin zwischen den beiden hin und her sah, sagte Alain erklärend: »Das ist Pierre Lascasse, Austernzüchter aus La-Teste-de-Buch, ein kleiner Betrieb mit vier Angestellten und Hausverkostung.« Und dann an Pierre gewandt: »Du hast die Gendarmerie gerufen, Pierre, erinnerst du dich? Aber Himmel, was ist denn passiert, du erfrierst ja hier draußen, komm, ich helf dir hoch.«

Bevor Luc es verhindern konnte, zog der dünne Alain Verlain den viel größeren Pierre Lascasse auf die Beine und legte ihm die Rettungsdecke enger um den Körper, weil er noch immer zitterte.

»Monsieur Lascasse«, stellte sich nun Luc vor, »ich bin Commissaire Luc Verlain von der Police Nationale in Bordeaux. Alain ist mein Vater. Wir waren zufällig auf dem Boot. Wollen Sie uns bitte sagen, was geschehen ist?«

Der Mann blickte beunruhigt zwischen ihnen hin und her, als überlege er, was er sagen könne, doch dann griff er sich an den Kopf und schob das wenige verbliebene Haar ein Stück zur Seite. Das Blut war bereits geronnen.

»Sie haben mich … sie sind …«, er stotterte, wirkte schwer verwirrt.

»Bitte, beruhige dich«, sagte Alain, »erzähl ganz langsam, Pierre.«

Der Mann nickte.

»Sie haben mich auf dem Boot überrascht. Von hinten, ein Schlag, mehr weiß ich nicht. Und dann habe ich mich hier am Strand wiedergefunden. Ich hatte solche Angst, weil die Flut kam. Ich bin nicht mehr zu meinem Boot gekommen.« Er zeigte zu seinem Austernboot, das nun schon weit entfernt vom Land im Wasser lag, die Flut drückte bereits mit Macht.

»Die wollten Sie ersaufen lassen?«, fragte Lieutenante Giroudin und sah Luc vielsagend an.

»Wer war es? Und wie viele?«, fragte Luc.

»Ich weiß nicht, es war ein sehr fester Schlag, ich kann es nicht sagen, ich habe vielleicht zwei oder drei Stimmen vernommen, aber …«

»Was haben die Männer gesagt?«

»Ich erinnere mich nicht«, antwortete Lascasse und begann zu schluchzen. »Herrgott, ich erinnere mich nicht. Ich will hier weg, weg von dieser Sandbank, bitte, ich will nicht ertrinken.« Er schrie nun beinahe.

»Kommen Sie«, sagte Luc und ergriff seinen Arm, zog Lascasse mit sich in Richtung Boot, »wir bringen Sie in Sicherheit. Ein Arzt muss sich die Wunde ansehen. Wir bringen Sie in den Hafen, dort wird ein Krankenwagen warten.«

Er ging ein paar Schritte, dann fragte er mit schärferer Stimme: »Monsieur Lascasse, warum waren Sie zu dieser frühen Stunde schon draußen? Das ist reichlich ungewöhnlich.«

Der Austernzüchter antwortete nicht. Er schien in Gedanken versunken.

»Monsieur. Sie sollten mir antworten.«

»Was?«, fuhr Lascasse auf.

»Warum Sie zu dieser frühen Stunde draußen waren, habe ich gefragt.«

»Ach so«, sagte Lascasse, »die Austern in unserem Außer-Haus-Verkauf waren fast alle, und es waren gute Tage im Verkauf. Ich wollte Nachschub holen, solange Ebbe ist, wir hätten nicht bis heute Nachmittag warten können.«

Luc nickte. Eine verständliche Erklärung.

»Und Sie haben wirklich nicht gemerkt, wie Männer auf Ihr Boot kamen? Sie hätten doch den Motor eines anderen Bootes gehört …«

»Mein Motor lief«, antwortete Lascasse, »und ich habe an den poches gearbeitet, den Kopf nach unten. Ich habe wirklich nichts bemerkt.«

Der Mann sprach, als habe er seinen Text auswendig ge lernt.

»Gut, wir sprechen später, wenn sich ein Arzt Ihre Wunde angesehen hat«, sagte Luc.

Bootsmann Arnoult wartete an Deck des Gendarmeriebootes und reichte Pierre Lascasse die Hand, um ihn heraufzuziehen. Luc folgte und half Lieutenante Giroudin und Alain an Deck. Dann gingen sie gemeinsam in die enge Kabine, wo sich Pierre direkt vor den kleinen Heizlüfter stellte, der unentwegt warme Luft herausblies.

Alain zog seine metallene Flasche aus der Tasche und reichte sie Pierre: »Hier, nimm, das wird dich zusätzlich aufwärmen«, sagte er. Pierre nahm mehrere große Schlucke, und langsam bekam seine Haut wieder eine natürliche Farbe.

Luc rieb sich die Hände und sah durchs Fenster auf das Wasser, das nun schon die halbe Sandbank hatte verschwinden lassen. Das war knapp. Wären sie eine halbe Stunde später hier gewesen, hätte die Flut Pierre Lascasse vermutlich schon erreicht.

Er überlegte, Anouk anzurufen, doch ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass das keine gute Idee war. Fünf Uhr dreißig. Zudem war das kein Fall für die Police Nationale, dachte er. Ein Streit unter Züchtern – höchstwahrscheinlich. Obwohl: Sie hatten den Mann auf der Sandbank zurückgelassen. Ohne Boot. Das war kein kleiner Streit. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht.

Winteraustern

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